Bis Anfang Mai sollen die aktuellen Corona-Maßnahmen greifen. Viele gehen davon aus, dass danach eine Rückkehr zur Normalität anfängt. Nicht so SPD-Politiker, Arzt und Epidemiologe Karl Lauterbach. Er, der derzeit Dauer-Gast in allen möglichen Talkshows dieses Landes ist, hätte sich gewünscht, dass der Shutdown noch einige Zeit länger anhält, um das Virus "auszurotten".
Im Interview mit watson erklärt Lauterbach, weshalb er sich eine Verlängerung des Shutdowns gewünscht hätte und warum es in seinen Augen unverantwortlich ist, dieses Jahr in den Sommerurlaub zu fahren. Außerdem erklärt er, wie lange schon in Fachkreisen bekannt war, dass es eine Gefahr durch Coronaviren gibt und welche Fehler gemacht wurden in der Vorbereitung für eine mögliche Pandemie.
watson: Sie sind nicht nur Politiker, sondern auch Arzt und Epidemiologe. Hätten Sie sich vorstellen können, dass Sie in Ihrem Leben so eine Situation wie jetzt mit dem Coronavirus erleben?
Karl Lauterbach: Mit der konkreten Situation, diesem schweren Ausbruch, hatte ich nicht gerechnet. Aber auf der anderen Seite wurde die Möglichkeit einer Pandemie durch Coronaviren in Fachkreisen schon viel diskutiert. Es gibt einen Vortrag von Bill Gates aus dem Jahr 2015, in dem er von der Gefahr spricht. Das ist aber nur das Ergebnis von Diskussionen, die bereits innerhalb der Epidemiologen gehalten worden sind. Das konkrete Ausmaß überrascht, aber solche Szenarien sind immer wieder durchgespielt worden und deshalb gab es ja auch konkrete Notfallpläne, die Wissenschaftler erarbeitet haben.
In der Wissenschaft war das Risiko also bekannt. Aber wurde auch ausreichend vorgesorgt für den Ernstfall?
Nein, wurde es nicht. Die Szenarien wurden durchgespielt. Aber es gab viel zu wenig Beachtung vonseiten der Politik für diese Gefahr. In manchen Ländern wie Deutschland wurde sie zwar beachtet, aber es gab keine zuständigen Verantwortlichkeiten.
2012 hat das Robert-Koch-Institut einen Plan vorbereitet, der ein verblüffend ähnliches Szenario wie die aktuelle Corona-Pandemie durchspielt und Vorbereitungen für den Ernstfall empfiehlt. Der Plan wurde auch dem Bundestag vorgelegt, aber nie umgesetzt. Warum?
Der Plan ist damals zur Kenntnis genommen worden. Mich hat es als Epidemiologen mehr interessiert als andere, aber tatsächlich wurde er dem Bundestag nie vorgelegt, sondern nur dem Gesundheitsausschuss. Es ist nie besprochen worden, wer für was zuständig ist und wer was umsetzt.
Wird man das nach dieser Pandemie anders machen?
Selbstverständlich. Das kann sich kein Land der Erde mehr leisten, darauf nicht vorbereitet zu sein und beispielsweise keine Schutzkleidung vorrätig zu haben. Wir werden auf ähnliche Pandemien in Zukunft besser vorbereitet sein. Es gibt bereits eine Taskforce, die sich darum kümmern wird.
Aktuell hat die Bundesregierung die Verlängerung der Corona-Maßnahmen noch bis Anfang Mai verkündet. Was stört Sie daran?
Zunächst einmal muss ich sagen, dass ich mich mit Kritik an der Bundesregierung sehr zurückhalte. Es wurde vieles richtig gemacht, und das muss auch mal gelobt werden. Ich bin nur anderer Meinung, was die Fortsetzung des Lockdowns angeht. Ich hätte mir eine Strategie nach dem Vorbild von Südkorea gewünscht. Dafür hätte man die Maßnahmen noch etwas länger fortsetzen müssen, bis die Reproduktionsrate noch deutlich niedriger als eins gewesen wäre. Dann hätte man neue Epidemie-Herde systematisch ausrotten können. Das wäre der Ausrottung der gesamten Epidemie sehr nahegekommen. Man hätte die Epidemie auf ein sehr niedriges Niveau gesenkt, sodass man jede Neuinfektion genau aufspüren und isolieren hätte können.
Was wäre dafür nötig gewesen?
Außer der niedrigen Reproduktionsrate wäre auch ein systematisches Testen nötig gewesen. Dazu wäre nur Deutschland innerhalb von Europa in der Lage gewesen, weil wir die Testkapazität haben. Außerdem hätten wir die Möglichkeit gehabt, die Fallzahlen so weit zurückzudrängen, dass man eine überschaubare Menge neuer Fälle gehabt hätte. Das ist für viele europäische Länder schon gar nicht mehr möglich. Und wir wären wohl auch in der Lage gewesen, genügend Masken herzustellen. Da haben wir nur leider zu viel Zeit verloren.
Wo sehen Sie die Verantwortung dafür, dass wir zu wenig Masken haben?
Es ist nicht meine Aufgabe, das zu kritisieren. Es ist jetzt einfach wichtig, dass wir, ohne Abhängigkeit von ausländischen Produzenten, genug Masken in Deutschland herstellen.
Die werden wir auch brauchen. Denn immer mehr Bundesländer verkünden gerade eine Maskenpflicht. Was halten Sie davon?
