Die Umfragewerte der Grünen sind momentan sensationell – aber nur, wenn man sie vergleicht mit ihrem Ergebnis bei der Bundestagswahl 2017. Zwischen 15 und 17 Prozent der Wähler würden nach Stand der Befragungen die Partei wählen. Das Problem für die Partei: Seit Mai hat sie rund 10 Prozentpunkte an Zustimmung verloren. Das Ziel, die nächste Bundesregierung anzuführen, scheint zum unerreichbaren Traum geworden zu sein.
War es ein Fehler, Annalena Baerbock zur Kanzlerkandidatin zu machen? Sollten die Grünen mit der Linkspartei regieren? Warum sollten junge Auszubildende im Braunkohle-Tagebau die Grünen wählen? Und wie hält es die Partei heute mit dem Militär?
watson hat darüber im Doppelinterview mit zwei Grünen aus unterschiedlichen Generationen gesprochen: mit Claudia Roth, ehemalige Grünen-Chefin und Vizepräsidentin des Bundestags – und mit Georg Kurz, der seit 2019 einer der beiden Bundessprecher der Grünen Jugend ist, der Jugendorganisation der Partei.
watson: Georg, Frau Roth, Mitte April hat Ihre Partei Annalena Baerbock als Kanzlerkandidatin vorgestellt. Die Grünen schossen in den Umfragen nach oben, Baerbock schien auf dem Weg ins Kanzleramt. Inzwischen ist es bergab gegangen in der Zustimmung. Wie ärgerlich ist es, dass die Grünen diese historische Chance versemmelt haben?
Claudia Roth: Wir haben nix versemmelt. Die heiße Phase des Wahlkampfes hat begonnen, viele Menschen haben sich noch nicht entschieden. Jetzt geht's ums Überzeugen, Mobilisieren und Politisieren, um die wirklich großen globalen Herausforderungen. Im ersten TV-Triell der Kanzlerkandidierenden durften wir erleben, was Kompetenz heißt, was Herzenswärme und Empathie bedeutet. Annalena Baerbock hat gezeigt, was der Unterschied ist zwischen einer grünen Kandidatin und einer grünen Partei, die sehr geschlossen hinter ihr steht – und den anderen. Wir wollen die dringend notwendige Veränderung, die anderen wollen Verwaltung des Status quo.
watson: Die Umfragewerte der Grünen gehen aber nach unten.
Roth: Ich muss immer ein bisschen schmunzeln, wenn der Eindruck erweckt wird, dass wir hier gerade einen schrecklichen Absturz erleben. Erstens stabilisieren sich unsere Werte. Und zweitens reden wir hier von Werten, die doppelt so hoch sind wie unser Wahlergebnis von 2017.
watson: Aber Sie wollen ja das Kanzleramt übernehmen - und dafür reicht es Stand jetzt nicht. Es müsste inzwischen ein mittelgroßes Wunder geschehen, damit Deutschland eine grüne Kanzlerin bekommt.
Georg Kurz: Ich glaube, das ist auch ohne Wunder möglich. Wir haben im April eine tolle Kandidatin aufgestellt, ein gutes Programm aufgeschrieben. Dann haben uns erstmal viele gefeiert und es ist eine Welle der Euphorie entstanden. Uns war aber damals schon klar, dass uns diese Welle nicht einfach ins Kanzleramt spült.
watson: Sondern?
Kurz: Wir wussten: In dem Moment, in dem wir politische Macht beanspruchen – und sich tatsächlich durch Umfragen und zivilgesellschaftliche Bewegungen Macht in unsere Richtung zu verschieben beginnt, weg von denen, die sie bisher hatten, werden wir auf Widerstand stoßen. Und dieser Widerstand ist umso heftiger ausgefallen, weil wir in diesem Wahlkampf, mehr noch als früher, klare Maßnahmen für eine materielle Verbesserung der Situation ganz vieler Menschen fordern.
watson: Klare Maßnahmen zu fordern, stößt auf Widerstand?
Kurz: Wir fordern 12 Euro Mindestlohn pro Stunde. Wir fordern, dass die Mieten sinken. Das schmälert natürlich die Gewinne derjenigen, die bisher von niedrigen Löhnen und extrem hohen Mieten profitiert haben. Dass sich dagegen viel Widerstand bildet und sich etwa große Unternehmen zusammentun und der FDP viel Geld spenden, das ist ja keine Überraschung.
watson: 12 Euro Mindestlohn, mehr Wohnraum für sozial Benachteiligte und weniger Energiekosten für Mieter, das fordert auch die SPD. Aber die SPD hat in den Umfragen drastisch zugelegt – und der Kanzlerkandidat Olaf Scholz hat einen großen Anteil daran. Während Annalena Baerbock, die Kandidatin der Grünen...
