Er trägt noch immer schwarze Mokassins. Dieselbe Art von Schuhen, die er auch an seinen Füßen hatte, als er ein kleines Mädchen missbrauchte und zu sexuellen Handlungen zwang.
Der Träger der schwarzen Mokassins ist, damals wie heute, ein polnischer Priester. Zu sehen ist der Mann in dem polnischen Dokumentarfilm "Sag es niemandem", die Macher des Films haben ihn in einem Altenheim für Priester aufgespürt und zusammen mit einem Opfer besucht. Die Frau, mittlerweile 39 Jahre alt, erzählt in "Sag es niemandem" von den Schuhen, vom Missbrauch und der Angst, die sie damals empfand.
Es ist ein erschütternder Film über sexuellen Missbrauch in der katholischen Kirche in Polen. Und als die Doku vor rund zwei Wochen auf Youtube erschien, waren die Auswirkungen bis in die Politik zu spüren.
In einer Umfrage zur Europawahl wenig später lag die regierende PiS plötzlich auf dem zweiten Platz. Ihr fehlten elf Prozentpunkte auf die erstplatzierte "Koalicja Europejska" (KE; zu deutsch: Europäische Koalition), ein Zusammenschluss mehrerer polnischer Parteien.
Es war ein überraschender Erfolg pro-europäischer Kräfte in Polen. Das Land gilt als Sorgenkind in der EU, seit die rechtsradikale PiS systematisch den Rechtsstaat unterminiert und die Konfrontation mit Brüssel sucht. Doch die Umfrage war ein Indiz für eine Gegenbewegung zum Rechtsruck 2015, als die PiS die absolute Mehrheit im Sejm, dem polnischen Parlament, holte. In Polen tut sich etwas, das zeigten diese Zahlen deutlich.
Die KE gibt es erst seit diesem Frühjahr, sie wird getragen von der Platforma Obywatelska, zu deutsch Bürgerplattform, und deren Vorsitzenden und ehemaligen Außenminister Grzegorz Schetyna.
Zur Koalition gehören auch die Bauernpartei, die polnischen Sozialdemokraten, die liberale Partei Nowoczesna (Die Moderne) und die Grünen. Ein bunter Haufen, vereint im Bekenntnis zur EU und der Opposition zur PiS.
Auch EU-Ratspräsident Donald Tusk, Politiker der Bürgerplattform, trat für die Allianz der EU-Freunde mehrfach in Warschau während des Europa-Wahlkampfs auf.
Zu dem Bündnis gehört nicht der Robert Biedron, der wohl meist porträtierte Politiker Polens in den vergangenen Monaten. Der vormalige Bürgermeister von Słupsk gründete im Februar die Partei Wiosna (zu Deutsch: Frühling). Biedron darf laut den Umfragen mit seiner progressiven Partei auf sechs bis neun Prozent hoffen.
Die Europäische Koalition und Wiosna haben einen beachtlichen Erfolg in Polen. Vor allem die KE profitierte enorm von der Empörung, die der Dokumentarfilm "Sag es niemandem" auslöste.
Die PiS steht der Kirche nahe. 2015 begrüßte die katholischen Kirche Polens fast geschlossen den Regierungswechsel. Seitdem hat sich das Verhältnis zwischen Klerus und PiS zwar verschlechtert, die Empörung, die "Sag es niemandem" auslöste, übertrug sich dennoch auf Polens Regierung.
Der polnische Politologe Stanislaw Mocek sagte der Nachrichtenagentur AFP nach Veröffentlichung des Films, der Skandal drohe "das Gleichgewicht zugunsten der Opposition zu kippen".
Die große Frage nun ist: Wird die Europäische Koalition auch bei den Europawahlen die PiS ausstechen können? Und wird ihr Erfolg von Dauer sein und zu einem Politikwechsel in Polen führen?
In den aktuellsten Umfragen vor der Wahl musste die Koalition ihren Vorsprung von zehn Prozentpunkten wieder einbüßen. Aktuelle Prognosen sehen ein Kopf-an-Kopf-Rennen mit der PiS.
Die polnische Politikwissenschaftlerin Anna Materska-Sosnowska mahnt auch zur Vorsicht, vorschnell aus den Bestwerten der KE einen Triumph ablesen zu wollen. Beide Parteien, die PiS und die KE, würden ähnlich stark unterstützt, sagt die Expertin von der Universität Warschau gegenüber watson.
"Die Unterstützung für PiS ist groß – etwa 40 Prozent der Wähler erklären, dass sie für die Partei stimmen wollen. Und diese Unterstützung ging in den vergangenen Monaten nicht drastisch zurück", erklärt Materska-Sosnowska.
Während des Wahlkampfes habe eine starke Polarisierung stattgefunden. Aber die nutze der KE womöglich ebenso wie der PiS. "Einige Analysten argumentieren, dass der Wahlkampf der PiS durch die Angst vor stärkerer Stellungnahme für LGBT, Geflüchtete und einigen anderen Themen, die PiS in der Vergangenheit erwähnt hat, zusätzlich verstärkt wurde."
Während Politiker der liberalen Bürgerplattform die LGBT-Community unterstützen, schimpft PiS-Chef Jaroslaw Kaczynski über LGBT-Rechte als eine "echte Bedrohung für unsere Identität, für unsere Nation", wie die Nachrichtenagentur Reuters berichtet.
Die Polarisierung wird wohl anhalten. Die nächste große Aufgabe für die Oppositionsparteien in Polen steht im Herbst an. Dann wird ein neues Parlament gewählt.
Der Erfolg von KE und auch von Wiosna zeigt schon jetzt: Die Erzählung vom Osten Europas als Region der Rechten und Autoritären ist unvollständig. Die Bewegung dagegen hat längst eingesetzt.