Aminata Touré ist eine politische Pionierin, in doppelter Hinsicht: Seit sie im August 2019 Vizepräsidentin des Landtags von Schleswig-Holstein wurde, ist sie die jüngste Frau, die ein solches Amt je innehatte – und die erste Afrodeutsche.
Die Grünen-Politikerin ist in ihrer Landtagsfraktion Sprecherin für Flucht und Migration, Frauenpolitik und Gleichstellung sowie Verbraucherschutz. Und sie äußert sich regelmäßig in Medien und auf ihren Social-Media-Kanälen zu Rassismus und dem Kampf dagegen.
Watson hat mit Touré über den Tod des schwarzen US-Amerikaners George Floyd durch Polizeigewalt gesprochen, über die politische Energie hinter den Protesten, die Floyds Tötung auch in Deutschland ausgelöst hat – und über die Frage, warum schwarze Menschen es bis heute schwer haben, wirklich gehört zu werden.
"Menschen, die von Rassismus betroffen sind, erzählen seit Jahren, seit Jahrzehnten, seit Jahrhunderten, dass er existent ist. Ich glaube, gerade wird ihnen zugehört."
watson: Frau Touré, was haben Sie gedacht, als Sie vom Tod von George Floyd erfahren haben?
Aminata Touré: Ich habe gedacht: schon wieder so eine fürchterliche Tragödie. Fürchterlich, dass immer wieder schwarze Menschen getötet werden und das Ganze wieder einmal zu keinen Konsequenzen führt. Im zweiten Moment habe ich dann aber gemerkt, wie ganz viel Wut, berechtigte Wut, umgewandelt worden ist in Proteste, in Positionierungen. Das stimmt mich gerade etwas positiver. Ich habe gerade das Gefühl: Da verändert sich etwas.
Was meinen Sie damit?
Es gibt ein ernsthaftes Auseinandersetzen mit dem, was solcher Gewalt zugrundeliegt. Das grundlegende Problem ist Rassismus. Und Menschen, die von Rassismus betroffen sind, erzählen seit Jahren, seit Jahrzehnten, seit Jahrhunderten, dass er existent ist, dass er unseren Alltag beherrscht, dass er uns davon abhält, Dinge zu tun, die wir eigentlich gerne tun würden. Ich glaube, gerade wird ihnen zugehört. Das muss man transformieren in krasse, strukturelle Veränderung.
Auch in Deutschland gibt es immer wieder dokumentierte Fälle von Rassismus bei Polizei und Sicherheitsbehörden. Könnte so etwas wie der Fall George Floyd auch hier passieren?
Das sind Spekulationen, an denen ich mich nicht beteiligen will. Aber selbst in den USA geht es ja nicht nur um die Polizeigewalt. Die Gewalt ist nur die Spitze des Eisbergs. Es geht um institutionellen, gesellschaftlichen Rassismus, den es dort seit Jahrzehnten, Jahrhunderten gibt. Seit Beginn der Sklaventransporte in den USA hat es nicht aufgehört, dass schwarze Menschen schlechter behandelt werden, dass sie Gewalt erleben, schlechtere Chancen im Leben haben, häufiger im Gefängnis sitzen. Das sind harte Fakten. Man kann die Situation nicht 1:1 übertragen – aber wir alle, die in Ländern leben, wo wir die Minderheit ausmachen, wissen, dass wir solchen Rassismus erleben. Und selten hört man uns zu.
Dieser Vorwurf, dass schwarzen Menschen zu wenig zugehört wird, hat sich in dieser Woche verdichtet in der Diskussion um die Talkshow "Maischberger. Die Woche" - bei der eine Gruppe Weißer über den Rassismus in den USA diskutieren sollte. War die Kritik berechtigt?
Ja. Ich habe mich an dieser Kritik öffentlich beteiligt – und gesagt, dass ich selbst viele schwarze Expertinnen und Experten kenne, die man dazu einladen könnte. Innerhalb der schwarzen Community in Deutschland kennen wir diese Expertinnen und Experten auch, wir greifen auf deren Wissen zurück. Und bei Diskussionen wie jetzt um "Maischberger" denken wir uns dann jedes Mal: Im Zeitalter von Social Media so zu tun, als ob man nicht wüsste, wo diese Expertinnen und Experten sitzen, ist schon fragwürdig. Ich könnte aus dem Stegreif 15 Menschen nennen, die ich gerne in so einer Sendung sehen würde. Klar, das ist die freie Entscheidung jeder Sendung. Aber dann muss man sich eben nicht wundern, wenn Kritik kommt, dass wir als People of Color wieder nicht mitgesehen worden sind.
"Ich möchte, dass unsere deutsche Politik sich positioniert zu dem Rassismus, der hier in Deutschland stattfindet. Und zwar laut, klar und hörbar."
Wurden Sie selbst dieser Tage für eine Talkshow angefragt?
Ich habe Anfragen von Zeitungen bekommen, von Podcasts, ich komme gerade kaum hinterher, alle Anfragen zu beantworten. Aber es gibt eben viele andere neben mir. Und deren wissenschaftliche Expertise wird außerhalb unserer Community einfach kaum wahrgenommen.