Roth: ...die Kandidatin ist mega. Es ist absolut richtig, dass jetzt eine Frau zeigt, wofür die Grünen brennen, wofür sie Leidenschaft haben. Annalena Baerbock ist die Kandidatin, die an die Realität der Menschen anknüpft: Zum Beispiel an die Realität von alleinerziehenden Müttern und Kindern, die nicht einmal einen eigenen Schulranzen zur Einschulung haben, weil sie als arme Kinder im reichen Deutschland leben. Und von wegen "auf dem Weg ins Kanzlerinnenamt".
watson: Nicht?
Roth: Na, die Grünen erheben jetzt zum allerersten Mal in ihrer Geschichte den Anspruch auf das Kanzlerinnenamt. Das ist kein glatter Durchmarsch. Dass erstmal ein Hype entsteht und dass es dann eine Delle gibt, war erwartbar. Jetzt müssen wir alle mit anpacken: Annalena, Robert Habeck als Co-Vorsitzender. Und die unfassbar vielen bärenstarken Kandidatinnen und Kandidaten auf unseren Landeslisten, auch die Grüne Jugend, die einen Hammer-Wahlkampf macht – und eine Partei, deren Mitgliederzahl sich seit der letzten Bundestagswahl verdoppelt hat.
watson: Annalena Baerbock ist ja auch deshalb Kanzlerkandidatin geworden, weil die Grünen eine feministische Partei sein wollen. Robert Habeck hat noch vor ihrer Nominierung gesagt: Wenn sie die Kandidatur als Frau beansprucht, dann bekommt sie sie. Habecks Beliebtheitswerte sind aber deutlich besser als die Baerbocks. Haben sich die Grünen mit ihrer feministischen Haltung selbst geschadet?
Roth: Wir sind eine feministische Partei und das seit unserer Gründung. Und es war die absolut richtige Entscheidung, sie zu nominieren, weil sie alle in der Partei überzeugt hat. Es war übrigens auch deshalb richtig, weil wir Grüne damit zeigen, dass Männer auch andere Funktionen übernehmen und in der zweiten Reihe glänzen können – in einer Zeit, in der die Macker wieder lauthals unterwegs sind und du sie durchschnaufen hörst, weil sie nach 16 Jahren Angela Merkel sagen: So, jetzt können wir wieder zur Normalität zurückkehren, mit einem Mann als Kanzler.
Kurz: Es stimmt außerdem überhaupt nicht, dass nur das Geschlecht ausschlaggebend war für die Entscheidung für Annalena Baerbock.
watson: Sondern?
Kurz: Ihre Beliebtheitswerte in der Partei waren sehr hoch, ihre Beliebtheitswerte in öffentlichen Umfragen waren und sind sehr hoch. Annalena Baerbock weiß extrem viel, kann extrem viel, macht extrem viel.
watson: Offenbar kommt das bei den Menschen da draußen nicht wirklich an.
Kurz: Es ist doch so: Überall da, wo es inhaltlich wurde, wurde es peinlich für die Union in den letzten Monaten, weil die Welt um uns herum sich so verändert hat, dass wir nicht weitermachen können wie bisher. Deshalb wird der Angriff aufs Persönliche verschoben, das ist ja völlig klar und eine total nachvollziehbare Strategie. Deshalb wird Annalena heftig angegriffen.
watson: Armin Laschet würde an dieser Stelle wohl heftig widersprechen. Er wird auch seit Wochen sehr stark angegriffen.
Kurz: Wenn wir Robert Habeck aufgestellt hätten, dann wäre Robert Habeck heftig angegriffen worden.
Roth: Wir brauchen jetzt auch nicht rumjammern. Dennoch gehört es auch zur Wahrheit, dass es auch geschlechtsspezifische Angriffe auf Annalena Baerbock gab. Sind die anderen beiden Kandidaten gefragt worden: "Sie haben doch zwei Kinder, wie wollen Sie das denn mit der Kanzlerschaft vereinbaren?“ Ist das irgendjemand von den Männern jemals gefragt worden?
watson: Annalena Baerbock hat sich aber durch ihre Fehler angreifbar gemacht.
