Eine Ministerpräsidenten-Wahl ist eigentlich eine unspannende Formalie. Wer Regierungschef wird, ist meistens schon am Wahlabend, spätestens nach erfolgreichen Koalitionsverhandlungen klar. Doch die Thüringer Ministerpräsidenten-Wahl und das, was in den Tagen darauf folgte, wird das politische Deutschland nachhaltig prägen.
Der Spitzenkandidat der kleinsten Partei im Landtag lässt sich zum Ministerpräsidenten wählen, mit Stimmen von CDU und AfD. Thomas Kemmerich (FDP) nahm die Wahl an, bereitete sich schon auf erste Termine als Regierungschef vor. Anstatt sich sofort klar gegen die Wahl mithilfe der AfD zu positionieren, legt FDP-Chef Christian Lindner in seiner ersten Stellungnahme den Schwerpunkt darauf, CDU, Grüne und SPD zu einer Zusammenarbeit mit Kemmerich aufzufordern. Die Thüringer CDU zeigt sich mit dem Ergebnis zufrieden.
Was folgt, ist blankes Entsetzen bei allen, die mit diesem Wahlergebnis nichts zu tun hatten. Politiker aller Parteien fordern sofortige Konsequenzen. Der Großteil der Bevölkerung im Land schlägt die Hände über dem Kopf zusammen. Tausende gehen noch am selben Tag auf die Straße, demonstrieren gegen das gebrochene AfD-Tabu. Der Aufschrei ist riesig.
Man fragt sich unweigerlich: Wie um alles in der Welt konnten die handelnden Akteure denken, dass ihr Handeln in Ordnung wäre? Dass sich kein riesiger Protest regen würde? Dass diese Lösung Bestand haben würde?
Ähnliche Fragen stellte sich die Bevölkerung damals, als der damalige Verfassungsschutzchef Hans-Georg Maaßen nach seinen umstrittenen Aussagen als Lösung des Problems befördert werden sollte, zum Staatssekretär. Wie im Fall Kemmerich wurde auch diese Politiker-Entscheidung nach einem großen Aufschrei revidiert.
Politiker seien eben machtgeil, unanständig, abgehoben und bereit, über Leichen zu gehen: Solche Urteile sind in sozialen Netzwerken und an Stammtischen schnell gefällt.
Doch so einfach ist es, natürlich, nicht.
Das sagt Roman Trötschel, Professor für Sozial- und Organisationspsychologie an der Leuphana Universität Lüneburg, zu watson. Wenn uns jemand im Bus auf die Füße steigt, denken wir: was für eine unfreundliche Person. Wir blenden aus, dass die Person das vielleicht gar nicht mitbekommen hat oder dass sie sich in der Kurve vielleicht gerade nicht festhalten konnte.
"Der Mensch ist bei seinen Entscheidungen stark durch die situativen Rahmenbedingungen beeinflusst und durch das Umfeld, in dem er sich bewegt", sagt Trötschel.
Wie kann es also passieren, dass Politiker wie in Thüringen offenbar denken, sie haben eine gute Lösung gefunden – und sie damit fundamental an dem vorbeischrammen, was die Leute da draußen denken? Der Sozialpsychologe nennt mehrere Aspekte, die als Erklärungsversuch dienen.
"Von außen betrachtet erscheint es total logisch, dass Kemmerich und die anderen Verantwortlichen den riesigen Aufschrei aus der Bevölkerung erwarten hätten müssen", sagt Trötschel. Aber: Jeder Mensch lebt in seiner eigenen Blase. Zusammen mit Menschen, die häufig dieselbe Sichtweise teilen. Wir in Deutschland haben uns deswegen vor Jahren auch nie im Leben vorstellen können, dass die US-Amerikaner Trump wählen oder dass die Briten für den Ausstieg aus der EU stimmen würden.
Auch Politiker seien maßgeblich von ihrer Blase beeinflusst, so Trötschel. "Wenn ein Politiker sein unmittelbares Umfeld fragt: 'Was haltet ihr davon, wenn ich mich als Ministerpräsidentenkandidat der Mitte aufstellen lassen gegen AfD und Linke?', dann wird er von Menschen umgeben sein, die genau das gut finden, und sagen: 'Mach das!'"
Spannend dabei: In der FDP-Blase wird Kemmerichs Entscheidung überhaupt nicht so kritisch gesehen. In einer Umfrage von Infratest Dimap nach dem Thüringen-Fiasko sprachen sich nur 25 Prozent der FDP-Anhänger dafür aus, eine Zusammenarbeit mit der AfD auszuschließen. Bei allen anderen Parteien lag der Wert zwischen 58 (CDU) und 82 Prozent (Linke). Kemmerich, der vor allem von FDP-Anhängern und -Entscheidungsträgern umgeben ist, kann sich also durchaus auf der richtigen Seite gewähnt haben.
