Brasilien ist der fünftgrößte Staat der Erde – und seit Wochen eines der Länder, in denen das Coronavirus am heftigsten wütet: rund 70.000 Tote, rund 1,8 Millionen Infizierte, eine dreieinhalb Mal höhere Infektionsrate als in Deutschland, dramatisch überlastete Krankenhäusern.
Zu den Brasilianern, die das Virus SARS-CoV2 haben, gehört seit vergangener Woche auch der Präsident Jair Bolsonaro. Was bedeutet die katastrophale Corona-Lage in Brasilien für den rechtsextremen Präsidenten? Und was macht die Pandemie mit dem Leben der über 200 Millionen Menschen in Brasilien?
Wir haben darüber per Skype mit Oliver Della Costa Stuenkel gesprochen. Er lebt in der brasilianischen Metropole São Paulo, ist dort Politikwissenschaftler und Professor für Internationale Beziehungen an der Fundação Getulio Vargas (FGV).
watson: Herr Stuenkel, 2013 haben Sie in einem Interview mit der "Zeit" einem ihrer brasilianischen Studenten zugestimmt, den Sie damals mit dem Satz zitiert haben: "Wir sind dabei, ein seriöses Land zu werden". Was ist seither passiert?
Oliver Della Costa Stuenkel: 2013 war ein ganz wichtiger Moment, da haben sich ganz viele Menschen, gerade junge Menschen, zum ersten Mal für Politik interessiert. Da sind Millionen Menschen, vor allem Studenten, auf die Straße gegangen, weil sie den Eindruck hatten, dass sie wirklich etwas verändern können. Damals ist eine echte Demokratisierung passiert. Das Problem ist: Die Eliten haben diese Erneuerung nicht mitgemacht.
Was meinen Sie? Wie sind die jungen Menschen damals enttäuscht worden?
Naja, die jungen Menschen haben gefordert, dass die Politik näher an die Bürger rückt, dass die Entscheidungen transparenter werden. Und das ist einfach nicht passiert. Das hat dann dazu geführt, dass die Menschen das Gefühl hatten, es macht ohnehin keinen Unterschied, ob sie sich engagieren oder wählen gehen. Daraus ist ein allgemeiner Hass auf die Eliten entstanden. Und das war einer der Gründe, warum viele Menschen 2018 Bolsonaro gewählt haben, der sich seit Jahren als Gegner der politischen Eliten inszeniert. Und für die jüngeren Menschen kommt noch ein Frustfaktor dazu.
Welchen Frustfaktor meinen Sie?
Die führenden Politiker im Land sind bei den traditionellen Parteien – bei Konservativen wie Linken – über 70 Jahre alt. Das sind seit über vier Jahrzehnten dieselben Menschen. Bei den Linken ist es der frühere Präsident Luiz Inácio Lula da Silva, bei den Konservativen der Ex-Präsident Ferdinando Henrique Cardoso. Wer unter 70 ist, gilt in der brasilianischen Politik noch als jung. Und der rechtsradikale Präsident Bolsonaro ist immerhin 65. Die anderen Parteien müssen jünger werden, wenn sie gerade jüngere Menschen wieder erreichen wollen.
Präsident Bolsonaro verharmlost Covid-19 seit Monaten als "gripezinha", als kleine Grippe. Inzwischen sind die Infektionszahlen hochgeschnellt – und jetzt ist er selbst erkrankt. Heftiger kann Missmanagement in der Pandemie doch eigentlich nicht laufen, oder?
Ja, wobei man auch sagen muss: Bolsonaro hat einen Plan.
Welchen Plan meinen Sie?
Bolsonaro hat von Anfang an gesehen, dass Ausgangssperren der Wirtschaft massiv schaden würden. Und in Lateinamerika ist es seit Jahrzehnten so, dass Präsidenten in heftigen Wirtschaftskrisen Schwierigkeiten bekommen, an der Macht zu bleiben. Das hat Bolsonaro gesehen und sich gedacht: Die einzige Art, diese Krise zu überleben ist, keine Verantwortung zu übernehmen. Er hat mit seinen Fans Verschwörungsmythen geteilt, er hat keine Kontaktverbote erlassen. Die Verantwortung für diese Verbote haben jetzt regionale Gouverneure und Bürgermeister.