Außenminister Heiko Maas hat als Reaktion auf die Proteste erst eher weich seine "Hoffnung auf Veränderung" ausgedrückt – und dann immerhin einen "Schulterschluss gegen radikale Extremisten" gefordert. Reicht Ihnen das?
Nein, ehrlich gesagt nicht. Die Reaktion ist für mich nicht wahrnehmbar.
Was müsste von der Bundesregierung kommen?
Eine Positionierung zu dem was die Trump-Regierung tut, wie auch immer die geartet ist. Und vor allem auch zu den Protesten hier im Land: Da gehen gerade tausende Menschen auf die Straße – und wo sind die Mitglieder der Bundesregierung, die sich dazu positionieren? Wir können noch so viel reden darüber, dass wir eine vielfältige Gesellschaft sind – aber dann muss sich eine Bundesregierung in einer solchen Situation eben auch mal klar positionieren. Mir reicht es da nicht, wenn dann die SPD sich auf Twitter zum Antifaschismus bekennt. Cool, aber ich möchte, dass unsere deutsche Politik sich positioniert zu dem Rassismus, der hier in Deutschland stattfindet. Und zwar laut, klar und hörbar. Ich fühle nicht, dass das ausreichend passiert.
Was können weiße Menschen tun, die jetzt ihre Solidarität mit von Rassismus Betroffenen ausdrücken wollen?
Was uns helfen würde: Wenn jeder Einzelne sich auf eine antirassistische Bildungsreise begeben würde. Wenn er sich zum Beispiel das sehr kompakte Buch "Exit Racism" von Tupoka Ogette durchlesen würde. Oder beispielsweise das Buch von Alice Hasters, Bücher von Natasha A. Kelly oder May Ayim. Oder ein Album des Rap-Kollektivs BSMG anhören würde, in dem es um schwarze deutsche Geschichte geht. Ich will damit sagen: Es fehlt nicht an Stimmen, es fehlt am Zuhören. Wer helfen will, kann sich hinsetzen und zuhören – und zwar nicht die Form des Zuhörens, bei der man gleich ein Gegenargument bringt. Das brauchen wir. Und wir brauchen, dass sich Menschen aus der Mehrheitsgesellschaft positionieren, wenn Rassismus stattfindet. Dass sie, wenn sie eine rassistische Äußerung hören, sie nicht weglächeln, sondern sagen: Das geht mir zu weit. Wenn das nicht passiert, wird sich auch in dieser Gesellschaft nichts ändern. Ja, was in den USA passiert, ist schlimm. Aber auch hier macht es der Rassismus vielen Menschen schwer, den Alltag zu stemmen.
"Ich bin jedes Mal froh, wenn Menschen durch meine Arbeit lernen, dass Rassismus da ist."
Wann hatten Sie zuletzt ein Erfolgserlebnis im Kampf gegen Rassismus?
Das größte war sicherlich, einen Aktionsplan gegen Rassismus in den Koalitionsvertrag der Jamaika-Koalition in Schleswig-Holstein hineinzuverhandeln – und seit diesem Tag dafür streiten zu können. Vor ein paar Monaten, als ich Vize-Landtagspräsidentin wurde, habe ich auch nicht gedacht, eine Vorlesung halten zu können zu schwarzem Leben und kolonialen Kontinuitäten – mit 400 Menschen, die zugehört und sich weitergebildet haben. Ich bekomme immer wieder Rückmeldungen auf Reden oder Gastbeiträge, in denen sich Menschen dafür bedanken, dass sie bestimmte Dinge verstanden haben. Es ist Teil meiner Arbeit, zu versuchen, dass wir uns nicht spalten lassen als Gesellschaft. Ich bin jedes Mal froh, wenn Menschen durch meine Arbeit lernen, dass Rassismus da ist – und jedes Mal, wenn sich Betroffene durch sie gestärkt fühlen, sich selbst in neue Räume wagen, in denen wir bisher unterrepräsentiert sind. Das sind Momente, in denen ich weiß, warum ich diesen Job mache.
Auf Ihrer Website steht der Leitsatz "Für eine gleichberechtigte Gesellschaft". Was müsste passieren, damit Sie sagen könnten: "Wir haben das Ziel erreicht"?
Wir wären an einem guten Punkt, wenn alle staatlichen Institutionen zum Thema Rassismus fort- und weitergebildet würden. Wenn die Zivilgesellschaft sich damit auseinandersetzen würde. Wenn sie bereit wäre, zuzuhören, zu lernen. Wenn in den Lehrplänen an allen Bildungseinrichtungen Rassismus auftauchen würde. Wenn wir alle dafür sensibilisiert wären. Wir brauchen Strukturen, die das ermöglichen, aber momentan gibt es die nicht. Nicht jede und jeder muss Rassismus-Experte werden. Aber die Kennzeichen müsste man kennen, um Ungerechtigkeiten zu erkennen – mir geht es da auch um die Rechte von Homosexuellen, von transgeschlechtlichen Menschen, von Frauen. Es gibt zu viele Menschen, die jeden Tag kämpfen müssen mit der Art, wie sie sind.
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