I Donald John Trump do solemnly swear that I will faithfully execute the Office of President of the United States ...: Der Gedanke eines zweiten Amtseids des Mannes im Weißen Haus treibt Millionen Amerikanern den Schweiß aus den Poren. Vom Normaleuropäer nicht zu reden.
Bevor Donald Trump am 20. Januar 2021 ein zweites Mal vereidigt werden kann, muss er am 3. November 2020 die Wahlen gewinnen – so sie denn nicht verschoben werden. Zwar schreibt das Gesetz sie "am Dienstag nach dem ersten Montag im November" vor. Aber was ist, wenn im Oktober eine zweite, noch schlimmere Corona-Welle das Land ergreift?
Die Briefwahl, wie sie in der in einigen Ländern gang und gäbe ist, kennen in den USA nur gerade vier Staaten. Der Rest muss zur Urne oder kann allenfalls einen absentee ballot wegen Ortsabwesenheit anfordern. Da reichen die Bedingungen von "unkompliziert" bis "extrem schwierig". Es gibt eine breite Bewegung, die Briefwahl zu erleichtern, doch sie wird von Trumps Republikanern vehement bekämpft. Man weiß, dass die Briefwahl die Wahlbeteiligung steigert, und das bedeutet mehr Wahlzettel von Schwarzen und Hispanics, was wiederum der Demokratischen Partei zugutekommt.
Offensichtlich bestimmen die Corona-Pandemie und die damit einhergehende schwere Wirtschaftskrise die Ausgangslage. Die Zahl der neuen Ansteckungen und der täglichen Todesfälle geht zwar zurück, aber die nun einsetzenden Lockerungen beim Lockdown werden sich in einem neuen Anstieg niederschlagen. Wie hoch und wie stark, ist ungewiss. Zu berücksichtigen ist, dass die USA vom Virus unterschiedlich betroffen sind, und wahlpolitisch bedeutsam könnte werden, dass der weitaus größte Teil der Ansteckungen auf die Metropole New York – Feindbild alles Konservativen – zurückgeführt werden können.
Als sicher ist anzunehmen, dass Arbeitslosigkeit, Konkurse und Konsumschwäche ansteigen wie nie seit den 1930er Jahren. Ob dies so für "die Wirtschaft" gilt, ist weniger gewiss. Die Börse zum Beispiel hat sich vom Corona-Schlag erstaunlich rasch erholt, und die Börse ist auch für die middle class wichtig, weil sie dort ihr Geld für den Lebensabend parken muss (es gibt in den USA keine zweite Säule).
Beginnen wir mit ein paar Binsenwahrheiten, die auch im Corona-Jahr gelten:
In den allermeisten – nicht ganz allen – derzeitigen Umfragen liegt der Demokrat Joe Biden vor Trump. Im Aggregat von realclearpolitics.com sind es fünf Prozentpunkte. Aber die von derselben Quelle erfasste Wettquote hat Trump mit 52:42 vorn. Bemerkenswert: Trumps Wahlchancen werden deutlich höher gemessen als seine persönliche Beliebtheit.
Ein kurzer Telefoncheck ergibt kein eindeutigeres Bild. Es ist schwer zu sagen, wie groß das Interesse an der Wahl hier und heute ist. Nobody gives a frickin’ wahoo, sagt eine Dame aus New York, wo das Corona-Risiko weiterhin alles in den Hintergrund drängt. "Das ist alles, worüber meine Freunde sprechen", sagt eine Mittelwestlerin. "Das und Covid-19. Alle diskutieren, wie man Trump auf die bestmögliche Weise los wird." Beide sind als independent, als unabhängige Wähler, registriert.
Und wer wird gewinnen? "Es hängt davon ab, wo man fragt", sagt Randy Steinman, ein professioneller Kampagnen-Organisator aus Kansas. "In den blauen, demokratisch dominierten Staaten glauben die Leute, dass Trump verliert, in den roten, republikanisch dominierten umgekehrt. Ich selbst beginne langsam, ein bisschen Bewegung zu spüren. Ich glaube, es ist möglich, dass Trump besiegt werden kann."
