Warum er Präsident werden sollte – ausgerechnet er – das hat Benjamin Strasser zu Beginn selbst nicht verstanden. Irgendwann sei die Anfrage eben gekommen, erzählt Strasser: bis zu 14 Millionen Menschen sollte er vertreten, die zweitgrößte Bewegung in Deutschland überhaupt. Er hat ja gesagt. Deshalb ist Benjamin Strasser, gelernter Geigenspieler und Chorsänger, seit Mai 2019 Präsident des "Bundesmusikverbands Chor & Orchester" (BMCO).
Benjamin Strasser, 34 Jahre alt, ist aber eben nicht nur Präsident des BMCO. Seit Herbst 2017 ist er Bundestagsabgeordneter für die FDP. Einer, der in den vier Jahren seither auf der Karriereleiter ein paar Sprossen nach oben gestiegen ist.
Er weiß inzwischen recht viel davon, wie der Hase läuft im politischen Berlin. Das lässt er auch durchschimmern, wenn er als Präsident der Chor- und Orchestermusiker spricht. Strasser wirbt für mehr Aufmerksamkeit, indem er sagt: "Jeder Politiker will sich mit dem Sportverein fotografieren lassen, aber keiner mit dem Chor." Er spricht über Chorprojekte mit Geflüchteten und Menschen mit Behinderungen, über Initiativen wie den Jugendchor Projekt "Pitch please" im hessischen Elz, der in pandemischen Zeiten junge Menschen fürs gemeinsame Singen begeistern will. Strasser will damit sagen wie wichtig Freizeitsänger und -Musikanten für die Gesellschaft seien. Und wie sehr sie deshalb politische Unterstützung verdienten.
Nach vier Jahren Bundestag hat Strasser gut verstanden, warum ihn der Hobbymusikerverband überhaupt wollte als Cheflobbyisten. "Ich hab' sowohl im Orchester gespielt als auch im Chor gesungen. Ich bin also nicht verdächtig, für eines der beiden Lager zu sprechen." Wo es um Macht geht, gibt es überall ähnliche Konflikte, im Musikerverband wie im Bundestag.
Ravensburg, an einem Abend Mitte Juni. 50.000 Einwohner hat die Stadt, sie liegt 20 Kilometer Luftlinie nördlich des Bodensees, tief im Süden Deutschlands. Benjamin Strasser ist ein paar Kilometer von hier entfernt daheim, im kleinen Ort Berg. Draußen brennt die Sonne auf die Türme und Dächer der Ravensburger Altstadt, rund 30 Grad ist es heiß. Drinnen, in einem heruntergekühlten Fernsehstudio am Rand der mittelalterlichen Altstadt, sitzt Strasser in einem beigefarbenen Sessel. Drei Videokameras sind auf ihn gerichtet. Das hier ist ein Heimspiel für ihn.
Strasser, weiße Sneaker, dunkelblaue Hose, weißes Shirt, hat den linken Arm auf die Lehne gelegt. Mit dem rechten streicht er, die Hand waagerecht nach vorne gerichtet, durch die Luft, während er spricht. Er sagt: "Wir brauchen weniger Sicherheitsbehörden, die schlagkräftiger, besser kontrollierbar sind." Benjamin Strasser stellt hier seinen Plan vor, wie Deutschland sicherer werden soll.
Neben Strasser, in zwei senfgelben Sesseln, sitzen links Hendrik Groth, Chefredakteur der "Schwäbischen Zeitung", dem einflussreichsten Medium zwischen Bodensee und Schwäbischer Alb. Und rechts Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, zweimalige ehemalige Bundesjustizministerin. 1995 kündigte sie unter Tränen ihren Rücktritt vom Amt an, wegen des "Großen Lauschangriffs", der Strafverfolgern das Abhören von Privatwohnungen ermöglichen sollte. Leutheusser-Schnarrenberger machte da nicht mit, so weit dürfe der Staat nicht gehen, fand sie und findet sie bis heute. Seither ist sie eine Art Ikone der FDP. Vor allem für diejenigen Liberalen, die finden, dass die Partei wieder mehr über Verteidigung der Bürgerrechte sprechen sollte und weniger über die Verteidigung des billigen Schweineschnitzels.
