Zur Entspannung der Situation auf Lesbos bringt die griechische Regierung 250 Flüchtlinge aufs Festland und in Auffanglager nahe Athens unter.Bild: picture alliance / Robert Geiss
International
Die Eskalation im Flüchtlingslager von Lesbos war nur eine Frage der Zeit. Fünf Inseln in der Ostägäis tragen die Hauptlast des Flüchtlingsdeals der EU mit der Türkei. Bei Einwohnern und Migranten liegen die Nerven blank.
01.10.2019, 12:5901.10.2019, 13:20
Alexia Angelopoulou
Vor den Ausdünstungen ungewaschener Körper, modriger
Kleidung, Müll und Kloake gibt es kein Entkommen. Sie wabern zwischen
den Zelten von Moria wie die schwere, feuchte Morgenluft. Über dem
einstigen Urlaubsparadies Lesbos färbt sich der Himmel zartrosa. Man
hört es, wenn das Flüchtlingslager Moria und der umliegende Slum
aufwachen: Ins Vogelgezwitscher mischt sich das Husten aus den
Zelten, ein verschleimtes Röcheln, das tief aus der Lunge kommt und
zum Lagerleben gehört wie der Dreck und die streunenden Katzen.
Für 3000 Flüchtlinge bietet Moria Platz – jetzt hausen im und um das
ehemalige Gefängnis herum 13.000 Menschen. Am Sonntag eskalierte die
Lage einmal mehr – Flüchtlinge legten an zwei Stellen Brände und
behinderten anschließend die Feuerwehr bei den Löscharbeiten.
Das
Kalkül: Wenn Moria abbrennt, muss man die Menschen zum Festland
bringen. Eine Frau kam ums Leben, doch schnell ist im Zelt- und
Containerlager wieder der übliche, deprimierende Alltag eingekehrt.
"150 sind angekommen, sieben sind ertrunken, fünf davon Kinder! Schrecklich!"
Während morgens die ersten Flüchtlingskinder mit triefenden Nasen in
ihren ausgelatschten Plastikschuhen aus den Zelten krabbeln, bereitet
Hotelier Giorgos ein paar Dutzend Kilometer weiter nördlich das
Frühstück für seine Gäste zu. Sein Familienbetrieb, das Hotel Gorgona
im malerischen Fischerdorf Skala Sikamineas, liegt an jenem Abschnitt
der Insel, den die Flüchtlinge ansteuern, wenn sie sich auf die
Überfahrt von der Türkei nach Europa machen. Seit Beginn der
Flüchtlingskrise im Jahr 2015 ist hier nichts mehr wie zuvor.
Erst liefen Tag für Tag Tausende traumatisierte, durchnässte,
hilfsbedürftige Menschen durch den Ort. Dann kam der Papst zu Besuch,
internationale Politiker, Prominente wie die Schauspielerin Angelina
Jolie. Dafür blieben die Touristen weg. Schließlich wurden die
Bewohner von Lesbos für ihren Einsatz in der Flüchtlingskrise gar für
den Friedensnobelpreis nominiert – nur um nach dem Inkrafttreten des
Flüchtlingspakts zwischen der EU und der Türkei in Vergessenheit zu
geraten. Dabei sind sie bis heute weit entfernt von jeglicher
Normalität und neben den Migranten die Hauptleidtragenden der
Flüchtlingskrise, die seit April wieder an Fahrt aufnimmt.
Ein kleiner Junge steht an einer Wäscheleine im Flüchtlingslager Moria auf der griechischen Insel Lesbos. Bild: picture alliance/dpa
Der morgendliche Tratsch zwischen Nachbarn dreht sich denn auch nicht
ums Wetter. Er läuft vielmehr so: "Kamen welche an?" – "Nein, zwei
Boote haben sich auf den Weg gemacht, aber die türkische Küstenwache
hat sie abgefangen und zurückgebracht." – "Die Armen."
Oder auch:
"150 sind angekommen, sieben sind ertrunken, fünf davon Kinder!
Schrecklich!" – "Ja, es war ein Boot mit Kunststoff-Rumpf, wenn die
kentern, sind es Todesfallen."
Seufzen. Kopfschütteln. Schweigen.
Die Bewohner von Lesbos sprechen von einem "Pulverfass"
Kaum ein Fischer in Skala Sikamineas, der draußen auf dem Meer nicht
schon gerettet und geholfen hat. Und kaum einer, der nicht schon
Ertrunkene entdeckt oder sogar eine Leiche am Haken hatte. "Ist mir
mal passiert", sagt der 74 Jahre alte Fischer Michalis. "Ich zog und
zog und dachte, ist das schwer! Ich hatte ihn an der Jacke erwischt."
