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Hartz IV wegen Corona? "Könnte vielen jungen Menschen drohen"

12.02.2020, Remscheid, Nordrhein-Westfalen, Deutschland - Auszubildende Frau in Elektroberufen, eine Industrieelektrikerin montiert einen Schaltkreis, Berufsbildungszentrum der Remscheider Metall- und ...
Sozialwissenschaftler Stefan Sell befürchtet "lebenslange Schäden" für viele junge Menschen, die jetzt keinen Ausbildungsplatz erhalten. Bild: www.imago-images.de / Rupert OberhÅ user
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Experte zu Ausbildungssituation: "Das könnte durch Corona vielen jungen Menschen drohen"

26.05.2020, 19:2126.05.2020, 19:20
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Die Wirtschaft erwacht langsam aus dem Dornröschen-Schlaf und Unternehmen kehren nach und nach zu ihrer Produktion von Vor-Corona-Zeiten zurück. Davon ungeachtet ist die einhellige Meinung der Ökonomen: Wir schlittern direkt in eine Wirtschaftskrise hinein.

Die großen Verlierer dieser kommenden Krise werden aller Voraussicht nach Berufseinsteiger sein und junge Menschen, die einen ersten Job oder Ausbildungsplatz suchen. Welche Perspektive haben sie und wie könnte man die Situation verbessern?

Stefan Sell ist Sozialwissenschaftler und gilt als Experte in Fragen zum Thema Arbeitsmarkt und Ausbildungsberufe. Er ist Professor für Volkswirtschaftslehre, Sozialpolitik und Sozialwissenschaften an der Hochschule Koblenz.

Sell hat selbst vor vielen Jahren auch eine Ausbildung zum Krankenpfleger absolviert und kennt sich daher nicht nur theoretisch mit dem Thema aus. Im Interview erklärt er seine Forderung, dass der Staat die Gehälter aller Azubis bis zum Jahresende übernehmen sollte und warum er ansonsten befürchtet, dass lebenslange Schäden für die aktuelle Generation der Auszubildenden drohen.

"Ein Betrieb, der um die eigene Existenz bangen muss, überlegt sich dreimal, ob er einen zusätzlichen Azubi einstellt oder nicht."

watson: Wie wirkt sich die Corona-Krise auf die Ausbildungssituation von jungen Menschen aus?

Stefan Sell:
Wir hatten bereits vor der Krise das Problem, dass zu wenige Betriebe dual ausgebildet haben. Das wurde durch die Corona-Krise noch deutlich verstärkt. Im Frühjahr werden in der Regel die Verträge für das neue Ausbildungsjahr unterschrieben, das im September beginnt. Leider war das genau der Zeitpunkt, zu dem der Lockdown begann. Viele Betriebe haben deswegen auf Kurzarbeit umgestellt. Aufgrund der unklaren wirtschaftlichen Situation haben auch viele Betriebe ihre Ausbildungsverträge gekündigt oder Auszubildende gar nicht erst eingestellt.

Können Sie das nachvollziehen?

Menschlich ja. Ich kann die Betriebe verstehen. Die meisten Ausbildungen laufen in kleinen und mittleren Unternehmen, die wirklich in ihrer Existenz bedroht sind. In der aktuellen Situation, in der viele Betriebe für mehrere Millionen Beschäftigte Kurzarbeit anmelden müssen, will man auf Nummer sicher gehen. Außerdem gibt es auch gar nicht so viel zu tun, wenn die Wirtschaft stillsteht und die Mitarbeiter in Kurzarbeit sind.

Und, wenn man es ganzheitlicher denkt? Wir haben in Deutschland einen Fachkräftemangel…

Die Corona-Krise wird auch wieder vorbeigehen und einen jungen Menschen bildet man im besten Fall für Jahrzehnte im Betrieb aus. Das ist natürlich problematisch, wenn hier Auszubildende wegbrechen. Mehr als 25 Prozent der großen Unternehmen bilden gar nicht mehr aus, den größten Rückgang bei den Ausbildungszahlen verzeichnen die großen Dax-Konzerne.

Die größeren Unternehmen werben dann häufig die durch kleinere und mittlere Unternehmen ausgebildeten Fachkräfte ab. Diese "Kannibalisierungsstrategie" fördert sicherlich nicht die Motivation, als Betrieb überhaupt noch Geld und Zeit in Azubis zu investieren.

"Das könnte durch Corona vielen jungen Menschen drohen – mit lebenslangen Schäden, die dadurch produziert werden."

Der Markt an sich regelt es also nicht. Muss die Politik eingreifen?

Der Lockdown ist eine staatliche Maßnahme zum Gesundheitsschutz. Also kann der Staat auch dabei helfen, die Folgen dieser Maßnahme abzuschwächen. Azubis können nicht auf Kurzarbeit gesetzt werden, das ist eigentlich zum Schutz des Auszubildenden gedacht. Nun ist es aber eher eine Belastung, weil der Betrieb ihn voll weiterbezahlen muss, egal, ob er Einnahmen generiert oder nicht. Es wäre ein positives Signal, wenn der Staat die Ausbildungskosten und Gehälter der Azubis bis zum Jahresende übernähme – "klotzen, nicht kleckern" wäre angesichts der enormen Bedeutung der Berufsausbildung die richtige Botschaft.

Was ist mit denjenigen, die keinen Ausbildungsplatz erhalten wegen der Corona-Krise?

Das ist genau der Punkt. Ein Betrieb, der um die eigene Existenz bangen muss, überlegt sich dreimal, ob er einen zusätzlichen Azubi einstellt oder nicht. Das ist eine Hürde und die könnte man absenken, wenn der Staat die Kosten übernimmt.

Könnte man die Krise dadurch umgehen?

Nein. Selbst, wenn die Bundesregierung diese Kosten übernimmt, bedeutet das nicht, dass jeder Ausbildungsplatz gerettet werden kann. In der Hotellerie und Gastronomie sehen wir, wie ernst die Lage ist. Die wissen teilweise nicht, ob sie im August noch existieren. Die denken nicht darüber nach, einen Azubi einzustellen.

Was droht uns, wenn der Staat nicht hilft?

Dann könnte ein Teil der Ausbildungsgeneration wegbrechen. Im Handwerk, bei Hotels und der Gastronomie könnten viele Stellen wegfallen. Das würde eine Entwicklung verstärken, die wir schon vor Corona hatten.

Welche ist das?

Wir haben über zwei Millionen junge Menschen zwischen 20 und 30 Jahren in Deutschland, die keinerlei Berufsausbildung besitzen und sich als ungelernte Arbeitskräfte durchschlagen. Wenn es eine Risikogruppe gibt, die bedroht ist, in relative Armut zu geraten, dann sind sie es. Diese Gruppe von Menschen rutscht oft in die Arbeitslosigkeit und ist von staatlicher Unterstützung abhängig. Und der Abstieg beginnt oft dadurch, dass sie in jungen Jahren keinen Ausbildungsplatz erhalten haben und es später nicht mehr schaffen, in eine Berufsausbildung zu kommen. Das könnte durch Corona vielen jungen Menschen drohen – mit lebenslangen Schäden, die dadurch produziert werden.

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