Vor einer Woche hatte der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan angekündigt, die Grenze zu öffnen. Es ist ein politisches Manöver, um Druck auf die EU auszuüben. In der Türkei befinden sich knapp 3,6 Millionen Geflüchtete.
Mit Bussen wurden Tausende in den vergangenen Tagen an die griechische Grenze gebracht. Doch auch dort geht es für die Geflüchteten nicht weiter. Die griechische Polizei verhindert Grenzübertritte. Die Lage vor Ort geriet mitunter außer Kontrolle.
Vor Ort ist der EU-Grünen-Politiker Erik Marquardt. Im watson-Interview spricht er über die Sicherheit auf Lesbos, erklärt, was der Auslöser für die Ausschreitungen war und was er sich von Angela Merkel gewünscht hätte.
watson: Welche Situation erleben Sie gerade vor Ort?
Erik Marquardt: Durch die aktuelle Lage wurden viele Rechtsextreme mobilisiert, Kampfkader wurden auf die Insel geschickt. Es heißt, dass hundert Rechte aus Frankreich kommen. Das ist ein Tiefpunkt. Und ich habe bisher auch keine Stimme aus EU-Regierungen gehört, die dagegen klare Worte gefunden hätten.
Wieso, meinen Sie, ist es so weit gekommen, dass Rechtsextreme extra anreisen?
Die rechten Gruppen fühlen sich durch die Rhetorik der Regierungen bestärkt.
Welche Politiker meinen Sie damit genau?
Frau von der Leyen zum Beispiel. Sie hat gesagt, dass Griechenland ein "Schutzschild" sei. Und auch, was der griechische Außenminister Nikos Kotzias gesagt hat, dass in der Situation Menschen im Land ein Recht zur Selbstverteidigung hätten. Das impliziert, dass Hetzjagden in Ordnung sind und dass die Hetzjagden und Brandstiftungen auf Lesbos Notwehr wären.
Es scheint also eine gefährliche Situation auf Lesbos zu sein?
Ja, es ist eine gefährliche Lage. Es ist nicht auszuschließen, dass irgendwann jemand mit einem Maschinengewehr in ein Flüchtlingslager stürmt und herumschießt. Gestern wurde das Gemeinschaftszentrum One Happy Family angezündet, in dem zum Beispiel eine Schule und ein Krankenhaus sind.
Was war der Auslöser für die Ausschreitungen?
Die Lage war schon vor der Ankündigung Erdogans, die Grenzen zu öffnen, explosiv. Da gab es auch schon Straßenschlachten. Es ist so: Die Insel möchte das Flüchtlingslager, das hier gebaut wird, nicht. Deshalb kamen 200 Beamte aus Athen, um das Lager zu schützen. Die wurden aber nach zwei Tagen verscheucht. Und ihnen wurde klargemacht, dass, sollten sie bleiben, die Situation weiter eskaliert. Die Menschen möchten endlich nicht mehr mit der humanitären Herausforderung alleine gelassen werden.
Wie geht es Ihnen denn vor Ort?
Ich habe schon einige Morddrohungen erhalten, per E-Mail, in den sozialen Netzwerken, ich wurde persönlich angefeindet. Mittlerweile hat sich auch das Bundeskriminalamt (BKA) eingeschaltet und Ermittlungen eingeleitet.
Sie haben auf Twitter geschrieben, dass andere Menschen Ihnen Hilfe angeboten haben…
Ja, aber nicht nur mir. Es gibt viele Menschen, die mich und natürlich auch die Flüchtlinge unterstützen.
Fühlen Sie sich denn sicher?
Ich lasse mich auf jeden Fall nicht von den Nazis hier verscheuchen.
Warum sind Sie überhaupt in diesem Augenblick auf Lesbos?
Ich habe ein Gutachten in Auftrag gegeben (Aufnahme von Flüchtenden aus den Lagern auf den griechischen Inseln durch die deutschen Bundesländer) und wollte mir deshalb vor Ort anschauen, wie die Situation ist, wie die Betreuung der unbegleiteten Minderjährigen aussieht und wie eine Begleitung in andere Länder auch technisch möglich wäre.
Und dann eskalierte die Situation…
Genau.
Wie sieht jetzt Ihr Alltag aus?
Einige Flüchtlinge werden auf einem Kriegsschiff gefangen gehalten. Ich versuche, mir Zugang zu ihnen zu verschaffen und zu schauen, dass sie rechtlichen Beistand haben.
Sie haben keinen juristischen Hintergrund...
Nein, aber ich finde es wichtig, dass die Anwälte hier vor Ort Unterstützung bekommen.
Was hätten Sie sich nach der Entscheidung Erdogans, die Grenzen zu öffnen, von Kanzlerin Merkel gewünscht? Ein Machtwort?
Ein Machtwort nicht unbedingt, sondern keine Panik ausbrechen zu lassen.
Wie meinen Sie das?
Einen Asylantrag muss man nicht sofort erteilen. Es wäre, rechtlich gesehen die Zeit dagewesen, um sich in Ruhe zu überlegen, wie man mit Erdogan und seiner Entscheidung umgeht und dann handelt. Wir haben Gesetze und Möglichkeiten für solche Situationen. Es ist völlig verantwortungslos, dass die Regierung das nicht beachtet hat.
Wie lange bleiben Sie noch auf Lesbos?
Nächste Woche gibt es eine Abstimmung in Straßburg (Das EU-Parlament tagt wegen des Coronavirus derzeit nicht in Brüssel, Anm. d. Red.) und die möchte ich äußerst ungern verstreichen lassen. Insgesamt zwei Wochen war ich dann hier auf der Insel.
Wie sieht Ihr Kontakt in die Heimat aus?
Ich stehe im engen Kontakt mit unserer Vorsitzenden Annalena Baerbock. Wir sprechen uns regelmäßig. Auch mit Ska Keller, Sven Giegold, Luise Amtsberg, Claudia Roth und anderen tausche ich mich aus.
Und Frau Baerbock unterstützt Sie?
Ja, wir unterstützen uns gegenseitig und sind einer Meinung.