Leutheusser-Schnarrenberger ist heute nach Ravensburg gekommen, um mit Benjamin Strasser über dessen Buch zu sprechen. "Sicherheitsrisiko Staat" heißt es, Strasser arbeitet darin auf 128 Seiten auf, warum es Polizei und Geheimdienste in Deutschland nicht geschafft haben, den islamistischen Terroranschlag auf den Berliner Weihnachtsmarkt im Jahr 2016 und die rechtsextremen Attentate von Halle (2019) und Hanau (2020) zu verhindern. Viel von der Arbeit Strassers und der Mitarbeiter in seinem Abgeordnetenbüro sind darin eingeflossen: das Durchwühlen von Akten und Vernehmungsprotokollen, von Berichten parlamentarischer Untersuchungsausschüsse, von Fachbüchern.
Das Buch ist eine Anklageschrift: Es geht um die 40 Sicherheitsbehörden von Bund und Ländern, die schlecht bis gar nicht miteinander kommunizieren – und denen ein brandgefährlicher Islamist wie Anis Amri solange durch die Finger rutschte, bis er an einem Dezemberabend einen Lkw auf den Berliner Breitscheidplatz steuerte und zwölf Menschen ermordete. Und es ist ein politischer Plan, den Strasser kurz vor Ende seiner ersten Legislatur aufgeschrieben hat: eine Reform der Sicherheitsbehörden, ein europäisches FBI, klare Regeln für Menschen, die Extremisten und Kriminelle ausspionieren sollen. Und Schluss mit den Forderungen nach schärferen Sicherheitsgesetzen, nach noch mehr Möglichkeiten für die Behörden, Bürger zu überwachen.
Und, was meint die FDP-Veteranin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger zum Strasser-Plan? "Er liegt absolut richtig", sagt sie in der Diskussionsrunde. Der junge Abgeordnete habe "sehr fundiert" und "detailgenau" die Missstände beschrieben. Klingt nach politischem Ritterschlag. Strasser neigt den Kopf nach links, presst die Handflächen zusammen, grinst. Die Buchvorstellung wird live gestreamt, auf Zoom und dem YouTube-Kanal der FDP-nahen Friedrich-Naumann-Stiftung.
Das mit der Politik hat für Benjamin Strasser in der Schule begonnen. Anfang der 2000er Jahre, am Bildungszentrum St. Konrad in Ravensburg. Strasser erzählt von einem Geschichtslehrer, der großen Wert gelegt habe auf offene Debatten mit Schülerinnen und Schülern.
Es waren die Jahre, in denen der islamistische Terrorismus die USA und Europa zum ersten Mal mit tödlicher Wucht erfasste. Wer heute so alt ist wie Benjamin Strasser, hat die Bilder als Teenager gesehen und wird sie nie vergessen: der Feuerball, als am 11. September 2001 das zweite Flugzeug in den zweiten Turm des World Trade Centers in New York donnert. Das zerfetzte Metall der Züge nach dem Attentat von Madrid im März 2004. Der Doppeldecker-Bus mit zerborstenem Dach in London, nach dem Anschlag im Juli 2005.
Benjamin Strasser erzählt, dass ihn damals die Diskussion um das Luftsicherheitsgesetz bewegt habe. Es ging um die Frage, ob der Staat ein mit Passagieren besetztes entführtes Flugzeug abschießen darf – wenn die Entführer drohen, es für einen Terroranschlag zu verwenden. Die Frage, ob Menschenleben für andere Menschenleben geopfert werden dürfen. Strasser sagt heute: "Man hat damals gesehen, wie schnell das kippen kann, dass Menschenleben gegen andere Menschenleben abgewogen werden."
2006 ist Benjamin Strasser in die FDP eingetreten, in dem Jahr, in dem er am Wirtschaftsgymnasium Ravensburg sein Abitur gemacht hat. Danach studierte er Jura in Konstanz, machte sein Rechtsreferendariat in Stuttgart, bestand 2014 das zweite juristische Staatsexamen.
Im selben Jahr fand er sein "Lebensthema", so sagt Strasser es selbst. Er wurde parlamentarischer Berater von Ulrich Goll, FDP-Abgeordneter im baden-württembergischen Landtag. Strasser half Goll bei der Arbeit im Untersuchungsausschuss zum NSU, der rechtsextremen Terroristenbande, die von 2000 bis 2007 zehn Menschen ermordete und versuchte, Dutzende weitere zu töten. Strasser sagt, er habe damals begriffen, dass der Kampf gegen rassistischen Hass aus der Mitte der Gesellschaft kommen müsse. Er sagt: "Wir dürfen das nicht dem linken Rand überlassen."
