Kevin Kühnert beim Interview in seinem Büro im Willy-Brandt-Haus, der Zentrale der SPD.bild: watson
Interview
Kevin Kühnert: "Wir müssen manche beim Egoismus packen, um die Klimakrise zu bewältigen"
Teil zwei des watson-Interviews mit dem SPD-Vizechef. Kevin Kühnert spricht darüber, wie die SPD wieder attraktiver für junge Menschen werden kann, warum sie aus seiner Sicht eine gute Klimaschutz-Partei ist – und welche Pläne seine Partei hat, um die Wohnungsnot in den Griff zu bekommen.
Kevin Kühnert will mit der SPD nach oben: Er will daran mitarbeiten, die Sozialdemokraten aus dem Umfragetief zu führen und zur stärksten Partei Deutschlands zu machen. Ein ambitionierter Plan. Mit welchen konkreten politischen Ideen das klappen soll, darüber hat watson im zweiten Teil des Interviews mit Kühnert gesprochen.
Es ist ein Gespräch darüber, wie die ökologische Wende auch für Menschen mit niedrigem Einkommen bezahlbar werden soll, was es für den Alltag junger Menschen heißen soll, dass Hartz IV überwunden wird – und wie die Partei mit linker Empörung auf Twitter umgehen soll. Und gleich am Anfang des Interviews sagt Kevin Kühnert, warum es aus seiner Sicht eigentlich erfreulich für die SPD ist, dass sie nicht mehr so viele Stammwähler hat.
watson: Fridays for Future, Black Lives Matter: Wir leben in einer Zeit politischer Jugendbewegungen, für die Hunderttausende auf die Straße gehen. Wenn man sich bei FFF zum Beispiel anschaut, mit welchen Parteien sich laut einer Studie des Instituts für Protest- und Bewegungsforschung die Mitmarschierenden am ehesten identifizieren, dann sind sage und schreibe nur drei Prozent für die SPD. Wie große Sorgen macht Ihnen das?
Kevin Kühnert: Ich glaube, bei FFF macht man sich mehr Gedanken über das Klima als über die nächste Sonntagsfrage. Wir sind in einer Zeit, in der Parteibindung oder sogar lebenslange Parteibindung zum Ausnahmefall wird. Das ist für Parteien wie CDU, CSU und SPD, die früher große Stammwählerschaften hatten, erstmal unangenehm. Ich finde es aber eigentlich erfreulich. Denn das ist ja hochdemokratisch: Jüngere Menschen überlegen sich heute vor einer Wahl sehr präzise, was die jeweilige Partei für sie und unsere Zeit zu bieten hat. Und nicht mehr, was die Eltern gewählt haben oder ob die Willy Brandt vor 50 Jahren gut fanden. Im Mittelpunkt stehen Konzepte und natürlich auch Personen.
Trotzdem nennen zum Beispiel bei der genannten Studie rund zehnmal so viel FFF-Demonstranten die Grünen, auch die Linken schneiden da viel besser ab als die SPD.
Klar, solche Zahlen sind unangenehm. Aber Stimmungen sind heute schnell änderbar, weil die Politik sich auch schnell ändert. Junge Menschen sind anspruchsvoll in ihrer politischen Haltung, das ist gut so. Und bei Menschen, die sich in jungen Jahren politisieren, weil ihnen der Klimaschutz wichtig ist, ist es schon logisch, dass die ihr Herz nicht zuerst einer Regierungspartei schenken. Dafür müssen wir schon Argumente liefern.
Auf Tuchfühlung: Kevin Kühnert im Januar 2019 auf einer Fridays-for-Future-Demo. Bild: imago stock&people
Wie wollen Sie als SPD, die seit 1998 außer in vier Jahren immer mitregiert hat, jungen Menschen gegenüber als Klimaschutzpartei auftreten?
