Nach dem brutalen Überfall der islamistischen Hamas auf Israel am 7. Oktober herrschte Fassungslosigkeit. Weltweit. Nicht nur wegen der Brutalität der Terroristen, die wahllos Menschen bei dem Todeszug niedergemetzelt, gefoltert oder verschleppt haben.
Schockiert haben auch die Bilder der Kämpfer, die ungehindert in das Land eindrangen. Wie konnte Israel so von einem massiven Angriff überrascht werden? Ausgerechnet Israel, das Land mit dem besten Raketenabwehrsystem. Das Land, dessen Militär als eines der stärksten der Welt galt?
Offenbar ist einiges schiefgelaufen. Nun erheben Soldatinnen schwere Vorwürfe. Demnach hatten sie eindringlich und mehrfach gewarnt, auch noch in der Nacht vor der Attacke – wurden aber ignoriert. Ihren Berichten zufolge wussten sie genau, was passieren würde.
In der israelischen Armee gibt es einen Job, der quasi nur von Frauen gemacht wird. Auf Hebräisch heißt er "Tatzpitanit", was mit dem Wort "Beobachter" übersetzt werden kann. Die Spähsoldatinnen sitzen in Neun-Stunden-Schichten vor Bildschirmen, die in Echtzeit Aufnahmen von Überwachungskameras, etwa an der Grenze zum Gazastreifen, zeigen. Und sie versuchen, ungewöhnliche Aktivitäten zu prüfen. Niemand kennt die Gebiete so gut wie sie. Eine Soldatin sagt dazu: "In meinem Sektor kenne ich jeden Stein, jedes Fahrzeug, jeden Hirten, jedes Hamas-Trainingslager, Arbeiter, Vogelbeobachter, Pfade und Außenposten."
Jetzt erheben diese Beobachterinnen schwere Vorwürfe. Denn überraschend kam der Angriff der Hamas-Terroristen am 7. Oktober für sie nicht, wie sie gegenüber "Hareetz" berichten. Demnach habe die Hamas in der Zeit vor der Attacke alles andere als versteckt gehandelt, wie eine Soldatin der Zeitung beschreibt. Ihre Aktionen waren demnach "offenkundig". Seit Monaten.
Während dieser gesamten Zeit hätten hochrangige Offiziere der Gaza-Division und des Südkommandos der israelischen Verteidigungsstreitkräfte (IDF) sich geweigert, auf die Warnungen zu hören. Mehrere Beobachterinnen glauben, dass dies teilweise auf Arroganz, aber auch auf männlichen Chauvinismus zurückzuführen sei. Denn: Bei den "Tatzpitanit" handele es sich ausschließlich um "junge Frauen und junge Kommandantinnen", erklärt eine von ihnen der Zeitung.
Auch noch in der Nacht zum 7. Oktober habe es eine Warnung gegeben. Eine Spähsoldatin der IDF-Geheimdiensteinheit in Kissufim nahe der Grenze zum Gazastreifen, entdeckte einen unbekannten, verdächtig aussehenden Mann. Dieser habe vor einem der errichteten Tore gestanden, wie in dem Bericht steht. Später sah sie mehrere Männer in der Nähe des Zaunes, die Szene habe wie eine Besprechung gewirkt.
"Es tut mir leid, dass ich dich um diese Zeit wecken musste", entschuldigte sich die Soldatin demnach, als sie den Kommandeur des 51. Bataillons der Golani-Brigade, Meir Ohayon, informierte. "Aber ich denke immer noch, dass hier etwas Seltsames geschieht." Der Kommandeur zeigte sich unbeeindruckt und antwortete dem Bericht zufolge, dass es immer am besten sei, wachsam zu sein, um Überraschungen zu vermeiden. Wenige Stunden später begann der brutale Angriff der Hamas.
Offenbar gab es viele solcher Warnungen. So erzählt eine Spähsoldatin, dass etwa einen Monat vor dem Krieg Dutzende Autos und Lieferwagen in ihrem Verantwortungsgebiet ankamen. Ganz in der Nähe eines der Beobachtungstürme der Hamas. "Nach ein paar Minuten hielt neben ihnen ein Luxusauto – ein Autotyp, den nur sehr wenige Menschen in Gaza haben, also definitiv die Hamas."
Ihr sei klar gewesen, dass diese Männer von Nukhba, der Spezialeinheit der Hamas, waren. "Sie machten sich auf den Weg zu einer Besprechung, die lange dauerte, 30 bis 40 Minuten, mit Ferngläsern, die auf die israelische Seite zeigten." Einer der Männer habe sogar versucht, über die Überwachungskamera mit ihr zu kommunizieren. Ein Schock. Denn die Kamera befand sich auf einem hohen Mast in weiter Entfernung. Er wusste offenbar genau Bescheid.
Später habe sie von einem nördlicher gelegenen Aussichtspunkt die Meldung erhalten, dass dieselbe Gruppe zurückgekehrt sei und an verschiedenen Orten entlang des Gazastreifens Halt gemacht habe. Für die Frau und die anderen Beobachterinnen sah es wie eine Unterrichtung vor einem Einsatz gegen Israel aus – und sie handelten entsprechend. Doch ernst genommen wurde das nicht.
Sie sagt, ihre Kommandeure hätten versucht, diese Informationen in der Befehlskette weiterzugeben. Allerdings seien diese Frauen als relativ niedrigrangige Offizierinnen "genauso hilflos wie wir gegenüber den höheren Kommandeuren – und erst recht vor dem Divisions- und Regionalkommando".
Andere Beobachterinnen berichten, wie Unbekannte im Gazastreifen etwa einen Monat vor der Attacke Eisenstücke vom Zaun entfernt hätten oder wie sie trainierten, israelische Panzer zu zerstören. Die Übungen hätten sich immer weiter intensiviert. Transporter und Motorräder kamen dabei ebenfalls zum Einsatz. Zudem habe man geübt, wie man Grenzzäune durchbricht. Eine Spähsoldatin sagt: "Wir sahen, wie sie sich 300 Meter vom Zaun entfernten, und ihre Trainer standen mit Stoppuhren da und maßen, wie viel Zeit sie brauchten, um zum Zaun zu laufen, ihn zu erreichen und zu ihren Positionen zurückzukehren."
Auch eine weitere Beobachterin beschreibt die Vorbereitungen der Hamas detailliert: "In den letzten Monaten begannen sie, jeden Tag, manchmal sogar zweimal am Tag, Drohnen aufzustellen, die ganz nah an die Grenze herankamen", sagt sie. Etwa eineinhalb Monate vor dem Krieg habe die Hamas dann einen bewaffneten Beobachtungsposten errichtet, wie sie auch in Israel stehen.
Mit Drohnen hätten sie versucht, ihn zu treffen. Doch ernst genommen wurden auch diese Warnungen demnach nicht: "Wir haben unsere Kommandeure angeschrien, dass sie uns ernster nehmen müssen, dass hier etwas Schlimmes passiert." Wer heute sage, dass es unvermeidlich war oder dass man es nicht wissen konnte, der lüge.
Ähnliches berichtet eine weitere Soldatin, die als Beobachterin arbeitet. An jenem 7. Oktober war sie zu Hause, als die Angriffe anfingen:
Laut IDF sollen diese Vorwürfe nach dem Krieg aufgeklärt werden im Rahmen einer Untersuchung zum Geheimdienstversagen des 7. Oktobers. Allerdings habe die Zerstörung der Hamas im Gazastreifen aktuell oberste Priorität.