An dieser Stelle kommen Gruppenprozesse ins Spiel. In der Sozialpsychologie ist die Rede vom "Groupthink"-Phänomen. "Gerade in Situationen, in denen ein Entscheidungsträger unter Druck ist, baut er sich ein schützendes Netzwerk um sich auf aus sogenannten 'Mindguards'", erklärt Trötschel.
Das sind Menschen, die die Gedankenwelt des Entscheidungsträgers schützen, dasselbe Weltbild haben und ihn darin bekräftigen, dass er auf dem richtigen Pfad ist. "Dadurch kann der Entscheidungsträger eine Perspektive der Unverwundbarkeit entwickeln und sich in seinem Tun bestätigt fühlen."
Gruppen bauen so einen Schutzwall um ihren Entscheidungsträger auf, womöglich ohne, dass der das überhaupt merkt. "Gruppenmitglieder wollen den Entscheidungsträger davor schützen, dass jemand von außen mit einer ganz anderen Meinung ihn plötzlich verunsichert oder zum Zögern bringt", sagt der Sozialpsychologe.
In der Politik kommt dazu, dass der Entscheidungsträger oft sehr einflussreich ist und dass sich die Gruppenmitglieder ihm, ob bewusst oder unbewusst, andienen wollen, indem sie als Schützer und gutes Mitglied der Gruppe in Erscheinung treten. Dadurch könnte die eigene Karriere später einmal profitieren.
"Immer, wenn es um Werte geht, dann haben Menschen die Sichtweise, dass sie persönlich moralisch auf der richtigen Seite sind, und dass andere Menschen, die einigermaßen normal sind, das genauso sehen werden", sagt Trötschel.
Der Sozialpsychologe hat die Interviews verfolgt, die die Politiker im Fall Thüringen mittlerweile gegeben haben. "Da heißt es dann sinngemäß: 'Ich habe ja nicht nach Macht gestrebt, sondern wollte Verantwortung für das Land aus der Mitte der Gesellschaft heraus übernehmen.'"
Was könnte da moralisch schon dagegen sprechen? Möglicherweise hielt Kemmerich es nicht für verwerflich, die AfD bei seiner Wahl als Steigbügelhalter zu nutzen, weil er sich dachte, er könnte sich danach von der Abhängigkeit lösen, glaubt Trötschel:
"Wenn wir uns ein Ziel setzen, geraten wir in einen Tunnelblick", sagt Trötschel.
Ein Beispiel: Wenn ein Schüler nach dem Abitur noch nicht weiß, ob er Psychologie oder Journalismus studieren soll, ist er unvoreingenommen. Er bewertet die Infos, die er über die Studiengänge bekommt, neutral und wägt Pro und Kontra ab. Wenn er einmal beschlossen hat, dass er Psychologie studieren will, wird er alle Argumente für das Journalismus-Studium abwerten und alle für Psychologie aufwerten.
"Man ist dann total fokussiert darauf, bekommt einen Tunnelblick und möchte dieses Ziel auch erreichen", erklärt der Sozialpsychologe.
Die Blase und das Umfeld, in dem man sich befindet, tun dann ihr Übriges.
"In jedem Berufszweig gibt es Symbole, die für Erfolg stehen", sagt Trötschel. In der Forschung sind das Professorentitel und internationale Preise. In der Wirtschaft eher monetäre Dinge. "In der Politik ist dieses Erfolgssymbol eine Position, welche nach außen hin Macht signalisiert. Je höher man in den Ämtern nach oben schießt, umso erfolgreicher ist man."
Und gibt es ein größeres Erfolgssymbol für einen Landespolitiker, als das Amt des Ministerpräsidenten? Wohl kaum. "Solche identitätsbestätigenden Symbole braucht der Mensch, denn Erfolg ist für das Selbstbild wichtig", erklärt Trötschel.
Natürlich streben nicht nur Politiker nach Erfolg und blenden dabei manchmal Dinge aus. "Wir sind alle für diese Prozesse anfällig", sagt Trötschel. Selbstverständlich gebe es Menschen, die trotz Einfluss des Umfeldes und trotz der Umstände in Kemmerichs Situation gesagt hätten: Ich entscheide das für mich anders und mache da nicht mit. Wir sind schließlich nicht fremdgesteuert von den Umständen.
"Aber es ist ein anstrengender Prozess nötig, damit man keine Entscheidungen trifft, bei denen man die Konsequenzen nicht in alle Richtungen bedacht hat", erklärt der Sozialpsychologe.
