
Die Sängerin der Band Pussy Riot, Nadja Tolokonnikowa, setzt sich gegen Gewalt gegen Frauen ein. Bild: Getty
International
Zu Tausenden töten Männer in Russland jedes Jahr ihre Frauen. Viele Russinnen begehren nun auf gegen häusliche Gewalt – gegen den Mythos, dass Schläge ein Zeichen von Liebe sein sollen. Aber sie haben mächtige Feinde.
Die immer deutlicheren Morddrohungen lassen Oxana
Puschkina an ihrem Arbeitsplatz in Moskau nicht los. Die
Starjournalistin sitzt aufgekratzt vor einem ganzen Packen Papier mit
deutlichen Warnungen, sie möge die Finger lassen von ihrer Initiative
für Russlands erstes Gesetz gegen häusliche Gewalt.
"Wir kämpfen hier
gegen machthungrige Menschen mit viel Geld, die das Vorhaben stoppen
wollen", sagt die 56 Jahre alte Parlamentsabgeordnete.
Dass in dem Land bei rund 145 Millionen Einwohnern jedes Jahr rund
14.000 Frauen durch Partnerschaftsgewalt sterben, ist gerade das am
heißesten diskutierte Thema in der russischen Gesellschaft. Zum
Vergleich: In Deutschland waren es im vergangenen Jahr 122 getötete
Frauen – bei rund 83 Millionen Einwohnern.
Er schlägt dich, also liebt er dich? Wirklich?
Häusliche Gewalt treffe auch Kinder – 2000 Todesopfer gebe es
jährlich, hebt die Punkband Pussy Riot in einem Videoclip hervor. Die
Täter? Männer, die im Suff und aus Frust über ihr schweres Leben in
Russland zuschlagen, zutreten und töten. Meist kommen sie ohne
Mordanklage davon, wie russische Medien berichten. Männer behandelten
ihre Frauen in Russland oft wie Eigentum, beklagt die Bewegung
Nasiliu.net (Nein zur Gewalt). In den letzten 30 Jahren habe es mehr
als 40 Gesetzesvorhaben dazu gegeben – alle gescheitert.
"Er schlägt dich, also liebt er dich" – "Bjot, snatschit ljubit": So
lautet ein alter zynischer russischer Spruch, mit dem viele Russinnen
aufwachsen. Damit müsse Schluss sein, fordern nicht nur die
Aktivistinnen von Pussy Riot. Frontfrau Nadja Tolokonnikowa sagt,
dass jede Frau, die getötet werde, sich vorher mindestens einmal an
die Polizei gewandt habe. Auf Hilfe können sie aber nicht hoffen. Die
Beamten haben keine gesetzliche Handhabe bisher.

Nadja Tolokonnikowa.Bild: imago images / ZUMA Press
Das Problem mit dem russischen Recht
40 Prozent aller Verbrechen werden dem russischen Innenministerium
zufolge zu Hause verübt, 93 Prozent davon gegen Frauen. International
für Entsetzen sorgte da 2017 ein neues russisches Gesetz, das Schläge
in der Partnerschaft entkriminalisiert.
Die ersten Prügelattacken,
die schon tödlich enden können, werden demnach nur wie eine
Ordnungswidrigkeit geahndet – mit Geldstrafen etwa. Erst
Wiederholungstäter müssen sich nach dem Strafrecht verantworten.
Inzwischen hätten selbst anfängliche Befürworter erkannt, wie
gefährlich das Gesetz sei, sagt die Abgeordnete Puschkina. Mit
anderen Abgeordneten kämpft sie nun für das Gesetz, das Mord und
Totschlag, Körperverletzung, sexuelle Gewalt, Erpressung und Stalking
verhindern soll.
Die Idee: Erstmals könnten Frauen oder Zeugen bei
häuslicher Gewalt die Polizei rufen, um Unheil abzuwenden.
Puschkina will ein Gesetz wie in anderen Ländern. Nötig seien
Frauenhäuser und Kontaktverbote für Männer. Doch gerade das macht sie
in den Augen ihrer Kritiker zur "ausländischen Agentin", die
westliches Verderben bringe.
"Westliche Satanisten"
Der russisch-orthodoxe Gläubige Andrej
Kormuchin wettert im Staatsfernsehen, das Gesetz werde Familienleben
in Russland zur Hölle machen. Der neunfache Familienvater warnt vor
einem Untergang des Riesenreichs, wenn etwa Frauen und Kinder nicht
mehr gezüchtigt werden können, damit sie spuren.
Seine orthodoxe Organisation Sorok Sorokow organisiert landesweit
Proteste gegen "westliche Satanisten". Der Geistliche Dmitri Smirnow,
im Moskauer Patriarchat zuständig für Familienbelange, wirft den
Initiatoren vor, sie wollten einen Hebel schaffen, um Eltern Kinder
wegzunehmen und Schwulen und Lesben zu überlassen. Solche Adoptionen
sind zwar verboten in Russland. Puschkina findet sich trotzdem auf
einem Propaganda-Plakat als Ikone einer Regenbogenfamilie wieder.
"Die Propaganda wirkt leider. Es ist eine Kampagne, die mit viel Geld
finanziert wird", sagt Puschkina vor dem Stapel mit Hetzschriften und
Hass-Plakaten. Dass sie selbst als Vertreterin der Regierungspartei
Geeintes Russland machtlos ist gegen die religiösen Fanatiker, macht
sie wütend. "Diese Leute schrecken unter dem Deckmantel kirchlicher
Absichten nicht einmal vor staatlichen Strukturen zurück", sagt sie.

Die russische Starjournalistin und Parlamentsabgeordnete Oxana Puschkina sitzt in ihrem Büro in der Staatsduma vor einem Stapel Papier – mit dem neuen Entwurf für ein Gesetz gegen häusliche Gewalt.Bild: picture alliance/Ulf Mauder/dpa
Puschkina hat jahrelang im Fernsehen Sendungen für Frauen moderiert – und immer wieder massenhaft Briefe mit persönlichen Schicksalen
erhalten. "Deshalb habe ich mich für die Politik entschieden", sagt
sie. Die Zeitung "Nowaja Gaseta" berichtete, dass Frauen, die
Widerstand leisteten, sich nicht auf Notwehr berufen könnten. Die
Urteile ergingen immer wieder wegen Mordes. In über 90 Prozent der
Fälle hätten Frauen ihre Partner mit dem Küchenmesser getötet. In
Moskau warten gerade drei junge Schwestern auf ihren Prozess, weil
sie ihren Vater nach jahrelangen Misshandlungen erstochen hatten.
Die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch (HRW) sieht einen
gesellschaftlichen Wandel in Russland. Sie forderte die Initiatoren
des historischen Gesetzes auf, sich nicht einschüchtern zu lassen.
Puschkina ist entschlossen, weiter zu kämpfen für einen besseren
Schutz von Frauen vor häuslicher Gewalt. Erleichtert reagierte sie,
als Regierungschef Dmitri Medwedew nun Handlungsbedarf einräumte.
Medwedew sagte, der Mythos, Schläge seien ein Zeichen von Liebe, sei
überholt und passe nicht mehr in das 21. Jahrhundert.
(dpa)
Friedrich Merz ist Kanzlerkandidat für die Union. Anfang der 2000er musste er sich in einem jahrelangen Machtkampf mit Angela Merkel geschlagen geben und verschwand für lange Zeit von der politischen Bühne. Erst 2018 kehrte er zurück – mit großen Ambitionen.