Nach dem Wahlbeben in Thüringen ist am Donnerstag der neugewählte thüringische Ministerpräsident Thomas Kemmerich (FDP) zurückgetreten.
Zuvor hatte es schwere Kritik an der Wahl von Kemmerich gegeben. Ihm wurde vorgeworfen, die Wahl angenommen zu haben, obwohl er mit den Stimmen der AfD gewählt wurde. Selbst innerhalb der FDP gab es Rücktrittsforderungen von zahlreichen Landesverbänden und Spitzenpolitikern.
FDP-Chef Christian Lindner verteidigte zunächst seinen Partei-Freund und sagte, dass er die Regierungsbildung abwarten wolle, aber eine Zusammenarbeit mit der AfD ausschließe. Auch Kemmerich blieb zunächst dabei und verteidigte im "Heute Journal" am Mittwochabend seine Wahl zum Ministerpräsidenten.
Nach der anhaltenden Kritik schien Christian Lindner seine Meinung jedoch geändert zu haben. Er reiste am Donnerstag nach Thüringen, um sich mit Thomas Kemmerich zu beraten. Es sieht so aus, als ob Lindner Kemmerich überredet hat, zurückzutreten. Wie Michael Bröcker ("Mediapioneer") berichtet, soll der FDP-Chef dabei sogar mit seinem eigenen Rücktritt gedroht haben.
Am Freitag trifft sich der FDP-Parteivorstand in Berlin. Christian Lindner hat angekündigt, sich einem Misstrauensvotum als Parteivorsitzender zu stellen.
Doch was bedeutet das für die FDP, ihrem Chef Lindner und die Demokratie selbst? Watson hat bei Parteienforscher Oskar Niedermayer nachgefragt.
watson: Christian Lindner will im FDP-Vorstand die Vertrauensfrage stellen. Ist das die richtige Entscheidung?
Oskar Niedermayer: Das ist ein wichtiger Schritt. Lindner war bisher absolut unangefochten in der Partei. Gestern und heute hat er von verschiedenen, auch prominenten FDPlern Widerspruch bekommen. Ihm wird angekreidet, dass er am Mittwoch im Vergleich zu Annegret Kramp-Karrenbauer keine wirklich klaren Worte gefunden hat. Deshalb ist es für ihn sinnvoll, dass er sich noch einmal die Rückendeckung des Parteivorstands holt.
Wird er die auch bekommen?
Ja, ich denke schon. Denn am Mittwoch sah es bei Kemmerich noch nicht so aus, als würde er zurücktreten. Am Donnerstag dann die Wende. Lindner war somit relativ schnell erfolgreich. Und er hat damit gerade noch einmal die Kurve bekommen. Wie man so schön sagt.
"Dieses Manöver wird nicht ohne Folgen bleiben für die FDP"
Sogar am Donnerstagvormittag sagte Kemmerich noch, dass er nicht zurücktreten will.
Eben. Insofern ist es schon ein Erfolg für Lindner, Kemmerich jetzt so schnell zum Umdenken bewegt zu haben. Damit hat Lindner versucht, den Schaden für die Bundespartei noch halbwegs zu begrenzen.
Aber die FDP hat nun schon Schaden genommen...
Dieses Manöver wird sicher nicht ohne Folgen bleiben. Auch im Bund, denn Lindners Linie war nicht von Anfang an klar. Durch den Rücktritt von Kemmerich könnte sich der Schaden in Grenzen halten. Aber das werden Umfragen zeigen.
Wie groß ist der Einfluss von Christian Lindner gegenüber Thomas Kemmerich?
Nun, es ist zumindest Lindners Leistung, Kemmerich eingefangen zu haben. Lindner konnte Kemmerich den Rücktritt nur raten und empfehlen. Wir haben keine zentralistisch von oben gesteuerten Parteien, bei denen die Bundesvorsitzenden per Order Befehle an die Landesverbände erteilen können. Jeder Landesverband ist autonom. Alles Weitere hängt von der Autorität der Parteispitze und von guten Argumenten ab.
"Lindner hat die Lage am Anfang unterschätzt"
Trotzdem hat Lindner nach der Kemmerich-Wahl zunächst an CDU, Grüne und SPD appelliert, dass sie mit der FDP sprechen sollen. Hat Lindner nicht gesehen, welche Auswirkungen die Kemmerich-Wahl haben würde?
Lindner hat die Lage am Anfang unterschätzt. Diese Anfangsfehler in der Reaktion schaden seiner Glaubwürdigkeit und sind schwer wieder einzufangen. Das hat er nun versucht, indem er Kemmerich zum Rücktritt bewegte. Lindners politische Gegner werden versuchen, die Lage länger auszunutzen.
Lindner nannte die Zustimmung der AfD für Kemmerich zunächst überraschend. War er wirklich so naiv?
Es gibt drei mögliche Motive von Kemmerich für seine Kandidatur, die er ja angeblich auch mit Lindner abgesprochen hat. Motiv 1: Ein Akt der Symbolpolitik, indem die FDP dafür sorgt, dass nicht nur zwei Kandidaten der politischen Ränder kandidieren – um zu zeigen, dass die Mitte in Thüringen auch noch da ist. Wenn das das Motiv gewesen sein sollte, hätte Kemmerich die Wahl nicht annehmen dürfen, nachdem er mit AfD-Stimmen gewählt wurde.
Also sind die beiden anderen Möglichkeiten wahrscheinlicher?
Ja. Entweder wurden die AfD-Stimmen billigend in Kauf genommen – es musste ja klar sein, dass diese Möglichkeit bestand. Man kann nicht davon ausgehen, dass die FDP so blauäugig da hineingegangen ist. Oder es gab tatsächlich eine wie auch immer geartete Absprache zwischen FDP, CDU und AfD. Aber dazu kann man von außen nichts sagen.
"Die Chancen, dass die FDP bei Neuwahlen wieder in den Landtag einzieht, sind gering"
Lindner war bisher in der FDP unantastbar. Sind diese Zeiten vorbei?
Es gab immer mal wieder Kritik an ihm. Aber es ist klar, dass Lindner eine starke Stellung in Partei hatte und sie auch immer noch hat. Bei der Frage, wie fest Lindner noch im Sattel sitzt, kommt es nicht nur auf ihn an, sondern auch darauf, wer ihm gefährlich werden könnte. Da bietet sich niemand auf den ersten Blick an. Ich glaube nicht an eine wirkliche Gefahr für Lindner. Er muss die Reihen jetzt schließen, und zwar schnell.
Wird die FDP bei Neuwahlen aus dem Landtag fliegen?
Die Chancen, dass sie wieder in den Landtag einzieht, sind jedenfalls gering. Dafür braucht es ohnehin nur ein paar Stimmen weniger als bei der vergangenen Wahl.
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