Roth: Natürlich sind Fehler gemacht worden. Glauben Sie mal nicht, dass es uns nicht ärgert. Annalena hat das am allermeisten geärgert. Aber wer im Glashaus sitzt, sollte nicht mit Steinen werfen. Wie lange waren die Plagiatsvorwürfe zu Herrn Laschets großartigem Werk ein Thema? Drei Stunden oder so, würde ich sagen. Sorry, da wird mit unterschiedlichem Maß gemessen. Und jetzt soll sich der Fight bitte um die Inhalte drehen. Darum, wofür wir stehen.
watson: Eine wichtige Frage ist auch, mit welchen Partnern man Inhalte in einer Regierung umsetzen kann. Im ersten Triell haben sowohl Annalena Baerbock als auch Olaf Scholz ähnliche Konditionen für eine rot-rot-grüne Regierungskoalition gestellt: ein Bekenntnis zur NATO, zu einer starken EU, zu solider Haushaltspolitik, klare Kante gegen Russland und China. Es ist schwer vorstellbar, dass die Linkspartei diese Bedingungen erfüllt. Georg, die Grüne Jugend trommelt seit Monaten für ein rot-rot-grünes Bündnis. Wie stark ärgert es euch, dass Annalena Baerbock jetzt so große Hürden für eine Koalition mit den Linken aufstellt?
Kurz: Na ja, es gibt halt vor jeder Wahl großen Erwartungsdruck, viel über Koalitionsfragen zu reden. Irgendwie finden das die Leute spannend.
watson: Vermutlich, weil viele Leute wissen wollen, welche Koalition sie bekommen, wenn sie eine bestimmte Partei wählen.
Kurz: Es wird am Ende des Tages darum gehen: Mit welchen Parteien kommt man zusammen? Mit wem gibt es die größten inhaltlichen Schnittmengen? Wir wollen sinkende Mieten, einen höheren Mindestlohn, die nötigen Maßnahmen für den Klimaschutz, die Verteidigung einer offenen Gesellschaft. Da gibt es Parteien, mit denen wir mehr gemeinsam haben und anderen, mit denen es weniger Überschneidungen gibt.
watson: Sehr diplomatisch formuliert. Aber es fällt eben auf: Ihr, die Grüne Jugend, sagt: Wir wollen Rot-Rot-Grün…
Roth: …nicht Rot-Rot-Grün, sondern Grün-Rot-Rot.
watson: Oder so. Jedenfalls: Die Grüne Jugend will ein Linksbündnis. Die Kanzlerkandidatin Baerbock gibt zu verstehen, dass sie das eher nicht will. Wie sehr ärgert euch das?
Kurz: Natürlich wird auch Annalena Baerbock am Ende schauen müssen, mit wem sie grüne Inhalte umsetzen kann. Ich finde die Debatte um die Linkspartei aber teilweise heuchlerisch.
watson: Warum?
Kurz: Nehmen wir Afghanistan: Den Linken wird vorgeworfen, dass sie sich im Bundestag bei der Abstimmung über das Mandat zur Evakuierung deutscher Staatsbürger und afghanischer Ortskräfte enthalten haben. Ich fand das auch falsch – aber das war eine Abstimmung über einen Einsatz, der schon stattgefunden hatte. Gegen die Rettung von Ortskräften hatte im Bundestag ein paar Monate zuvor die große Koalition gestimmt. Auch danach haben sich Union und SPD immer wieder dagegen entschieden, Menschen zu evakuieren. Jetzt zu sagen: Oh, jetzt muss die Linkspartei ihre Positionen in der Außenpolitik klären, finde ich komisch. Und zu Russland: Es war nicht die Linkspartei, die Nordstream 2 gebaut hat, um eine Erdgas-Pipeline direkt zu Putin zu bauen. Man schon aufpassen, nicht mit zweierlei Maß zu messen.
watson: Wie stehen Sie zu einer Koalition mit den Linken, Frau Roth? Sie setzen sich seit Jahrzehnten für Menschenrechte ein – und manche Vertreter der Linkspartei sind schon sehr leise, wenn Menschenrechte in China oder Russland verletzt werden – und sehr laut, wenn es um die USA geht.
Roth: Zu Menschenrechtsverletzungen in China waren auch Angela Merkel und allgemein CDU und CSU sehr leise. Es macht natürlich Spaß, Farbenspiele für die Zeit nach der Wahl zu betreiben. Aber davon halte ich definitiv gar nichts. Früher habe ich das anders gesehen.
watson: Und nun?
Roth: Allerspätestens, seit die AfD im Bundestag ist, glaube ich, dass alle demokratischen Parteien miteinander zusammenarbeiten können müssen. Für uns Grüne ist wichtig, dass wir so stark werden, dass es tatsächlich eine Klimakoalition werden kann. Ich habe mich wirklich geärgert, dass die Linke sich zum Evakuierungsmandat in Afghanistan enthalten hat. Sapperlott, es ging darum, Menschenleben zu retten. Es war einfach unlogisch, nicht dafür zu stimmen.
watson: Aber ist die Linke bereit für die Bundesregierung?