Strasser arbeitete sich nach vorn in der baden-württembergischen FDP. 2017 wählte ihn der Landesparteitag auf einen guten Listenplatz zur Bundestagswahl, die Liberalen holten später eines der stärksten Ergebnisse ihrer Geschichte – und Benjamin Strasser zog in den Bundestag ein. Sein Geschichtslehrer schrieb ihm damals eine Nachricht: "Viel Glück bei der Regierungsbildung." Das klappte nicht, die FDP stieg im Spätherbst 2017 aus den Verhandlungen für eine Koalition mit Union und Grünen aus und ging in die Opposition.
Benjamin Strasser hat daraus so ziemlich das Beste gemacht. Er wurde Obmann der FDP-Fraktion im Innenausschuss: Strasser ist somit quasi der Hauptansprechpartner für Fraktionschef Christian Lindner bei den Themen innere Sicherheit, den Kampf gegen Kriminalität und Terrorismus. Er wurde zum wichtigsten Mann der FDP im ersten Untersuchungsausschuss der Legislaturperiode: dem Amri-Ausschuss, der das Attentat auf den Berliner Weihnachtsmarkt im Dezember 2016 aufklären sollte.
Strasser und die Mitarbeiter in seinem Büro haben seither Tage, Abende und manche Nächte mit den Dokumenten zum Attentäter Anis Amri verbracht. Strasser hat Innenminister Horst Seehofer gelöchert und den ehemaligen Chef des Bundesamts für Verfassungsschutz Hans-Georg Maaßen. Maaßen – der 2018 sein Amt verlor, weil er die Regierungspartei SPD als linksextrem diffamiert und rassistische Hetzjagden in Chemnitz geleugnet hatte – hat ihn auf Twitter blockiert. Strasser erzählt das immer wieder gerne.
Wenn eine moderne Demokratie funktioniert, dann sind Untersuchungsausschüsse, kurz U-Ausschüsse, wie eine starke Lupe, mit der Abgeordnete der Regierung über die Schultern schauen können. Wer in einem U-Ausschuss sitzt, darf Zeugen vernehmen, die Herausgabe von Dokumenten verlangen. Am Ende fasst der Ausschuss in einem Abschlussbericht zusammen, was er herausgefunden hat.
Ohne U-Ausschüsse im Bundestag und in Landtagen wüsste man in Deutschland heute deutlich weniger über den rassistischen Terror des NSU. Und über den Anschlag auf den Berliner Weihnachtsmarkt, über die Fehler der Geheimdienste davor und den tonnenschweren Verdacht, dass die Opfer des Terroristen Anis Amri noch leben könnten, wenn nicht so viele Informationen über ihn verschlampt oder übersehen worden wären.
Benjamin Strasser, der FDP-Mann, hat im Amri-Ausschuss besonders gut mit zwei Kolleginnen zusammengearbeitet: Irene Mihalic von den Grünen – und Martina Renner von den Linken. Die drei stellten im Juni ihr Sondervotum zum Attentat vor, in dem sie erklärten, dass längst nicht aufgeklärt sei, welches Netzwerk hinter Amri stecke – und wie gefährlich es bis heute sei.
Anfang Februar 2020 gratulierte die Linke Renner dem Liberalen Strasser auf Twitter öffentlich herzlich zum Geburtstag und bedankte sich "für gemeinsam am Strang ziehen", im Kampf gegen Rechtsterrorismus wie im Amri-Ausschuss. Strasser bedankte sich mit einem Umarmungs-Emoji. Die beiden schrieben das wenige Tage, nachdem die FDP-Landtagsabgeordneten in Thüringen, mit den Stimmen der AfD um den Rechtsextremen Björn Höcke, Thomas Kemmerich zum Ministerpräsidenten gewählt hatten – um den linken Ministerpräsidenten Bodo Ramelow abzulösen. Strasser hat die Wahl damals als "Super-Gau" bezeichnet.
Benjamin Strasser gehört zu einer Handvoll junger FDP-Abgeordneter, die 2017 in den Bundestag eingezogen sind – und die seither langsam das Bild der Partei verrücken. Gyde Jensen, Menschenrechtsexpertin und jüngste weibliche Abgeordnete im ganzen Bundestag, gehört dazu, neben Innenpolitiker Konstantin Kuhle und Sozialpolitiker Johannes Vogel. Es sind Liberale, die deutlich seltener mit den Grünen fremdeln als, sagen wir, der kernig-konservative FDP-Bundesvizechef Wolfgang Kubicki.