Für die Fischer stellt sich dann die Frage, ob sie die Leiche bei der
Hafenpolizei melden sollen. "Tun wir das, werden wir tagelang befragt
und unsere Boote festgesetzt." Deshalb schnitten viele einfach die
Leine durch, sagt Michalis und wendet den Blick ab, zurück zum Meer
und der nur rund fünf Seemeilen entfernten türkischen Küste.
"Hass auf die Flüchtlinge gibt es hier nicht wirklich, wir Griechen
vergessen unsere Menschlichkeit nur schwer", sagt Hotelier Giorgos.
Dennoch, die Geduld der Bewohner sei endlich. "Das muss man verstehen – ja, sie sind Menschen, aber wir sind auch Menschen." Lesbos hat
seine Haupteinnahmequelle Tourismus gegen endloses Leid und Elend
ausgetauscht. "Kein Tourist möchte sein Frühstück genießen, wenn
reihenweise barfüßige, durchnässte Flüchtlinge vorbeischleichen."
Auch Einbrüche sind ein Problem, manche Anwohner haben meterhohe,
stacheldrahtbewehrte Zäune um ihre Häuser errichtet. Andernorts
türmen sich mitten in der Landschaft Schwimmwesten und kaputte
Schlauchboote – insgesamt ist der Dreck die größte Sorge. "Wir sitzen
auf einem Pulverfass. Alle haben Angst, dass es in Moria mit all den
Bakterien und Viren zu einer Epidemie kommt. Wenn das passiert, will
ich mir nicht vorstellen, wie die Einwohner reagieren", sagt Giorgos.
An der Gegenwehr der Bewohner ist bisher jedenfalls der Bau eines
weiteren Flüchtlingslagers gescheitert, das die Situation in Moria
entschärfen könnte. Die Menschen befürchten, ein weiteres Lager könne
ihre Heimat dauerhaft zur Flüchtlingsinsel machen.
Die griechische Regierung plant Maßnahmen
Derweil sitzen Mustafa und seine Frau mit ihren drei hustenden
Kindern inmitten des Drecks, der Bakterien und der Viren von Moria.
Der 29-jährige Afghane zeigt auf dem Handy Bilder aus glücklichen
Zeiten, in denen er in Iran als Steinmetz arbeitete. Als die Behörden
seine Familie nach mehreren Jahren überraschend zurück nach
Afghanistan abschoben, hätten sie sich auf den Weg nach Europa
gemacht, sagt er. Dann klickt Mustafa auf Bilder von Taliban, Bomben
und Terror und zeigt auf seine Kinder – sollen sie so aufwachsen?
Wie es im fernen Europa sein würde, im provisorischen, dreckigen
Lager auf Lesbos, das hätte er sich jedoch auch nicht vorstellen
können. Sieben Monate dauert es dort derzeit, bis ein Asylantrag
überhaupt erstmals bearbeitet wird. Es mangelt an Personal. Hier will
die neue konservative griechische Regierung ansetzen und aufstocken,
um die Verfahren zu beschleunigen. Zudem soll die zweite
Einspruchsmöglichkeit, die Asylantragsteller nach einem abschlägigen
Bescheid haben, gestrichen werden.
Darüber spottet die Oppositionspartei Syriza, die sich als linke
Partei während ihrer Regierungszeit davor scheute, Asylgesuche
abzulehnen und die Menschen zurück in die Türkei zu schicken, so wie
es das EU-Türkei-Abkommen vorsieht. Würde das Asylverfahren gekürzt,
könnten die Betroffenen vor das griechische Verwaltungsgericht ziehen
und darauf verweisen, dass die Menschenrechte nicht gewahrt seien,
heißt es seitens Syriza. Dann stünden jahrelange Verfahren im ohnehin
völlig überlasteten griechischen Justizsystem an.
Die Regierung holt Migranten aufs Festland
Athen weicht den Flüchtlingspakt derweil an anderer Stelle auf: Die
Behörden haben begonnen, mindestens Kranke, Kinder und Familien aufs
Festland zu holen.
Flüchtlinge und Migranten in Piräus verlassen im Hafen eine Fähre.Bild: picture alliance/dpa
Das aber sieht der Pakt nicht vor: Die Menschen
sollen auf den Inseln festgehalten werden. Nur wenn sie Asyl
erhalten, dürfen sie aufs Festland – ansonsten sollen sie zurück in
die Türkei geschickt werden. Was kaum funktioniert: Seit
Inkrafttreten des Pakts 2016 wurden lediglich rund 2000 Migranten
zurückgeschickt.
Welche Lösungen es geben könnte? Wen man auch fragt, die Bewohner von
Lesbos heben ratlos die Schultern. Die einhellige Meinung ist, dass
man lediglich ausbadet, was die große Politik angerichtet hat: Die
Waffenlieferungen, das Interesse an Erdöl, die daraus resultierenden
Kriege und Flüchtlingsströme. Auch was die EU betrifft, sind Menschen
desillusioniert. "Für sie sind wir einfach die bequemste Lösung."
(dpa)