Glauben Sie, dass Bolsonaros Plan aufgehen kann?
Zumindest ist er davon überzeugt. Bolsonaro kann 2022, bei den nächsten Präsidentschaftswahlen, sagen: Die Pandemie war doch gar nicht so schlimm, für die Wirtschaftskrise sind die Gouverneure und Bürgermeister verantwortlich. Wenn am Ende 150.000 Menschen sterben, kann Bolsonaro sagen: 'Seht ihr, die Kontaktverbote haben doch nichts gebracht'. Und wenn es nicht so viele Tote werden, kann er sagen: 'Seht mal, so schlimm war doch die Krankheit nicht.'
Keine Verantwortung übernehmen und die Wirtschaft offen halten, koste es, was es wolle: Das klingt sehr ähnlich wie das, was US-Präsident Donald Trump momentan macht. In den USA weisen Umfragen ja zumindest stark darauf hin, dass Trump seine gravierenden Fehler im Umgang mit der Pandemie schaden. Ist das in Brasilien für Bolsonaro auch so?
Ja, auf jeden Fall. Bolsonaro haben 2018 zwei Arten von Wählern gewählt: Seine treuen Fans, das sind geschätzt 15 bis 20 Prozent der Bevölkerung. Und auf der anderen Seite waren es viele Menschen, die gedacht haben, Bolsonaro wird schon unter Kontrolle gehalten werden. Darunter sind auch Familienangehörige von mir. Das sind Menschen, die von Anfang an wussten, dass Bolsonaro verrückt ist – die aber gesagt haben: Wir brauchen unbedingt Erneuerung. Und die nicht für die linke Arbeiterpartei wählen wollten, weil die aus ihrer Sicht das Land runtergewirtschaftet hatte. Und diese gemäßigten Wählern unterstützen Bolsonaro momentan nicht mehr.
Wer sind die zuverlässigen Bolsonaro-Fans, die ihm trotz all dieser Probleme treu bleiben?
Das sind Menschen, die von der Demokratie die Nase voll haben. Die das toll finden, wenn Bolsonaro von der Zeit der Militärdiktatur schwärmt, weil sie vielleicht auch keine Ahnung davon haben, was da zwischen 1964 und 1985 passiert ist. Viele davon sind auch offene Rechtsextreme. Die werden Bolsonaro unterstützen, egal, was er tut. Diese Leute leben auch teilweise in einer Art Paralleluniversum.
Was meinen Sie mit Paralleluniversum?
Wir machen regelmäßig wissenschaftliche Interviews mit Bolsonaro-Anhängern. Und viele davon sind völlig abgekapselt von etablierten Medien und holen sich ihre Informationen nur aus irgendwelchen Propagandakanälen auf sozialen Netzwerken oder Messengerdiensten. Und die glauben dann eben, dass die Pandemie nur eine Erfindung ist, um Bolsonaro oder seinem Freund Donald Trump in den USA zu schaden. Es gab auch schon Fälle von Bolsonaro-Anhängern, die in Krankenhäuser eingedrungen sind, weil sie zeigen wollten, dass die Kranken dort nur Schauspieler sind. Und seltsamerweise bekommt Bolsonaro jetzt, in der schwersten Krise, gerade auch neue Anhänger.
Wer sind diese neuen Bolsonaro-Anhänger?
Das sind viele besonders arme Menschen. Die Regierung Bolsonaro hat eine Art Basis-Einkommen für den ärmsten Teil der Bevölkerung auf den Weg gebracht, das wird zumindest eine Zeit lang ausgezahlt. Diese neue Unterstützung aus armen Bevölkerungsgruppen führt dazu, dass ungefähr 30 Prozent der Brasilianer Bolsonaro unterstützen. Und das sind so viele, dass ein Amtsenthebungsverfahren gegen ihn momentan aussichtslos ist.