Ich glaube, wir können schon auch Selbstbewusstsein an den Tag legen. Ja, wir wissen, dass vieles noch zu langsam geht und kein Grund zur Selbstzufriedenheit besteht. Aber wir haben aus einem Teil der Stimmung, die Fridays for Future auf die Straße gebracht haben, konkretes Regierungshandeln gemacht.
"Ich bin Mitglied einer Partei, ich bin kein Missionar."
Wann zum Beispiel?
Die SPD hat erfolgreich darauf gedrängt, dass der sogenannte Solardeckel fällt, der den Ausbau erneuerbarer Energien ausbremste. Das ist kein technisches Detail, sondern eine zentrale Säule der Energiewende. Wer früher aus der Kohleverstromung rauswill – und das will ich –, muss den schnellen Sprung in die erneuerbaren Energien schaffen. Und es ist unsere Politik, das jetzt möglich zu machen.
Gerade von der Klimaschutzbewegung wird die SPD immer wieder attackiert. Die bekannteste deutsche FFF-Aktivistin Luisa Neubauer hat gegenüber watson Ihre Partei heftig wegen des Kompromisses zum Kohleausstieg kritisiert – vor allem die hohen staatlichen Entschädigungen, die an die Betreiber von Kohlekraftwerken gezahlt werden. Diese Meinung vertreten offensichtlich viele Klimaschutzaktivisten. Wie erklären Sie jemandem, der für Klimaschutz auf die Straße geht, dass er falsch liegt, wenn er die Grünen wählt?
Ich bin Mitglied einer Partei, ich bin kein Missionar. Es ist völlig okay, wenn jemand ähnliche Ziele verfolgt wie ich und dann eine andere Partei wählt, auch wenn ich darauf bestehe, dass es ohne die SPD heute überhaupt kein Kohleausstiegsgesetz gäbe. Und wer Klimaschutz als einzig zentrales Thema sieht und hochnäsig oder mit Fatalismus auf andere Debatten blickt, der wird bei uns vermutlich auch nicht glücklich werden.
Schauen Sie mal nach Hessen oder Baden-Württemberg, wo Grüne an der Regierung sind."
Was meinen Sie damit?
So gucken wir nicht auf die Welt und die meisten Aktivisten bei FFF, insbesondere Luisa, auch nicht. Klimaschutz ist bei uns spürbar wichtiger geworden, aber wir werden deshalb nie die Arbeitsmarktpolitik oder den Blick auf globale Lieferketten hinten herunterfallen lassen. Politischer Aktivismus bedeutet manchmal richtigerweise, sich vor allem auf ein Thema zu konzentrieren. Als Parteien können wir das nicht, auch nicht die Grünen.
Was bedeutet das?
Wir alle wollen, dass wir so schnell wie möglich klimaneutral werden. Aber wir werden in Deutschland nur dann zum globalen Vorbild werden, wenn wir zeigen, dass wir gleichzeitig auch eine stabile Industriegesellschaft bleiben und gerechten Wohlstand schaffen.
Das versprechen die Grünen auch.
Ja, aber schauen Sie mal nach Hessen oder Baden-Württemberg, wo Grüne an der Regierung sind: Da sind in den vergangenen beiden Jahren zwei beziehungsweise vier Windräder aufgestellt worden. Im SPD-regierten Brandenburg wurde zeitgleich richtig geklotzt. Und während die SPD verhindert hat, dass es im Corona-Paket eine Kaufprämie für Autos mit Verbrennungsmotor gibt, hat der grüne baden-württembergische Ministerpräsident Winfried Kretschmann während der Verhandlungen lustlos gefragt, welche Alternative es denn dazu geben soll. Grün zu wählen, scheint also nicht die alleinige Lösung zu sein.
"Manche Menschen stehen vor der Klimakrise mit einem Schulterzucken, die fühlen zu dem Thema keinen tiefergehenden Bezug. Man kann diese Menschen verteufeln, oder man baut ihnen eine Brücke, um sie mit ins Boot zu holen."