Joe Biden ist 77 Jahre alt, drei Jahre älter als Trump. Ein Greis, und man merkt es. Sollte Biden den Amtseid schwören, wäre er 78 – wie die durchschnittliche Lebenserwartung des amerikanischen Mannes und gleich alt wie der bisher älteste US-Präsident beim Abschied aus acht Amtsjahren. Er bezeichnet sich nun als "Übergangskandidat, der den Mayor Petes dieser Welt den Weg in meine Regierung ebnet". "Mayor Pete" Buttigieg war der jüngste seiner innerparteilichen Konkurrenten. Mit dieser Aussage will Biden also einen Generationswechsel während seiner Regierungszeit signalisieren.
Ganz ähnlich hält Biden es mit den Frauen. Er hat sich darauf festgelegt, eine Frau als seine Vize-Kandidatin (running mate) auszuwählen.
Auf dem Papier sehen die Dinge gut aus für Biden. Wenn es der großen Masse wirtschaftlich schlecht geht, stehen die Chancen für den Herausforderer gut und jene des Amtsinhabers schlecht. Wenn der Amtsinhaber in einer nationalen Krise versagt wie die Trump-Regierung im Fall Corona (oder George W. Bush beim Hurrikan "Katrina"), rinnt Wasser auf die Mühle des Herausforderers.
Es kommt hinzu, dass Biden kein Antipathieträger ist wie vor vier Jahren Hillary Clinton. Er ist eine bekannte Größe, sage und schreibe seit 47 Jahren Berufspolitiker, kennt Washington in- und auswendig, rühmt sich guter Beziehungen zur anderen politischen Seite, ist weltweit vernetzt – die Verkörperung des politischen Establishment, oder der "Elite", wie es heute heißt. Als Hauptziele seiner Präsidentschaft nennt er die Überwindung der politischen Blockade im Inland und die Wiederherstellung des Vertrauens in die amerikanische Führungsrolle im Ausland.
Aber Biden stehen einige schwer wägbare Faktoren im Weg:
Im Augenblick scheinen die Demokraten sich darauf zu konzentrieren, Trumps Versagen in der Corona-Krise anzuprangern und ihm die Schuld an den Zehntausenden Corona-Toten zuzuschreiben. Ex-Präsident Barack Obama nannte Trumps Vorgehen vor einigen Tagen ein "absolut chaotisches Desaster" – außergewöhnlich scharfe Worte eines Ehemaligen für einen Nachfolger. Aber "Schuldzuschreibungen haben ein kurzes Ablaufdatum", sagt Kampagnen-Fachmann Randy Steinman. "Eine nationale Partei kann ihre Wahlaussage nicht darauf beschränken." Er vermutet, dass ein wesentlicher Bestandteil des demokratischen Wahlprogramms aus Geld bestehen wird: Erlass von Schulgeld-Schulden für College-Studenten, Moratorien für Hypotheken und Mieten, mehr Geld für Arbeitslose.
Programmatische Aussagen sind das eine, Mobilisation und Kommunikation sind das andere. In diesem Bereich hinkt Bidens Kellervideo-Kampagne der Konkurrenz weit hinten nach. David Axelrod und David Plouffe, die Zampanos der erfolgreichen Obama-Kampagnen, haben vor einigen Tagen scharfe Kritik geübt. Sie fordern massive Aufrüstung im Bereich der digitalen Medien: In der Covid-19-Welt, schrieben sie in der "New York Times", seien Youtube, Facebook, Twitter, Instagram, Snapchat und Tiktok "nicht ein Teil der Kampagne, sondern in weiten Teilen die Kampagne selbst".