Ich halte das auch bundesweit für sinnvoll. Neueste Studien zeigen, wie bedeutsam das Sprechen für die Übertragung der Krankheit ist. Masken können das in einem gewissen Maße verhindern. Eine Maskenpflicht im öffentlichen Raum, insbesondere im ÖPNV und Geschäften, ist sinnvoll. Ich war da auch zunächst anderer Meinung, aber habe mich da überzeugen lassen.
Auch Sie haben also Ihre Meinung in manchen Punkten, wie bei der Maskenpflicht, geändert. Der Philosoph Julian Nida-Rümelin kritisierte erst kürzlich im watson-Interview, dass die Bundesregierung seiner Meinung nach ständig ihre Strategie wechsele. Wirkt das nicht ein wenig fahrig oder ist das Nachjustieren der Bundesregierung schlecht kommuniziert worden?
Die Kritik, dass das fahrig sei, möchte ich nicht machen. Auch ist es so, dass in der Wissenschaft nur wenige Punkte wirklich korrigiert wurden. Dass Masken sinnvoll sein können, sage ich selbst auch schon seit Wochen. Eine Maskenpflicht kann man aber nur einführen, wenn man auch genug Masken hat. Bis dahin kann man sich zum Teil mit selbstgemachten Masken behelfen und den Umgang damit erlernen. Jetzt läuft die Produktion in Deutschland an. Jetzt ist der Zeitpunkt gekommen. Das ist kein Meinungswechsel, sondern eine Anpassung an die neuen Gegebenheiten. Dass man seine Meinung ändert, weil Studien neue Ergebnisse liefern, ist Zeichen einer guten Politik, nicht einer schlechten.
Der Virologe Hendrik Streeck war jüngst in der Kritik, weil er seine Studie zu Heinsberg bereits recht früh veröffentlicht hat. Ihm wird vorgeworfen, die Lockerungen des Shutdown wissenschaftlich unterfüttern zu wollen. Was halten Sie von ihm als Wissenschaftler?
Die Studie ist bisher nur in einem kurzen Papier veröffentlicht worden. Es bleibt abzuwarten, was die finale Studie beinhaltet. Aber Hendrik Streeck ist ein bekannter Forscher von sehr hohem Kaliber. Ich bin zuversichtlich, dass da eine gute Studie herauskommt.
Sie sind Wissenschaftler und Politiker. Wessen Stimme ist in der aktuellen Krise wichtiger?
Die Entscheidungen sind politische. Die Wissenschaft wird gehört, aber die Politik entscheidet. Es ist zwar im Moment so, dass auf die Wissenschaftler mehr gehört wird als sonst, aber ich bin ganz allgemein der Meinung, dass auf die Wissenschaft zu wenig gehört wird. Da bin ich aber auch voreingenommen als Wissenschaftler.
Sie haben gesagt, dass wir den derzeitigen Zustand wohl noch eineinhalb Jahre ertragen müssen. Wann denken Sie denn, dass wir endlich zur Normalität zurückkehren können?
Bis wir wieder in der vollkommenen Normalität angelangt sind, die wir aus dem Jahr 2019 kennen, wird es wohl 2022 sein. Da schließe ich mich der Studie der Harvard-Universität aus dem Team um Marc Lipsitch an. Selbst wenn wir einen Impfstoff entwickelt haben, ist es unklar, ob wir jeden damit impfen können oder zunächst nur Risikogruppen. Weil er möglicherweise nicht ausreicht. Es ist auch unklar, ob der Impfstoff dann ausreichend wirkt. Möglicherweise wird das Virus mutieren.
Heißt das, dass man seinen Sommerurlaub dieses Jahr vergessen kann?
Ich halte es für eine grotesk schlechte Idee, diesen Sommer in den Urlaub zu fahren. Die Gefahr ist sehr hoch, dass wir im Sommer einen schweren Rückfall der Krankheit erleben. Inklusive erneutem Lockdown und hohen Sterbezahlen. Das ist der beste Sommerurlaub nicht wert.
Auf der anderen Seite leiden viele Familien unter der aktuellen Situation. Viele sind auf engstem Raum mit ihren Kindern eingesperrt. Wie erklären Sie ihnen, dass dieser Zustand verlängert wird?
Man muss den Menschen offen erklären, worum es hier geht. Für ältere Menschen wird das Problem nicht dadurch gelöst, dass sie in die Klinik kommen und dort künstlich beatmet werden. Von den älteren Menschen, die beatmet werden, sterben bis zu 60 Prozent am Beatmungsgerät. Jeder wird, wenn er Glück hat, irgendwann alt sein und sich an den Moment erinnern, an dem er solidarisch älteren Menschen geholfen hat.
Werden wir dieses Jahr Weihnachten mit Familien feiern können?
Darüber zu sprechen, ist aktuell noch zu früh. Niemand von uns weiß, wie die Lage um Weihnachten herum sein wird.
Was können wir aus der Corona-Krise lernen, wenn wir dann möglicherweise 2022 zur vollkommenen Normalität zurückkehren?
Ich glaube, dass bestimmte Produktionsabläufe ein Backup im eigenen Land benötigen. Das bedeutet, dass wir hier in Deutschland in der Lage sein müssen, Schutzkleidung und Medikamente herzustellen. Für den Fall einer Pandemie muss jedes Land in der Lage sein, medizinisch nötige Produkte selbst herzustellen, selbst dann, wenn der Welthandel zusammenbricht.
Und ganz allgemein?
Für unsere Kultur und unser Wertesystem ruft die Corona-Krise uns in Erinnerung: Gesundheit, sozialer Wohlstand und Frieden sind nicht selbstverständlich.