Mal sind es einige Dutzend, mal mehrere Hundert – an den griechischen Inseln im Osten der Ägäis kommen derzeit fast täglich Migranten und Flüchtlinge auf der Suche nach einem besseren Leben an. Mit kleinen Booten legen sie an der türkischen Westküste ab und machen sich auf den Weg zu den nahe gelegenen Inseln Lesbos, Samos oder Kos.
Und mit ihnen stellt sich die Frage, ob einer der Grundpfeiler der europäischen Migrationspolitik gescheitert ist. Ein Pfeiler, den die angehende EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen gerade erst "wichtig und komplex" nannte.
War es das mit dem Abkommen zwischen der Europäischen Union und der Türkei?
Fast dreieinhalb Jahre ist es her, dass dieser Deal mühsam verhandelt wurde:
Das Abkommen zeigte zunächst Wirkung – und beruhigte die Lage auf den griechischen Inseln etwas. Mittlerweile kommen aber wieder deutlich mehr Menschen. Seit April steigt die Zahl der ankommenden Migranten.
Alle Versuche, die Situation zu entschärfen, scheitern bislang. Die im Juli abgelöste linke griechische Regierung von Alexis Tsipras entlastete die Camps zwar punktuell, indem sie einige Tausend Migranten zum Festland brachte. Vor allem die Bearbeitung der Asylanträge und das Abschieben jener, die nicht asylberechtigt sind, dauert nach Ansicht der EU-Kommission aber viel zu lange. Zu wenig Personal, argumentierte die Tsipras-Regierung.
Teils reisten Asylbearbeiter, die aus anderen EU-Staaten zur Hilfe gekommen waren, wegen schlechter Arbeitsbedingungen allerdings auch unverrichteter Dinge wieder ab. Am Mittwoch trat der Leiter des viel kritisierten Registrierlagers von Moria auf Lesbos, Giannis Balbakakis, zurück.
Die neue konservative Regierung unter Premier Kyriakos Mitsotakis gelobt Besserung – und behauptet, ihre Vorgänger hätten Flüchtlinge aus ideologischen Gründen nur schweren Herzens zurück in die Türkei geschickt. Nach Angaben der EU-Kommission mussten bis März 2019 nur gut 2400 Syrer zurück in die Türkei. EU-Staaten hätten hingegen bereits mehr als 20.000 schutzbedürftige Syrer direkt aus der Türkei aufgenommen.
Dort jedoch dreht sich der Wind. Seit Beginn des Bürgerkriegs in Syrien 2011 hat die Türkei mehr als 3,6 Millionen Geflüchtete aus dem Nachbarland aufgenommen, mehr als jedes andere Land der Welt. Nun erhöht die Regierung den Druck auf die Flüchtlinge, die der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan einst als "Gäste" willkommen geheißen hatte – unter anderem wegen der schlechten wirtschaftlichen Lage. Die jahrelang geduldete Praxis etwa, dass Syrer, die nicht in Istanbul registriert sind, dennoch in der Millionenmetropole leben, wird nicht mehr akzeptiert, die betroffenen Flüchtlinge müssen die Stadt verlassen. Das jedoch stellt viele vor existenzielle Probleme.
Erdogan versucht, innenpolitisch zu punkten. Jüngst drohte er der EU, die Grenzen für Flüchtlinge zu öffnen, sollte die Türkei nicht mehr finanzielle Unterstützung erhalten.
Erdogan fühlt sich alleingelassen und hat immer wieder beklagt, Hilfsgelder würden nur schleppend ausgezahlt. Ein Angriff auf die EU in Sachen Flüchtlinge kommt beim heimischen Publikum an.
Tatsächlich könnte der Türkei ein neuer Flüchtlingsandrang drohen. In den vergangenen Wochen eskalierten die Kämpfe um Syriens letztes großes Rebellengebiet Idlib, das an die Türkei grenzt. Syrische Regierungstruppen rückten gegen die Rebellen vor. In dem Gebiet leben rund drei Millionen Flüchtlinge.
Sollten die Truppen von Syriens Präsident Baschar al-Assad weitere Gebiete einnehmen, könnten die Menschen versuchen, in die Türkei zu kommen – und von dort in die EU. Schon vor Tagen demonstrierten Syrer an der Grenze und verlangten von der Türkei, diese zu öffnen. Statt neue Flüchtlinge aufzunehmen, will Erdogan sie in einer sogenannten Sicherheitszone in Nordsyrien ansiedeln. Mit den USA verhandelt er gerade über die Einrichtung einer solchen Zone.
Ganz allein lässt die EU die türkische Regierung nicht. Sechs Milliarden Euro sagte die Staatengemeinschaft der Regierung in Ankara für die Jahre 2016 bis 2019 für die Versorgung von Flüchtlingen zu. Davon seien bereits 3,5 Milliarden Euro vertraglich vergeben und 2,4 Milliarden ausgezahlt worden, teilte die EU-Kommission jüngst mit. Ausgezahlt wurden davon nach Angaben der Behörde 2,4 Milliarden. Mehr als 80 Projekte seien angelaufen.
Drohungen aus Ankara, überfüllte Lager auf griechischen Inseln, kaum Abschiebungen in die Türkei. Platzt das Abkommen zwischen der EU und der Türkei also bald?
Die EU-Kommission beantwortet diese Fragen gewohnt nüchtern: "Wir glauben daran, dass wir die Arbeit mit unseren türkischen Partnern in gutem Vertrauen fortsetzen können", heißt es auf Anfrage. Dennoch nehme man die hohe Zahl ankommender Migranten auf Lesbos mit Sorge zur Kenntnis. Zugleich stellt die Brüsseler Behörde klar: Im Vergleich zur Zeit vor dem EU-Türkei-Abkommen handele es sich nur um einen Bruchteil.
Auf diese Zahlen verweist auch Migrationsforscher Gerald Knaus, der das EU-Türkei-Abkommen 2016 mitentwickelt hat. Ja, im August seien mehr Menschen gekommen als in jedem Monat seit März 2016. Doch die Gesamtzahl 2019 sei bislang noch immer halb so hoch wie allein im Februar 2016. Zugleich handele es sich nur um ein vernachlässigbare Größe, wenn man bedenke, dass in der Türkei rund 3,6 Millionen Syrer Schutz bekämen.
Die Vorstellung, die Türkei habe ihre Grenzen bereits geöffnet, sei absurd, sagt Knaus. "Wir haben es mit einem Wachstum zu tun, und das ist ein ernstes Zeichen. Aber die Situation ist noch nicht außer Kontrolle." Noch gebe es die Chance, das Abkommen zu retten. Dazu müsse es dringend einen Plan zur Unterstützung der griechischen Behörden geben.
Asylanträge müssten innerhalb weniger Wochen bearbeitet und Migranten dann zeitnah zurück in die Türkei geschickt werden, sagte Knaus. Dabei sollten die griechischen Behörden Hilfe etwa von erfahrenen deutschen, französischen oder niederländischen Asylbearbeitern bekommen. Mit Blick auf das Abkommen sagte Knaus weiter: "Wenn es zusammenbricht, dann wegen des Scheiterns auf den griechischen Inseln."
(ll/dpa)