Das sei ein anstrengender Willensakt, ein Akt des permanenten Selbstreflektierens. Man muss Leute um sich scharen, die einen nicht nach dem Mund reden, und darf diese auch nicht vertreiben. Das kann im Alltag schmerzvoll sein, erklärt der Experte. "Die FDP Thüringen hat diese Rundum-Reflektion nicht betrieben."
Was Politiker wie Kemmerich oder auch Lindner in den vergangenen Tagen erleben mussten, ist das Phänomen der kognitiven Dissonanz, erklärt der Experte.
Realität 1 in den Köpfen der Thüringen-Akteure: "Meine Werte sind die richtigen." Realität 2 in den Köpfen der Thüringen-Akteure: "Plötzlich verurteilen mich alle." Diese zwei Kognitionen, diese zwei wahrgenommenen Realitäten, passen nicht zueinander. Das treibt einen innerlich um.
"Bei den Akteuren in Thüringen hat sich nach dem Aufschrei ein großer Widerspruch zwischen ihrem Selbstbild, ihren Wertvorstellungen und dem, wie das in der Öffentlichkeit beurteilt wird, ergeben", sagt Trötschel.
Diese Politiker stünden plötzlich vor einem riesigen Rechtfertigungsdruck, auch vor sich selbst. Diesen Druck wollen sie nun wieder reduzieren, vor sich selbst und vor der Öffentlichkeit. Dissonanzreduktion heißt das in der Fachsprache. Aber so einfach ist das nicht: "Den Hintern in der Hose zu haben und als unmittelbar Beteiligter öffentlich zu sagen, ich habe einen Fehler gemacht, das ist selbstwertbedrohlich", sagt der Sozialpsychologe.
Er glaubt: "Viele der Politiker, die hier nun kritisiert werden, sind sicherlich innerlich überzeugt, dass sie das Richtige getan haben, aber dass die ganze Umwelt hysterisch reagiert hat. Sie ziehen also Umstände heran, mit denen sie ihr Verhalten vor sich selbst und vor anderen rechtfertigen."
Dabei werden einige auch kreativ. Trötschel verweist auf CSU-Politikerin Dorothee Bär, die Kemmerich nach seiner Wahl umgehend gratuliert hatte. "Dann kam die sehr deutliche Ansage von Parteichef Markus Söder. Bär reduzierte die Dissonanz, indem sie danach in einem Interview sinngemäß sagte: Das war die falsche Entscheidung, aber ich kannte Kemmerich so gut aus dem Bundestag, dass ich ihm spontan gratuliert habe."
Auch beim FDP-Chef, der sowieso nach wie vor betont, dass die AfD-Stimmen trotz Warnungen überraschend kamen, lassen sich solche Verhaltensmuster feststellen. Er sagt nicht, dass er eventuell während seiner ersten Reaktion auf der falschen Seite gestanden haben könnte, sondern sucht seinen Weg in der Rechtfertigung.
Dass er nicht schneller und schärfer reagiert hat, begründet Lindner nun damit, dass ihm viel Wert daran liege, persönlich mit seinen FDP-Kollegen zu sprechen, weswegen er ja dann am nächsten Tag gleich nach Erfurt gefahren sei. Und sowieso sei Kemmerich ja übermannt gewesen von der überraschenden Situation, sodass er die Wahl angenommen hat, was quasi jedem passieren hätte können.
"Das ist Lindners Weg, die Dissonanz zu reduzieren", sagt Sozialpsychologe Trötschel. Nur: "Die Menschen da draußen spüren das natürlich, wenn sich jemand etwa im ZDF-Interview rechtfertigt und ablenkt. Das weiß auch Christian Lindner."
Warum die Akteure in Thüringen so entschieden haben, wird für viele für immer unverständlich bleiben. Was man jedoch dabei bedenken muss, ist deren soziales Umfeld und die situativen Umstände. Beides spielt eine oft unterschätzte Rolle in Entscheidungsprozessen, und beides kann man als Beobachter von außen kaum beurteilen.
Fakt ist jedoch auch: Die Akteure in Thüringen hatten die Wahl, welche Entscheidung sie treffen. Die Konsequenzen in alle möglichen Richtungen haben sie dabei aber ganz offensichtlich nicht ausreichend bedacht. Möglicherweise, weil sie sich zu sehr in ihrer eigenen Blase befunden haben, sich im Recht wähnten, sich zu wenig selbst reflektierten und größtenteils von Ja-Sagern mit derselben Meinung umgeben waren. Wie es genau zu der Entscheidung kam, kann deswegen niemand sagen. Vielmehr müssen das wohl erst einmal die Akteure selbst kritisch reflektieren.