SPD-Politiker sprechen regelmäßig davon, dass die ökologische Wende in Deutschland bezahlbar sein muss. Das ist ein Satz, dem wohl kaum jemand widersprechen würde. Aber wie soll das konkret gehen?
Mit Mieterstrom zum Beispiel, wenn auf dem Dach des Mietshauses eine Photovoltaik-Anlage installiert wird. Der Strom wird dann für den Eigenbedarf genutzt, die Mieter sparen sich Netzgebühren sowie Stromsteuer und damit bares Geld. Oder mit dem Windbürgergeld. Wenn in einem Ort ein Windpark gebaut wird, profitieren davon ja bisher vor allem zwei Menschen: der Betreiber der Anlage und vielleicht der Landwirt, auf dessen Grundstück die Anlagen stehen. Für die anderen bedeutet es erstmal, dass der Blick von der Terrasse vielleicht weniger schön ist und man manchmal das Surren des Windrads hört. Warum werden an solchen Anlagen nicht die Kommunen beteiligt? Genau das schlagen wir vor. Dann könnten die Einnahmen aus Windkraftanlagen vielleicht dazu führen, dass die Bibliothek besser ausgestattet ist oder der Bus am Wochenende öfter fährt. Wir müssen manche Menschen bei ihrem Egoismus packen, um die Klimakrise zu bewältigen.
Wie meinen Sie das?
Manche Menschen stehen vor der Klimakrise mit einem Schulterzucken, die fühlen zu dem Thema keinen tiefergehenden Bezug. Man kann diese Menschen verteufeln, oder man baut ihnen eine Brücke, um sie mit ins Boot zu holen. Es bringt nichts, diese Menschen mit Bildern und Büchern über die Klimakatastrophe zu überfluten. Das überfordert manchmal eher, als dass es zum Umdenken führt.
Kevin Kühnert im Gespräch mit watson-Redakteur Sebastian Heinrich. bild: watson
Gerade junge Menschen sind momentan stark von der Corona-Krise betroffen: Weil sie einen Ausbildungsplatz suchen, vor dem Einstieg in den Job stehen oder nur einen befristeten Arbeitsvertrag haben. Was hat die SPD diesen Menschen zu bieten?
Ein ganz entscheidender Punkt ist die Ausbildungsplatzgarantie, die wir Jusos fordern und die wir auch mit einer Übernahmegarantie verknüpfen wollen: Beides entscheidet darüber, ob junge Menschen unabhängiger werden im Leben. Wir haben mit der SPD schon einen Azubi-Mindestlohn durchgesetzt und die Pflicht für Arbeitgeber, Auszubildenden frühzeitig mitzuteilen, ob sie übernommen werden. Wir wollen sachgrundlose Befristungen abschaffen, damit nicht mehr jeder zweite junge Mensch mit einem befristeten Vertrag ins Berufsleben startet, mit all den Problemen bei Familiengründung und Wohnungssuche, die das mit sich bringt.
Die Wohnungssuche wird aber selbst bei durchschnittlichen Einkommen immer schwieriger...
Für mehr bezahlbaren Wohnraum wollen wir eine neue Form von gemeinnützigem Wohnungsbau schaffen: Gemeinwohlorientierte Vermieter verpflichten sich zur Bereitstellung bezahlbarer Wohnungen und bekommen dafür Vorteile bei Steuern und Abgaben. Außerdem wollen wir für Normalverdiener finanzielle Hürden aus dem Weg räumen, wo immer es geht: günstigerer Nahverkehr, keine Gebühren für Kitas und Horte, keine Studien- oder Meistergebühren. Unser Ziel bei all dem: die Rahmenbedingungen schaffen, damit junge Menschen ein freies und selbstbestimmtes Leben entwickeln können.