In Oberschwaben, der Region um Strassers Heimatort Berg bei Ravensburg, ticken die meisten Menschen eher konservativ. Die Gegend zwischen Bodensee, Donau und Schwäbischer Alb war jahrzehntelang eine sichere Bank für die CDU. Inzwischen haben auch die Südwest-Grünen um Ministerpräsident Winfried Kretschmann, der auch in der Gegend geboren ist, Wurzeln geschlagen. In Strassers Wahlkreis Ravensburg kam die FDP 2017 auf 11,4 Prozent der Zweitstimmen, 0,7 Prozentpunkte mehr als bundesweit.
Ortstermin, diesmal zum Spaziergang draußen – am Schulzentrum, in dem sich Benjamin Strasser vor zwei Jahrzehnten in die Politik verguckt hat. Es ist der Vormittag nach der Buchvorstellung. Die Sonne scheint, es ist wieder heiß. Die Schulgebäude liegen an einem Hügel, von hier aus überblickt man das längliche Tal, in dem sich die Altstadt und die Neubaugebiete von Ravensburg und der Nachbarstadt Weingarten ausgebreitet haben. Bei klarer Luft sieht man von hier oben aus die Gipfel der Schweizer Alpen. Benjamin Strasser zeigt mit dem Finger nach vorne, auf einen Hang, sagt: "Hier sind wir immer Schlitten gefahren." Dann meint er: "Es ist schon ein Glück, hier aufgewachsen zu sein."
Oberschwaben ist eine der wohlhabenderen Gegenden Deutschlands, mit nur 3,7 Prozent Arbeitslosigkeit. Mit vielen mittelständischen Firmen, die Menschen mit guter Ausbildung gute Löhne zahlen. Strassers Familie gehört so ein Unternehmen. Ein paar Autominuten von seiner früheren Schule entfernt liegt der Betrieb, den sein Vater gegründet hat und sein Bruder heute leitet: ein Maschinenbauunternehmen, das anderen Unternehmen Produkte wie Maschinenschutztüren und Staurollenmodule verkauft.
Er sei behütet aufgewachsen, sagt Strasser. Aber seine Eltern hätten ihn auch früh angehalten, sein eigenes Geld zu verdienen: mit Zeitungsaustragen und Ferienjobs. Dass ihm in der Politik nichts in den Schoß fällt, das hat Benjamin Strasser offensichtlich gelernt.
Anfang März 2020 stand schon in der Zeitung, dass Benjamin Strasser im Herbst 2021 wieder in den Bundestag will. Im Oktober 2020 wählten ihn die FDP-Delegierten auf Platz sechs der Landesliste, damit ist Strasser im Vergleich zur Wahl 2017 zwei Plätze nach oben geklettert. Es müsste schon eine Katastrophe für die Liberalen passieren, damit das nicht für den Bundestag reicht.
In Berlin, erzählt Strasser, sehe er nicht viel mehr als seine Wohnung im Bezirk Mitte und das Innere des Bundestags. An seinem Berliner Esstisch hat er Videos für seinen YouTube-Account aufnehmen lassen. "Strasser lädt ein", heißt die Reihe, Gespräche beim Abendessen daheim. Strasser hat schon die frühere FDP-Generalsekretärin Linda Teuteberg bekocht, die liberale Verteidigungspolitikerin Marie-Agnes Strack-Zimmermann und den Grünen-Netzpolitiker Konstantin von Notz.
Strasser ist regelmäßig in den "Tagesthemen" zu sehen, wenn es um Terrorismusbekämpfung, Rechtsextremismus, Antisemitismus geht. Wenn in einem seiner Themengebiete etwas Aufsehenerregendes passiert, dann haben manche Journalisten Minuten später ein Strasser-Statement im Postfach.
Und das Musizieren, Herr Amateurmusikerverbandspräsident?
Hin und wieder, sagt Strasser, schaffe er es noch in den Kirchenchor daheim in Berg, in dem auch seine Mutter mitsingt. Der Geigenkasten stehe zu Hause, in seinem Arbeitszimmer in Oberschwaben. "Aber aufgemacht habe ich den seit Jahren nicht mehr", sagt er.