Sie weisen darauf hin, dass Trumps Organisation diese Medien hochprofessionell nutze und die digitale Anhängerschaft "des ersten Twitter-Präsidenten" 15 Mal größer sei als jene des Demokraten. Biden müsse schneller, witziger und frecher agieren, und er solle digitale politische Versammlung nach dem Vorbild von "One World: Together at Home" organisieren. Vor allem müsse Biden als Herausforderer "mehr wie ein Aufständischer daherkommen". Das ist viel verlangt von einem alten Mann, der sein Leben als Profi im "System" zugebracht hat.
Der Aufständische war vor vier Jahren Donald Trump: Ein Mann "der Wirtschaft" (Millionenerbe, Mehrfach-Bankrotteur), unerfahren in Politik und im Militär (dem Vietnamkrieg dank eines "Knochensporns im Fuß" entgangen). "Für die Wähler in der Mitte war das sehr attraktiv", sagt Politikwissenschaftler Patrick Miller. "Jetzt werden wir sehen. Es ist schwieriger, am Bühnenrand zu stehen und mit Schimpfworten um sich zu werfen, wenn man die Show vier Jahre geleitet hat." Trumps Strategie in der Coronakrise ist offensichtlich. Er sagt – sagte es öffentlich – "ich kann nichts dafür", schiebt die Verantwortung für Lockerungsmaßnahmen auf die Gliedstaaten-Gouverneure, signalisiert mit seinem Verhalten Unterstützung für die wachsenden Proteste gegen die Lockdowns und posiert als Retter der untergehenden Wirtschaft.
Er wird die sozialstaatlichen Vorschläge der Demokraten als Abwürgen des freien Unternehmertums und antiamerikanischen "Sozialismus" attackieren – alles gewürzt mit Hass auf Ausländer: An der Coronakrise ist China schuld, beschützt von den multilateralen Institutionen, und die beste Abwehr ist Abschottung gegen außen. Wie weit dies in der Wählerschaft verfängt, ist fraglich. Vor dem schnellen Urteil empfiehlt es sich jedoch, vom hohen europäischen Ross hinabzusteigen. Im Schweizer Mittelland hallen viele Trump-Argumente als deutliches Echo: China ist schuld; die Globalisierung ist schuld; die Grenzen müssen zu; die Wirtschaft geht an den Corona-Maßnahmen zugrunde; die Freiheit des einzelnen wird unziemlich beschnitten.
Es gibt Anzeichen, dass die Republikanische Partei als Ganzes ob des bizarren Verhaltens von Trump nervös wird. Republikanische Parlamentskandidaten suchen Trumps Nähe nicht unbedingt, eine Umfrage hat soeben ergeben, dass die Ü65-Wählerschaft – das sind diejenigen, die am zuverlässigsten zur Wahl gehen – Joe Biden mehr mag als seinen Gegner. Doch Umfragen sind Umfragen und die Wahl ist weit weg. Viel Aufhebens wird zurzeit um das "Lincoln Project" gemacht. Das ist eine Handvoll im konservativen Kosmos gut vernetzter Männer, Republikaner allesamt, einer davon der Ehemann von Trump-Adjutantin Kellyanne Conway.
Sie haben sich der Abwahl von Trump verschrieben und rufen mit hehren Worten ("Patriotismus", "Überleben unserer Nation") zur Wahl Bidens auf. Die vier haben eine Fernsehanzeige "Mourning in America" geschaltet – Trauer in Amerika, dem Wahlkampfspot "Morning in America" von Ronald Reagan nachempfunden. "Unter der Führerschaft von Donald Trump ist unser Land schwächer, kränker und ärmer geworden", wird da intoniert. "Wird es noch ein Amerika geben, wenn wir vier weitere Jahre haben?" Die Trump- Gegner lecken die Lefzen, aber Politikwissenschaftler Miller wiegelt ab: "eine Anekdote".
Eine ganze Menge Faktoren sprechen für Donald Trump.