Apropos Wohnungspolitik: Sie sind im SPD-Vorstand dafür zuständig. Was tun Sie außerdem, damit sich junge Menschen auch ohne reiche Eltern noch eine Wohnung leisten können?
Wir brauchen eine andere Bodenpolitik. Darauf hat uns unser kürzlich verstorbener ehemaliger Vorsitzender Hans-Jochen Vogel immer wieder hingewiesen. Sozialdemokratie muss immer nach den Wurzeln eines Problems suchen. Die Wurzel des Problems auf dem Wohnungsmarkt ist nicht, dass irgendein Vermieter die Miete um fünf Prozent erhöht. Sondern, dass wir als Gesellschaft nicht mehr genügend Zugriff auf die nicht vermehrbare Ressource Boden haben. Jeder Quadratmeter Boden, den der Staat verkauft hat, fehlt uns: für Wohnungen, Schulen, Kitas, Spielplätze und jede andere öffentliche Infrastruktur. Wir wollen Kommunen in die Situation versetzen, Boden zurückholen zu können.
Wie soll das gehen? Einmal privatisierte Grundstücke zurückzukaufen ist enorm teuer.
Wir wollen kommunale Bodenfonds organisieren, bei denen Bund und Länder helfen, durch strategische Ankäufe Kontrolle über das spätere Bauland zurückzugewinnen. In Wien, wo der Wohnungsmarkt deutlich sozialer funktioniert als in vielen deutschen Städten, sehen wir, dass eine Stadt deutlich mehr als 30 Prozent direkte und indirekte Kontrolle über den Wohnungsmarkt haben muss, um diesen sozial ausgestalten zu können. Wohnen darf kein Luxusgut sein, sondern ist ein Grundbedürfnis, das nicht den normalen Marktmechanismen unterliegen darf.
"Wir wollen, dass dieses Damoklesschwert über den Köpfen junger Menschen verschwindet, das Hartz IV mit sich bringt: Ich verliere in einer sich wandelnden Arbeitswelt meinen Job – und ein Jahr danach öffnet sich unter mir die Falltür ins Nichts. Das werden wir beenden."
Kevin Kühnert auf dem SPD-Parteitag im Dezember 2019.Bild: www.imago-images.de / Thomas Imo/ photothek.net
Die SPD präsentiert sich auch in der Corona-Krise vor allem als Fürsprecherin der Arbeitnehmer. Aber was ist mit Selbständigen und Freiberuflern? Deren Einkommen ist in der Corona-Krise besonders drastisch eingebrochen, teilweise auf null Euro.
Wir haben sofort die Grundsicherung für sie geöffnet – und zwar ohne, dass sie angespartes Vermögen antasten müssen. Das möchten wir als SPD auch nach der Corona-Krise beibehalten, um die Lebensleistung von Menschen zu schützen. Und das Gleiche gilt für die Miete: In der Corona-Krise ist erstmal jede Miete angemessen, wenn man in der Grundsicherung landet. Wir wollen, dass auch das so bleibt. Wir wollen, dass dieses Damoklesschwert über den Köpfen junger Menschen verschwindet, das Hartz IV mit sich bringt: Ich verliere in einer sich wandelnden Arbeitswelt meinen Job – und ein Jahr danach öffnet sich unter mir die Falltür ins Nichts. Das werden wir beenden.
Noch ein wichtiger Bestandteil des Lebensstils junger Menschen steht in der Coronakrise – und wegen der Klimakrise – auf dem Spiel: das Reisen. Werden wir in den Jahren nach Corona noch so reisen können wie vorher?
