Brasilien weist im Verhältnis zu seiner Einwohnerzahl eine kleine Anzahl Corona-Fälle aus – laut den offiziellen Zahlen. Die Realität sieht jedoch weniger rosig aus. Die Dunkelziffer ist hoch und die Fallzahlen steigen rasant.
Dazu sorgt die lapidare Haltung von Präsident Jair Bolsonaro für Ärger in der Bevölkerung. Er redet die Gefahr klein und sorgt gar selber für Massenansammlungen.
Nun erlebt das Land, was es bedeutet, wenn der eigene Präsident Corona unterschätzt.
Beginnen wir mit den gemeldeten Corona-Fällen insgesamt, ohne Rücksicht auf Ländergrößen oder Testkapazitäten zu nehmen.
Steiler als die brasilianische Kurve der Fallzahlen steigt nur diejenige in Russland. Doch es gibt einen wichtigen Unterschied: In Russland wurde in den letzten Tagen massiv mehr getestet als in Brasilien. Mehr dazu weiter unten bei Punkt 4.
Auch bei den Neuansteckungen pro Tag ist vor allem eines festzustellen: Die Kurve zeigt rasant nach oben. In den letzten fünf Tagen ist sie förmlich explodiert. So wurden nun schon erstmals über 10.000 neue Fälle täglich gemeldet.
Die beiden oberen Kurven zeichnen ein dramatisches Bild der Lage in Brasilien. Setzen wir die Zahlen ins Verhältnis zu den Einwohnern, sieht es für den Rund-200-Millionen-Staat aber vorerst noch deutlich besser aus. Die Zunahme ist geringer als in Russland. In den nächsten Tagen ist allerdings eine deutliche Verschlechterung zu erwarten.
Die Anzahl Tests ist in Brasilien sehr gering. Rund 340.000 wurden laut Worldometer durchgeführt (Stand Donnerstag). Gerechnet auf eine Million Einwohner sind das rund 1600.
Damit befindet man sich zwar in ähnlichen Dimensionen wie andere südamerikanische Länder, europäische Länder hingegen führten 30.000 bis 40.000 Tests pro Million Einwohner durch, in Russland sind es aktuell 34.000. Die Dunkelziffer dürfte also massiv höher sein.
Das zeigen auch die Todeszahlen aus Brasilien – aktuell rund 600 Tote pro Tag. Das Portal G1 schreibt vom "schlimmsten Tag" – doch dieser dürfte kaum schon erreicht sein. Mit total 9188 Toten liegt Brasilien weltweit bereits an sechster Stelle.
Präsident Jair Bolsonaro nahm das Virus zu Beginn überhaupt nicht ernst. Er verspottete es als "kleine Grippe", Erfindung der Medien und "Hysterie". Zwischenzeitlich wurde er zweimal auf das Coronavirus getestet, beide Tests fielen negativ aus – allerdings zeigte er das Testresultat nicht öffentlich, was ihm Kritik einbrachte. Am Mittwoch wurde entschieden, dass er dieses zeigen müsse. Das ist bisher noch nicht passiert.
Auch jetzt will Bolsonaro nichts von Maßnahmen wissen, sondern fordert eine Rückkehr zur Normalität. "Brasilien darf nicht stillstehen!", fordert der rechtspopulistische Präsident. An Abstandsregeln mag er sich nicht halten.
Für Aufsehen sorgte auch Bolsonaros Reaktion auf die Frage eines Journalisten, der ihn vor einer Woche zu den dramatischen Fallzahlen in Brasilien fragte: "Und? Es tut mir leid. Was soll ich tun? Ich bin Messias, aber ich vollbringe keine Wunder." Messias ist Bolsonaros zweiter Vorname.
Seinen Gesundheitsminister entließ Bolsonaro am 16. März aufgrund Meinungsverschiedenheiten.
Staatliche Maßnahmen gibt es wenige. Ausländer dürfen bis Ende Mai nicht einreisen. Ansonsten handelten vor allem die Bundesstaaten oder einzelne Städte. Schulen wurden geschlossen, teilweise gilt Maskenpflicht. Einige Staaten wollen den kompletten Lockdown ausrufen.
Auf die Ausgangsbeschränkungen in einigen Teilen protestierten Anhänger Bolsonaros auf den Straßen. Für viele Einwohner sind Quarantäne-Maßnahmen heftig, da sie oft von der Hand in den Mund leben.
Das Gesundheitssystem in Brasilien war vielerorts schon vor der Pandemie nicht im besten Zustand – jetzt werden die Mängel täglich offensichtlicher. Dazu trägt auch die Misswirtschaft dieser Institutionen in den letzten Jahren bei.
Diverse Krankenhäuser und Friedhöfe agieren in diversen Städten und Bundesstaaten an ihren Grenzen oder sind schon kollabiert. Teilweise werden Massengräber geschaufelt.
Der neue Gesundheitsminister Nelson Teich erklärte allerdings am in dieser Woche, dass Forderungen nach Notkliniken in der Region Manaus im Regenwald übertrieben seien. Die Stadt ist aktuell wohl die am schlimmsten betroffene des Landes. Teich versprach der Region immerhin 267 medizinische Mitarbeiter zur Unterstützung, sowie Schutzmaterial.
Die Abholzung und (gelegten) Waldbrände im Regenwald Brasiliens nahmen durch die Coronakrise massiv zu. Im Vergleich zu den ersten drei Monaten 2019 um satte 50 Prozent. Von der Fläche her entspricht dies ungefähr eineinhalb Mal dem Bodensee.
Wie das "Diário Oficial", eine Art Amtsblatt, am Donnerstag schreibt, sei dies drei Monate früher der Fall als noch im letzten Jahr. Nun soll die Armee helfen. Der Einsatz ist von 11. Mai bis 10. Juni in den neun Bundesstaaten des Amazonasgebiets vorgesehen und kann wie im vergangenen Jahr auf bis zu 60 Tage ausgeweitet werden. Umweltschützern zufolge kann die Anwesenheit der Streitkräfte die illegale Zerstörung des Waldes kurzfristig eindämmen. Aber sie warnen auch, dass die Armee nicht die Arbeit der Umweltbehörden ersetzen könne.
Bolsonaro steht in der Kritik, weil ihm vorgeworfen wird, er habe das politische Klima geschaffen, in dem sich Holzfäller, Goldsucher, Bauern und andere Eindringlinge in geschützte Gebiete zu immer mehr Abholzung und Brandrodung ermutigt sehen. Der Staatschef hat immer wieder klargemacht, dass er die Amazonasregion vor allem mit ungenutztem wirtschaftlichem Potenzial verbindet. Seit seinem Amtsantritt im Januar 2019 hat er deshalb die Umweltbehörde wie auch die Indigenen-Behörde gezielt geschwächt, das Personal und die Kontrollen sind weniger geworden. Durch die Covid-19-Pandemie hat sich diese Entwicklung noch verstärkt.
Besonders betroffen sind davon auch Ureinwohner, in deren Gebiete immer mehr eingedrungen wird und die meist ein anderes Immunsystem haben als wir.
Besonders prekär ist die Lage zudem in Favelas. In den Armensiedlungen großer Städte ist Social Distancing ein Ding der Unmöglichkeit. Zudem gab es Berichte von unsauberem Wasser in verschiedenen Orten.
Wie auch in anderen Ländern gilt in Brasilien: Die Ärmsten trifft diese Krise deutlich härter als andere Gesellschaftsschichten.