Es ist nicht so, dass Trumpisten allesamt Corona-Leugner wären. Ich kenne welche, die sich der Risiken bewusst sind und durchaus Vorsicht walten lassen. Aber die Rechnung "Corona-Tod gegen Wirtschaftskollaps", die nun überall aufgemacht wird (auch in der Schweiz), geht bei diesen Leuten anders auf. Ein Beispiel ist eine Dame in Virginia, Trump-Wählerin. Sie teilt die Kritik an Trumps Rolle in der Corona-Krise und zeigt Verständnis für die Haltung, dass wirtschaftliche Rücksichten gegenüber der Rettung eines Menschenlebens zurückstehen sollten.
Aber sie wird Trump wählen. "Er ist nicht perfekt, aber für mich ist die Abtreibungsfrage das wichtigste Kriterium", sagt sie. "Ich höre, dass jedes Menschenleben zählt. Ok, aber was ist dann mit den Abtreibungen? Die Demokraten wollen Abtreibungsfreiheit bis zum Ende der Schwangerschaft. Also wähle ich Trump." So wird im Wahlkampf argumentiert werden: Du setzt die Todgeweihten mit den noch nicht Geborenen gleich, und das Trump-Kalkül ist geschluckt.
Eine Unbekannte ist die Möglichkeit einer Drittparteien-Kandidatur, wie sie 2016 die Grüne Jill Stein präsentierte (und wesentlich zu Trumps hauchdünnen Siegen im Mittleren Westen beitrug). Diesmal könnte sie vom Kongressabgeordneten Justin Amash, einem Spross christlich-arabischer Einwanderer aus Michigan, kommen. Er hat die Republikanische Partei verlassen und überlegt sich eine Kandidatur für die Libertarian Party. Das sind Anhänger eines schrankenlosen Glaubens an den freien Markt, gekoppelt mit Abscheu vor allem Staatlichen und ohne Rücksicht auf religiöse oder ethische Überzeugungen – eine Art Marktfetischisten ohne Herz. Wie viel Pferdestärken Amash auf die Straße bringt, und ob überhaupt, wird sich erst zeigen. Politikwissenschaftler Miller weist darauf hin, dass Drittkandidaturen nicht immer das Zünglein an der Waage spielen, sondern oft aus beiden Lagern Stimmen abziehen.
Geht es darum, möglichst viele Menschenleben zu schützen und wirtschaftliche Interessen in zweiter Linie zu berücksichtigen? Oder geht es in erster Linie um den Fortbestand von Unternehmen und Arbeitsplätzen unter Inkaufnahme von Corona-Toten? Stützt sich die Volkswirtschaft zuerst auf eine stabile Infrastruktur, ein starkes Bildungssystem und ein effizientes Gesundheitswesen? Oder müssen in erster Linie die unternehmerische Freiheit und "der Markt" offen gehalten werden? Hat die Regierung die Verantwortung, die Bürger zu schützen, oder steht die Eigenverantwortung des einzelnen höher als der Bestand des Ganzen? Soll der Staat die Reichsten höher besteuern, um die Arbeitslosen, Obdachlosen, Kranken mit Geld zu unterstützen, oder soll er die Steuern senken, um "die Bürger zu entlasten"?
An solchen Fragen wird sich die Corona-Wahl entscheiden. Gewinnen wird, wer den Diskussionsrahmen bestimmt und wessen Darstellung der Dinge die Entscheide der Unentschlossenen leitet. "Narrativ" heißt das neuerdings, oder "Story": Das sinnstiftende Märchen, dem eine Mehrheit im entscheidenden Augenblick Glauben schenkt.
So weit sind wir bei weitem nicht. Die politischen Märchen nehmen erst jetzt Gestalt an. "Diese Wahl ist ein Münzwurf", sagt Politikwissenschaftler Patrick Miller. "Trump ist nicht zur Niederlage verdammt. Es ist durchaus möglich, dass er wiederum die Stimmenmehrheit verliert und im electoral college gewinnt."