Roth: Ich teile definitiv nicht die Gleichsetzung der Extreme. Wir haben ganz rechts im Deutschen Bundestag eine in Teilen rechtsextreme Partei sitzen –das ist die AfD. Da versammeln sich Rassisten, Antidemokraten und Verächter des Rechtsstaats. Und auf der anderen Seite haben wir eine Linkspartei, die einem gefallen kann oder nicht. Mir gefällt da viel nicht, deswegen bin ich bei den Grünen. Aber wer AfD und Linke gleichsetzt, relativiert den Rechtsextremismus. Das hat sich immer wieder gezeigt und ich bin ja auch schon ein bisschen länger in der Politik. Deswegen siezen Sie mich ja auch, im Gegensatz zu Georg.
watson: Oh je, ich wusste nicht, dass ich Ihnen damit so eine tiefe Wunde schlage.
Roth: Doch, das ist eine tiefe Wunde. Ich kämpfe ja gegen jede Form von Diskriminierung, auch Altersdiskriminierung! (lacht.) Aber zurück zu Ihrer Frage zu einer Koalition mit den Linken: Weil ich so lange dabei bin, erinnere ich mich noch sehr gut an die Rote-Socken-Kampagne von CDU und CSU Anfang der 1990er Jahre. Was die Union jetzt veranstaltet, vom Linksruck zu reden und vom Sozialismus, der angeblich unter Olaf Scholz droht, das ist schon eine ziemlich miese Kopie davon.
watson: Woran liegt das Ihrer Meinung nach?
Roth: Da scheint mir große Panik in der Union zu herrschen. Wenn Herr Laschet so in die Offensive kommen will, dann soll er das ruhig versuchen. Aber diese Kampagne jetzt ausgerechnet an Afghanistan aufzuhängen, wo wir konfrontiert sind mit dem Totalversagen einer deutschen Bundesregierung bestehend aus Union und SPD, die sich noch im Juni geweigert hat, afghanische Ortskräfte aus dem Land zu holen, das ist schon frech.
watson: Sie haben mir immer noch nicht gesagt, ob Sie sich eine Koalition mit den Linken vorstellen können.
Roth: Ich bin gegen Ausschließeritis. Bertolt Brecht hat mal gesagt: "Ändere die Welt, sie braucht es." Das stand vor vier Jahren auf meinem Wahlplakat. Und das stimmt heute viel mehr als damals. Deswegen wünsche ich mir, dass wir Grüne so stark werden, dass es tatsächlich eine Veränderung in der Politik gibt.
watson: Annalena Baerbock spricht immer wieder von einer "aktiven Außenpolitik", darüber, dass Deutschland mehr Verantwortung übernehmen muss. Frau Roth, als sie in den 1980ern den Grünen beigetreten sind, war die Partei radikal gegen militärische Gewalt. Was hätten Sie damals gesagt, wenn Ihnen jemand prophezeit hätte, dass sie einmal mit einer solchen Forderung in den Wahlkampf gehen?
Roth: Aktive Außenpolitik bedeutet ja nicht militaristische Außenpolitik.
watson: Die Grünen haben aber heute ein deutlich positiveres Verhältnis zur Bundeswehr und zu Militäreinsätzen als früher.
Roth: Ja. Und ich kann Ihnen auch sagen, wann ich bei dem Thema angefangen habe, umzudenken. Ich bin 1989 ins Europarlament eingezogen und war Fraktionsvorsitzende der Europäischen Grünen. Mir haben damals Grüne aus europäischen Ländern, in die die Nazis im Zweiten Weltkrieg einmarschiert waren, aus den Niederlanden zum Beispiel, gesagt: Ist es nicht eine gute Antwort auf den Terror und die Verbrechen des Nationalsozialismus, wenn sich heute deutsche Soldaten an internationalen Friedensmissionen beteiligen? Und der zweite Punkt ist: Es gibt Situationen, in denen du dir die Frage stellen musst, ob Gewalteinsatz legitim ist, um überhaupt politische Perspektiven zu haben.
watson: Als es 1999 um den Kosovo-Krieg ging, hat das die Grünen fast zerrissen.
Roth: Ehrlich gesagt, ist mir meine Partei bei diesen Fragen sehr, sehr nahe. Bei uns wird über jeden militärischen Einsatz intensiv diskutiert. Das unterscheidet uns von denen, die zu Militäreinsätzen immer ja sagen – und von denen, die immer nein sagen. Wir machen es uns nicht leicht. Bei mir ist das auch so. Ich habe für manche Einsätze gestimmt. Aber für das letzte Mandat zum Afghanistan-Einsatz habe ich nicht mehr gestimmt, weil wir von der Bundesregierung keine Antworten mehr bekommen hatten auf die Frage, welchen Zweck dieser Einsatz überhaupt noch hat.
watson: Georg, wünschst du dir manchmal die alten, radikal gewaltfreien Grünen zurück, die das Militär ablehnen?