Können? Ja. Ob wir das in jedem Fall auch müssen, das steht auf einem anderen Blatt. Zu viel spricht dafür, dass Reisen ein notwendiger Bestandteil einer noch jungen globalen Gesellschaft ist. Beim Reisen geht es ja nicht nur um Erholung und um die nächste Insta-Story. Es geht darum, über den eigenen Tellerrand zu gucken, andere Kulturen kennenzulernen. Wenn ich in diesen Wochen mit Menschen von den internationalen Jugendwerken spreche – dem deutsch-französischen oder dem deutsch-polnischen zum Beispiel – dann höre ich von großen Sorgen. Wenn der Austausch im Alltag nicht stattfindet, der Annäherung und aktiven Kampf gegen Nationalismus bedeutet, ist das auf Dauer ein großes Problem. Das sollten wir bei allen Appellen zum nachhaltigen Reisen und bei aller berechtigten Empörung über Wochenendtrips mit dem Billigflieger nicht vergessen.
Was viele junge Menschen bewegt, ist der Kampf gegen Rassismus. Warum sollte ein junger Mensch, der bei "Black Lives Matter" mitmarschiert, SPD wählen, die seit über zwei Jahrzehnten fast durchgehend mitregiert und an den Zuständen wenig verbessert hat?
Ich würde bestreiten, dass wir nicht auch Dinge verbessert haben. Das reicht natürlich nicht aus, sonst wären die "Black Lives Matter"-Demos ja nicht notwendig. Und sie sind notwendig. Aber wir haben in Deutschland inzwischen ein ordentliches Antidiskriminierungsgesetz, wir treiben Pilotprojekte zu anonymisierten Bewerbungsverfahren voran und das Programm "Demokratie Leben" wächst und wächst. Und ich weiß und sehe, dass die SPD landauf, landab mit vielen anderen Demokraten immer am Start ist im Kampf gegen Menschenfeindlichkeit. Klar: Wenn es um People of Color und Schwarze Menschen geht, ist die politische Repräsentation unterirdisch, auch bei uns. Aber wir sind trotzdem stolz darauf, dass wir mit Karamba Diaby den einzigen Schwarzen Bundestagsabgeordneten in unseren Reihen haben, mittlerweile in der zweiten Wahlperiode – auch wenn es traurig ist, dass es im gesamten Bundestag nur einen einzigen gibt. Aber er hat schon einiges verändert im parlamentarischen Diskurs, trotz aller Anfeindungen, die er erleben muss.
Wenn man aber auf den Parteivorstand der SPD blickt, dann haben von 34 Mitgliedern zwei eine Migrationsgeschichte. Das ist immer noch viel weniger als der Anteil am Durchschnitt der Bevölkerung. Wie wollen Sie das ändern?
Das ist ein Problem, auch in unserer Bundestagsfraktion sind noch deutlich zu wenige Menschen mit Migrationsgeschichte. Das liegt auch daran, dass wir immer noch relativ wenige Parteimitglieder mit Migrationsgeschichte haben. Wir müssen festhalten, dass die SPD als Ort, an dem man Politik macht, sich offenkundig noch viel stärker für Menschen mit Migrationsgeschichte öffnen muss. Sicherlich vermittelt die SPD an manchen Orten durch ihre über Jahrzehnte gewachsene Zusammensetzung auch noch den Eindruck, dass Menschen nichtdeutscher Herkunft oder Familiengeschichte vielleicht nicht willkommen sind – obwohl das Gegenteil natürlich der Fall ist. Ich sehe aber auch: Dort, wo unsere Partei deutlich besser die Vielfalt der Gesellschaft repräsentiert, hier in Berlin in Neukölln oder Kreuzberg zum Beispiel, gibt es diese Probleme deutlich weniger. Aber auch da musste erst einmal jemand die Türen aufmachen, bis wir so weit waren.
"Die Frage für uns muss sein: Auf wen fokussiert sich die Sozialdemokratie? Wollen wir vor allem von Leuten, die sich als deutlich weiter links verstehen, geknuddelt werden – in dem Wissen, dass die meisten von ihnen uns sowieso nie wählen werden?"
Wären Quoten eine Möglichkeit, das zu ändern?