Also momentan ist Bolsonaro sicher im Amt.
Ja. Die, die 2018 gegen Bolsonaro gestimmt haben, sehen, dass Brasilien im internationalen Vergleich sehr schlecht dasteht. Aber einem großen Teil der Menschen ist das auch gar nicht klar: Brasilien ist eben ein sehr großes Land, viele Menschen interessiert relativ wenig, was im Rest der Welt passiert. Das ist ähnlich wie in den USA.
Wenn man das alles zusammennimmt: Könnte das am Ende sogar bedeuten, dass Bolsonaro von der Corona-Krise profitiert?
Ja, das ist absolut möglich. Die Opposition ist völlig zerstritten – und das, obwohl Bolsonaro eine echte Gefahr für die Demokratie ist. Er nimmt an Anti-Demokratie-Protesten teil, er greift den Obersten Gerichtshof an. Die Linke ist zersplittert in die Arbeiterpartei – und in neun Parteien, die die Arbeiterpartei bekämpfen. Bei den Konservativen gibt es den zurückgetretenen Justizminister Sergio Moro, der für die einen ein anständiger konservativer Gegner des Präsidenten ist – und für die anderen viel zu nahe an Bolsonaro. Das kann dann dazu führen, dass der brasilianische Politiker 2022 wieder in die Stichwahl gegen die Arbeiterpartei kommt. Und dass dann wieder Menschen, die heute gegen Bolsonaro sind, für ihn stimmen werden – weil sie die Linken nicht wählen wollen.
Sie leben selbst in São Paulo. Wie wirkt sich die Corona-Pandemie auf den Alltag der Menschen aus?
Hier in São Paulo ist das Leben inzwischen relativ normal, die meisten Menschen tragen Masken. Es gab hier Kontaktbeschränkungen, aber keinen harten Lockdown wie in Frankreich oder Italien. Und der Teil der Bevölkerung, der zum Beispiel in den Armenvierteln, den Favelas, lebt, kann auch gar nicht zu Hause bleiben. Diese Menschen müssen aus dem Haus raus, um Trinkwasser zu holen, sie müssen draußen arbeiten, um etwas zu essen zu haben. Auch Bolsonaros Basiseinkommen werden manche dieser Menschen gar nicht bekommen, weil ihnen die nötigen Dokumente fehlen.
Und wie ist die Versorgung der Menschen, die an Covid-19 erkranken?
Das hängt davon ab, ob sie Zugang zu privaten Krankenhäusern haben. Wer sich das leisten kann, wird gut versorgt. Aber die öffentlichen Kliniken, auf die viele angewiesen sind, sind völlig überlastet, vor allem in ländlichen Regionen. Und das Schlimme ist: Obwohl die Zahlen der Corona-Infizierten und der Toten weiter steigen, wird in vielen Städten wieder alles geöffnet. Und das hat schlimme Folgen für die Gesellschaft.
Was meinen Sie damit?
Viele Leute sind abgehärtet. Tausend Tote mehr oder weniger, das macht inzwischen für viele keinen großen Unterschied mehr.
Wie heftig sind die wirtschaftlichen Schäden für die Menschen?
Brasilien hatte schon vor Corona große wirtschaftliche Probleme, so wie viele andere Länder in Lateinamerika, wie Ecuador, Bolivien und besonders heftig Venezuela. Diese Krise wird jetzt noch schwerer.
Kann das für Bolsonaro gefährlich werden, wenn die Wirtschaftskrise bei den Menschen voll ankommt?
Ja, definitiv. Momentan trauen sich viele Menschen aus Angst vor dem Virus nicht auf die Straße, um zu protestieren. Aber sobald das vorbei ist, werden wir eine Flut von Protesten sehen. Und dann kann es auch zu einem Amtsenthebungsverfahren kommen. Dazu kommt: Wenn sein Freund Donald Trump im November die Präsidentschaftswahl verliert, dann ist Bolsonaro international ziemlich isoliert. Deswegen schauen auch hier in Brasilien einige sehr interessiert auf die US-Wahlen.