Kurz: Ich glaube, dass es ganz wenige Fälle gibt, in denen militärische Gewalt gerechtfertigt ist. Genauso wie Waffenlieferungen: Die allermeisten sind ein Horror und müssen weg. Aber wir können auch nicht überhaupt keine Waffenlieferungen mehr machen. Das würde für ein Land wie Israel bedeuten, dass es innerhalb kürzester Zeit von der Landkarte getilgt wird.
Roth: Da sind wir übrigens anders als die Linkspartei. Ein Ende jedweder Rüstungslieferung ist nicht einfach durchhaltbar. Wir Grüne wollen eine wertegeleitete Außenpolitik, die feministisch sein muss und in der die internationale Strukturpolitik, die Entwicklungszusammenarbeit eine große Rolle spielen. Und wie gesagt, ich finde viel der Kritik an den Linken richtig. Aber wenn ich mir die vergangenen vier Jahre anschaue: Wo war denn da die wertegeleitete Außenpolitik der Bundesregierung?
Kurz: Ich finde den ersten Satz, den du gesagt hast, sehr wichtig, Claudia. Aktive Außenpolitik ist viel mehr als ein Militäreinsatz. Es gibt Bereiche, in denen wir wahnsinnig viele Dinge grundlegend anders machen müssen: zum Beispiel Handelsabkommen, die anderen Ländern nicht mehr den Zugang zu Ressourcen abschneiden und durch die nicht mehr die Industrie in andere Länder ausgelagert wird, wo sie dann die Natur zerstört.
Roth: Ich wüsste jetzt auch nicht, dass die Grüne Jugend die Bundeswehr abschaffen will. Oder, Georg?
Kurz: Ich hätte gerne eine Welt, in der es keine Soldaten mehr braucht. So weit werden wir aber so schnell nicht sein. Und bis dahin wollen wir auch die Bundeswehr nicht abschaffen.
watson: Stichwort Grüne und junge Menschen: Laut einer INSA-Umfrage von Ende August kommen die Grünen bei den Wählern bis 29 bundesweit auf 30 Prozent. Aber bei den Landtagswahlen in Sachsen-Anhalt hat die Partei bei jungen Menschen schlechter abgeschnitten als die AfD. Was wollen die Grünen tun, um besser in Gegenden anzukommen, in denen sie sich bisher schwertun?
Kurz: Wir müssen uns sehr stark darum kümmern, das Leben der Menschen dort zu verbessern, wo der Weg zur Klimaneutralität krasse Folgen haben wird. Es reicht nicht, zu sagen: Wir müssen ganz schnell klimaneutral werden. Wir brauchen bessere Pläne für die Regionen, in denen zum Beispiel bisher Braunkohle abgebaut wird. Wir müssen Sicherheiten schaffen für die Menschen, die bisher bei Veränderungen hinten runtergefallen sind: Sie müssen ein Recht auf Weiterbildung haben, sie brauchen gute Jobs in neuen Branchen, die auf dem Weg zur Klimaneutralität entstehen werden. Das dürfen wir nicht einfach dem Markt überlassen.
watson: Warum sollten junge Menschen, die in der Lausitz gerade eine Ausbildung im Braunkohlebergbau machen, euch wählen?
Kurz: Ich war kürzlich bei einem Podium der IG BCE, der Gewerkschaft für Bergbau, Chemie und Industrie. Dort haben wir über genau diese Fragen diskutiert. Und wir lagen sehr nahe beieinander. Auch die Beschäftigten in diesen Branchen wissen ja, dass es einen Wandel gibt. Es leugnet ja keiner mehr, dass der Braunkohleausstieg kommt. Die Frage ist: Blocken wir diese Veränderung jetzt ab – und tun so, als wäre es etwas Schlechtes? Dann wird der Wandel plötzlich über die Leute hereinbrechen.
watson: Oder?
Kurz: Oder gehen wir diesen Wandel gezielt an. Und dann ist die Frage, ob die Politik Verantwortung übernimmt und sicherstellt, dass die Lebensqualität der Menschen steigt. Es ist ja nicht nur die AfD – sondern auch weite Teile der Union tun so, als gäbe es diesen Wandel nicht. Dabei steckt ja auch eine Riesenchance drin.
watson: Es ist für viele Menschen schwer, Chancen zu sehen, wenn man den eigenen Job in Gefahr sieht.