Ich bin da hin- und hergerissen. Einerseits verfechte ich die Frauenquote bei uns. Andererseits: Wenn wir eine Quote auch für Menschen mit Migrationsgeschichte oder für Jugendliche einführen, habe ich die Sorge davor, dass wir dann die Mitglieder von Parteigremien gar nicht mehr auswählen könnten, weil sie sich aus den unterschiedlichen Quoten quasi von selbst ergeben. Allerdings müssen wir dann auch wieder so ehrlich sein, zu sagen, dass Absichtserklärungen und Appelle auch nicht zu wesentlichen Verbesserungen geführt haben. Wir müssen also weitere Instrumente schaffen, ja. Aber nicht über die Köpfe der Betroffenen hinweg.
Kürzlich hat sich auf Twitter ein Sturm gegen die junge, linke SPD-Politikerin Lilly Blaudszun gerichtet – unter anderem, weil sie Olaf Scholz als Kanzlerkandidaten unterstützt. Die Kritik, die vor allem von sehr linken Twitter-Nutzern kam, war für sie offenbar so heftig, dass sie ihren Twitter-Account gelöscht hat. Geht das jetzt so weiter in der SPD: Dass sehr Linke anderen nicht ganz so Linken das Linkssein absprechen und sie deshalb aus sozialen Netzwerken rausekeln?
Das scheint mir kein Phänomen in der SPD, sondern eher in linken Kreisen zu sein. Leider. Die Frage für uns muss sein: Auf wen fokussiert sich die Sozialdemokratie? Wollen wir vor allem von Leuten, die sich als deutlich weiter links verstehen, geknuddelt werden – in dem Wissen, dass die meisten von ihnen uns sowieso nie wählen werden? Oder geht es darum, breite gesellschaftliche Gruppen – von denen die meisten wahrscheinlich nicht mitbekommen, was auf Twitter los ist – zu erreichen und ihnen Lust zu machen auf eine Gesellschaft, in der der Stillstand aufgebrochen wird? Ich glaube, wir sollten uns für Zweiteres entscheiden. Deswegen sollten wir den Linken, die uns auch hart attackieren, aber selbstverständlich nicht den Mittelfinger zeigen oder das Gespräch verweigern.
Sondern?
Es gibt in einem recht überschaubaren Teil der politischen Linken in Deutschland eine toxische Art von Kritik, die längst nicht mehr lösungsorientiert ist und zur selbsterfüllenden Prophezeiung wird. Diese Kritik bedient sich aus einem unendlichen Fundus von Beispielen und Anekdoten. Mit diesen Beispielen soll dann belegt werden, warum alle, die sich in der SPD und vielleicht auch bei den Grünen und Linken konkret engagieren, letztlich unglaubwürdig und Vollidioten sind. Das ist ein sehr selbstbezogener Diskurs. Der bringt hin und wieder trotzdem kluge Gedanken hervor, deshalb höre ich mir den gelegentlich an, um meinen Blick zu weiten. Wenn es sich ergibt, nehme ich auch daran teil. Aber das ist nicht die Zielgruppe der Sozialdemokratie für eine Bundestagswahl. Wir haben uns entschlossen, in eine Partei zu gehen. Deswegen sind wir natürlich nicht besser als die, die Diskurse anstoßen. Aber unser Job ist es, dass dann im Rahmen der Möglichkeiten auch irgendwann mal Maßnahmen ergriffen werden. Veränderung funktioniert nur in der Praxis, nicht in der Theorie.
Robert Habeck über Markus Söder: "Er hat einen Crush auf mich"
Für den bayerischen Ministerpräsidenten Markus Söder (CSU) muss letzte Woche im Bundestag wohl eine große Enttäuschung gewesen sein. Er hatte sich auf eine Debatte mit seinem Erzfeind und Wirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) eingestellt. Dieser fehlte aber spontan aufgrund eines Defekts an einem Regierungsflugzeug und Außenministerin Annalena Baerbock (Grüne) musste für ihn einspringen.