Kurz: Nichts schafft so viele Jobs wie Fortschritt und neue Technologien. Man muss den Wandel eben gezielt angehen. Es gibt ja auch positive Beispiele: Die Lausitz war schon mal auf dem Weg dazu, ein Hotspot der Solarindustrie zu werden. Die wurde dann leider von der Bundesregierung sterben gelassen. Und bei den Erneuerbaren Energien geht es um hunderttausende Jobs, nicht um zehntausende wie in der Kohle. Die Deutsche Bahn stellt in der Lausitz gerade ein Instandhaltungswerk auf die Beine: Da entstehen 1200 gute Arbeitsplätze, die kooperieren direkt mit dem Stromerzeuger LEAG, um Leute, die bisher in der Braunkohle gearbeitet haben, dorthin zu transferieren. Als Staat kann man nicht einfach hoffen, dass solche Sachen passieren. Sondern man muss sagen: "Wir haben eine Verantwortung dafür, dass es gut läuft.”
Roth: Das Ganze hat noch eine andere Dimension. Ich habe die Zeit der deutschen Wiedervereinigung nach 1990 erlebt. Ich habe erlebt, wie groß die Hoffnung und die Erwartung vieler Menschen in Ostdeutschland waren, dass im vereinigten Deutschland etwas Gemeinsames, Neues anfängt, mit einem offenen, gleichberechtigten, respektvollen Umgang zwischen West und Ost. Aber so war es halt nicht. Die frühere DDR wurde an die Bundesrepublik angegliedert.
watson: Das ist jetzt über 30 Jahre her.
Roth: Ja, aber der Verlust der Heimat, wie es der Soziologe Wilhelm Heitmeyer mal genannt hat, dieses Gefühl ist geblieben. Ich glaube, das ist tief verankert. Dass man keine Anerkennung, keinen Respekt, nicht mal Neugierde erfahren hat von vielen Westdeutschen. Viele Menschen hatten das Gefühl, plötzlich heimatlos zu sein, nicht mehr dazuzugehören und gebraucht zu werden. Dabei sind das doch die Grundvoraussetzungen für ein demokratisches Miteinander. Die AfD schürt ja bei vielen Menschen in Ostdeutschland dieses Gefühl, Menschen zweiter oder dritter Klasse zu sein. Wir müssen da viel Vertrauen gewinnen und uns öffnen. Und die demokratische Zivilgesellschaft weiter stärken und ausbauen.
watson: Auf die Autoindustrie kommt in den nächsten Jahren auch viel zu. Georg, du kommst aus Bayern, Frau Roth, Sie auch: Sie wissen ja, wie wichtig dort die Jobs in der Autoindustrie sind, bei den Herstellern und den Zulieferern gerade auf dem Land. In anderen Regionen ist das ähnlich. Da drohen viele Jobs wegzufallen. Wie wollen die Grünen Menschen, die in diesen Bereichen arbeiten, von sich überzeugen?
Roth: Es gibt nicht viele Möglichkeiten: Entweder, die Autoindustrie bricht zusammen – oder wir schaffen einen Umbruch, bei dem zwar Arbeitsplätze verloren gehen, aber auch neue entstehen. Wir Grüne sind davon überzeugt, dass es diesen Umbruch braucht und dass wir für die Betroffenen Übergänge in neue Jobs schaffen müssen: durch Qualifizierung und durch Gelder für die Übergangsphasen. Ich habe kürzlich von einer Statistik gelesen, laut der die meisten Ausbildungsplätze für junge Menschen gerade in der Green Economy entstehen. Das ist zukunftsfähig. Von wegen Klimaschutz vernichtet Arbeitsplätze. Und mit Verlaub: There are no jobs on a dead planet.
watson: Aber der Umbruch macht eben vielen Menschen Angst. Weil sie fürchten müssen, ihren Job zu verlieren und damit ihre konkrete Lebensgrundlage.
Kurz: Ja, aber es wissen doch auch die Autokonzerne, dass der Wandel zur Klimaneutralität stattfinden muss. Die Frage ist, ob wir den annehmen und aktiv gestalten. Ob wir für Menschen, die Jobs haben, die es in Zukunft nicht mehr geben wird, Sicherheiten schaffen. Oder ob wir sie alleine lassen, indem wir sie anlügen und sagen: Es geht einfach so weiter. Und ganz ehrlich: Es gibt Menschen, die zu Recht wütend auf die Politik sind, weil sie sich einfach zu wenig darum kümmert.
Roth: Das ist jetzt mein zehnter Bundestagswahlkampf als aktive Grünen-Politikerin und nie habe ich so viele Menschen sagen hören: "So kann es nicht weitergehen." Die Menschen verstehen, dass die Klimakrise real und bei uns angekommen ist. Diese Menschen wollen bewahren, was ihr Leben gut macht. Und um das bewahren zu können, braucht es Veränderung. Armin Laschet will beim Status quo bleiben und sogar die Steuern für diejenigen senken, denen es schon weit überdurchschnittlich gut geht. Olaf Scholz glaubt ernsthaft, dass ein Kohleausstieg im Jahr 2038 ausreicht. Aber die Bereitschaft für richtige Veränderungen war noch nie so groß. Und das ist unsere große Chance.
Kurz: Ich komme ja aus Berchtesgaden, aus der Alpenregion ganz im Südosten Bayerns. Viele der Menschen, mit denen ich dort abhänge, sind Bauern oder Handwerker. Und die merken an ihrer Umwelt, dass sich die Dinge ändern müssen. Landwirte merken, dass sie entweder wachsen müssen, um auf dem Weltmarkt zu bestehen – oder aufgeben. Sie sehen um sich herum, dass die Gletscher schmelzen und die Natur sich verändert.
watson: Frau Roth, Sie waren ja schon 1990 bei den Grünen, als sie mit dem Spruch "Alle reden von Deutschland, wir reden vom Wetter" Wahlplakate zum Klimawandel gemacht haben – lange, bevor das politisch angesagt war. Wie sehr schmerzt sie es, dass heute die Linken ein ambitionierteres Klimaziel im Wahlprogramm haben? Die Partei will schon 2035 die Klimaneutralität erreichen.
Roth: Na ja, irgendwelche Zahlen in die Welt zu pusten, darauf kann ich verzichten. Die Linke ist in den Landesregierungen in Sachen Klimaschutz ungefähr so konservativ wie Armin Laschet. Allein in Brandenburg waren die Linken nicht gerade Vorreiter, was den Kohleausstieg angeht. Ja, wir brauchen radikale Klimapolitik – aber wir brauchen dann auch Konzepte dafür, sie umzusetzen.
watson: Und die haben die Linken nicht?
Roth: Die Linken hauen Sprüche und irgendwelche Zahlen raus – aber wo ist denn deren Konzept für eine andere Verkehrspolitik? Für eine andere Landwirtschaft? Für einen andern Städtebau? Mir macht aber etwas ganz anderes große Sorgen.
watson: Was meinen Sie?
Roth: Erstens: Wie gehen wir mit den Erwartungen um, die Leute an uns haben werden, wenn wir in die nächste Bundesregierung kommen? Ich habe ja selbst nach 1998, in der ersten rot-grünen Bundesregierung, erlebt, wie es viele genervt hat, dass der Atomausstieg so lange dauert. Zweitens, und das macht mir wirklich riesige Sorgen: Selbst wenn wir 100 Prozent Grüne wären im nächsten Bundestag, könnten wir möglicherweise gar nicht alles tun, das nötig wäre, um der Klimakrise wirklich etwas entgegenzusetzen. Die Verweigerungshaltung der Großen Koalition der letzten Jahre macht die kommenden Herausforderungen, der Radikalität des Realen gerecht zu werden, wahnsinnig schwierig.
watson: Es gibt auch die Furcht davor, dass sich die Klimaschutzbewegung radikalisiert. Wie blickt ihr denn auf eine Bundesregierung mit grüner Beteiligung, Georg? Wie brav werdet ihr als Grüne Jugend sein, wenn ihr mit den Kompromissen, die die nächste Koalition schließt, nicht einverstanden seid?
Kurz: Wir werden auch mit Grünen an der Regierung Druck und Rückhalt aus der Zivilgesellschaft brauchen. Wir stehen vor nie dagewesenen Veränderungen, die auch auf Widerstand stoßen werden bei denen, die es am liebsten so lassen würden, wie es ist. Es wird heftige Angriffe auf Grüne geben, es wird überall Leute geben, die versuchen, diesen Wandel aufzuhalten. Und es wird auch heftige Kritik geben von denen, die sagen: "Ihr macht nicht genug." Es wird darauf ankommen zu erkennen, wer blockiert – und wer Veränderung will. Und die, die Veränderung erreichen wollen, müssen sich zusammentun und gemeinsam Druck machen.
watson: Werdet ihr als Grüne Jugend weiter auf die Straße gehen, auch mit Fridays for Future, wenn die Grünen Teil der Bundesregierung sind?
Kurz: Ich sehe keine Alternative dazu. Es wird natürlich weiter darum gehen, gemeinsam Druck für Veränderung zu machen.
Roth: Wir brauchen die Grüne Jugend auch im Kampf gegen eine Pandemie, die neben Covid-19 um sich gegriffen hat: den Nationalismus. Wie bescheuert Nationalismus ist, kann man jetzt in der Corona-Pandemie sehen, wo die Nationalisten sagen: Hauptsache, wir machen die Grenzen hoch und verlangen vom Virus ein Visum. Das ist Blödsinn, weil die Pandemie, genauso wie der Klimawandel nur global bekämpft werden kann. Ich weiß, dass die Grüne Jugend unglaublich stark international vernetzt ist. Und das brauchen wir unbedingt.
watson: Frau Roth, Sie erzählen in Interviews immer wieder mal von ihrer Anfangszeit bei den Grünen, im Bayern der 1980er Jahre. Von den Anfeindungen als "Ökospinner" und "Kommunisten" und noch schlimmerem. Sind Sie manchmal neidisch auf die jungen Grünen von heute, die jetzt zu einer bürgerlichen Partei gehören, zum Establishment?
Roth: Huj, da haben Sie jetzt aber den Klischee-Turbo angeworfen. Ja ja, ich bin das typische Beispiel der gesellschaftlichen Mitte und des Establishments.
watson: Na ja, Frau Roth, Sie sind Vizepräsidentin des Bundestags.
Roth: Ja, was hat sich Deutschland verändert, wenn so jemand wie ich Vizepräsidentin des Bundestags sein kann, oder?
watson: Genau. Sind Sie neidisch, dass Sie viele Kämpfe führen mussten – und die jungen Grünen von heute die Früchte davon ernten?
Roth: Nein, ich bin überhaupt nicht neidisch. Ich weiß schon, was es geheißen hat, damals "Ratten" und "Schmeißfliegen" genannt zu werden. Aber die Grüne Jugend ist heute noch viel dramatischer als ich mit der Überlebensfrage konfrontiert. Und ich frage mich jetzt: Waren wir, meine Generation der Grünen, laut genug? Haben wir vehement genug gesagt, dass die Klimakrise zur Überlebensfrage geworden ist? Und ich sage selbstkritisch: Wir waren uns lange Zeit zu sicher, dass unsere Demokratie einfach funktioniert: Unser Grundgesetz, unsere Freiheitsrechte, das bleibt jetzt so. Super so 'ne Demokratie, die einfach da ist. Ich glaube, wir waren uns viel zu wenig bewusst darüber, dass diese Demokratie nicht immun ist und jeden Tag aufs Neue verteidigt und gestaltet werden muss.
watson: Wie meinen Sie das genau?
Roth: Besonders die jungen Menschen sind heute der Tatsache ausgesetzt, dass wir Demokratiefeinde und Rechtsstaatsverächter in unseren Parlamenten sitzen haben. Dass Menschen in unserem Land Angst haben, weil sie Jüdinnen oder Muslime sind, weil sie LGBTIQ, Sinti oder Roma oder Menschen mit Behinderung sind. Ich war kürzlich in Köln beim Christopher Street Day, ich durfte wieder bei der Abschlussveranstaltung reden und hab' dort einen Satz gesagt, der eigentlich nichts Besonderes, aber für mich der allerschönste ist: Die Würde des Menschen ist unantastbar. Und es gab tosenden Applaus dafür.
watson: Für den Satz, der am Anfang des Grundgesetzes steht.
Roth: Genau. Das war vor ein paar Jahren noch nicht so. Junge Menschen erleben eine Welt, in der die Würde des Menschen angetastet wird: durch Sexismus, durch die Klimakrise, durch soziale Spaltung. Also nein, ich bin überhaupt nicht neidisch auf die Grüne Jugend. Ich sage vielen jungen Menschen nur: Seid nicht bescheiden! Ich kann nur sagen, in meinem hohen Alter – das man ja auch daran merkt, dass Sie mich hier siezen – ich werde die jungen Leute so lange unterstützen, wie ich die Kraft dazu habe.
Kurz: Es geht ja auch bei all den Konflikten gar nicht um Kämpfe zwischen Generationen. Sonst müsste ich ja hier mit Philipp Amthor gegen Claudia und Jürgen Trittin kämpfen. Bullshit, es ist offensichtlich nicht so. Es geht um die Frage, für wen eigentlich Politik gemacht wird: für Reiche oder für die ganze Gesellschaft? Ob weiterhin das Klima zerstört wird, auf Kosten der Mehrheit, für die Gewinne von einigen wenigen. Es geht um die Frage von unten gegen oben, das hat mit Generationen relativ wenig zu tun. Ja, viele junge Menschen erleben manche Dinge viel heftiger an ihrem eigenen Leib und sind deswegen vielleicht politischer als früher. Aber das ist keine Generationenfrage, sondern eine Frage der Gerechtigkeit.