Eine Quizfrage zu Beginn. Bitte nicht googeln, die Antwort ist nur eine Scrollbewegung entfernt.
Also:
In welchen beiden EU-Staaten ist die Arbeitslosenquote am niedrigsten?
Finnland vielleicht? Schweden könnte auch sein, oder? Deutschland, Österreich, Luxemburg, Niederlande?
Die richtige Antwort:
Erstens Tschechien.
Nur 2,2 Prozent der Bevölkerung sind hier mit Stand Januar 2022 offiziell ohne Job.
Zweitens, knapp dahinter: Polen, mit einer Quote von nur 2,8 Prozent. Arbeitsmarktexperten sprechen bei solchen Zahlen von Vollbeschäftigung.
Moment mal: Tschechien und Polen? Die zwei Staaten, in die Brandenburgerinnen und Ostbayern zum Tanken fahren? Diese Länder mit den seltsamen Sprachen, die in Deutschland fast niemand spricht? Diese "Ostblock-Staaten", wie sie viele bis heute nennen?
Jepp, Tschechien und Polen. Die beiden Staaten haben seit dem Zusammenbruch der kommunistischen Regime in Prag und Warschau einen bemerkenswerten wirtschaftlichen Aufstieg geschafft. Allein zwischen 2010 und 2020 sind die Reallöhne in Tschechien um fast ein Viertel, in Polen um fast ein Drittel gestiegen.
Das Problem ist: In Deutschland haben weite Teile der Öffentlichkeit davon nichts mitbekommen.
Die Ignoranz für Mittel- und Osteuropa ist hierzulande erschütternd. Und wie schädlich diese Ignoranz ist, wird gerade so deutlich wie seit Jahrzehnten nicht mehr.
In diesen schrecklichen Tagen, in denen das russische Regime um Wladimir Putin die ukrainischen Städte Kyjiw, Charkiw und Cherson bombardieren lässt.
Es sind Städte im Herzen Osteuropas. Städte, die viele Deutsche, die in Palma de Mallorca, Florenz oder London jede zweite Kneipe kennen, bis vor zwei Wochen nicht auf der Landkarte gefunden hätten.
Das deutsche Unwissen über die östlichen Nachbarn hat Putin geholfen.
Seit Jahren haben Regierungsvertreter von Polen bis Estland, von Tschechien bis zur Ukraine, ihre westlichen Nachbarn gewarnt vor der Aggressivität Putins. Sie haben ihre Nato-Partner um mehr Soldaten gebeten, um härtere Sanktionen, nachdem Russland im Jahr 2014 auf das Völkerrecht gespuckt und sich ein Stück ukrainisches Staatsgebiet unter den Nagel gerissen hat.
Sie haben Deutschland darum gebeten, endlich die Gaspipeline Nord Stream 2 einzustampfen, weil sie wussten, dass Moskau damit die EU erpressen würde.
In Berlin, Paris, Rom hat man ihre Bedenken weggewischt.
Der ehemalige polnische Außenminister und heutige Europaabgeordnete Radosław Sikorski – das ł in seinem Vornamen wird übrigens wie ein englisches "w" ausgesprochen – hat dieser Tage gegenüber dem Nachrichtenportal "politico.eu" Dampf abgelassen. Sikorski ist einer derjenigen, die immer wieder scharf gewarnt haben vor Putins Aggressivität. Führende Politiker in Deutschland spulten dagegen selbst dann noch ihre Phrasen von den "berechtigten Sicherheitsinteressen Russlands" ab, als schon hunderttausende russische Soldaten die Ukraine einkreisten.
Sikorski hat die westlichen Reaktionen auf die Warnungen aus Warschau, Prag, Kyjiw und Riga jetzt so zusammengefasst:
Das sagt heute niemand mehr.
Die Perspektive zu den östlichen Nachbarn vernachlässigen in Deutschland weite Teile der Öffentlichkeit: in der Politik, in den Medien, in der Wirtschaft.
Es fängt ja schon bei der Sprache an: Bei Leuten, die Tschechien und Polen als "Osteuropa" bezeichnen – obwohl beide Staaten geografisch, politisch, kulturell und historisch eindeutig mitteleuropäisch sind. Es gibt Menschen, die Russland als "Nachbarn" Deutschlands bezeichnen – obwohl zwischen deutscher Ostgrenze und Sankt Petersburg immerhin noch Polen, Litauen, Lettland und Estland liegen. Dublin liegt deutlich näher an Deutschland als Moskau. Aber hat jemand Irland schon einmal als "Nachbarn" bezeichnet?
Sie überspringen die Länder zwischen Berlin und Moskau einfach und blicken direkt nach Russland: auf dieses riesige Land, das manche oberflächlich romantisieren, mit schmalzigen Klischees von der "russischen Seele" und vom "russischen Bären". Andere, gerade deutsche Linke, blicken auf Russland mit dem Blick derer, die einmal in die kommunistische Sowjetunion verliebt waren: das Riesenreich, das sich bis zu seinem Untergang im Jahr 1991 als Anwältin der Unterdrückten der Welt inszenierte.
In Wahrheit aber war die Sowjetunion, kurz UdSSR, im Inland ein brutaler Polizeistaat, der Andersdenkende in Straflagern einsperrte. Und im Ausland eine imperialistische Großmacht, die in Prag, Kabul oder Ost-Berlin Panzer rollen und Soldaten aufmarschieren ließ, wenn die Bürger in einem unterworfenen Staat mal keinen Bock mehr hatten auf Planwirtschaft und Diktatur des Proletariats.
Weil sie die Länder zwischen Deutschland und Russland überspringen, setzen manche außerdem die Sowjetunion mit Russland gleich.
Das ist arrogant und respektlos.
Zur Sowjetunion gehörten neben Russland 14 weitere, heute unabhängige Staaten: von Estland bis Kasachstan, von Georgien bis Kirgisistan.
Die Gleichsetzung der Sowjetunion mit Russland hat dramatische Folgen: Sie lässt erschreckend viele Menschen in Deutschland zum Beispiel vergessen, dass Wehrmacht und SS im Zweiten Weltkrieg die wohl grausamsten Verbrechen auf sowjetischem Gebiet im Baltikum, in Belarus und der Ukraine anrichteten.
Dieses Vergessen hat wiederum dazu geführt, dass manche Politiker Waffenlieferungen an die Ukraine bis zur russischen Invasion mit diesem Argument abgelehnt haben: Es wäre doch 80 Jahre nach den Nazi-Verbrechen unerträglich, wenn mit deutschen Waffen auf russische Soldaten geschossen würde.
Was ukrainischen Soldaten geschieht, deren Vorfahren mindestens genauso unter den Nazis gelitten haben, spielt in dieser Argumentation keine Rolle.
Die Ignoranz gegenüber Mittel- und Osteuropa führt auch dazu, dass viele das wohl beliebteste Argument der Putinfreundinnen und Putinverständnisvollen regungslos hinnehmen: das mit der Nato-Osterweiterung.
Von der Osterweiterung des Militärbündnisses, so geht dieses Argument, habe sich Putin so schrecklich bedroht gefühlt, dass er ja reagieren musste. Was in diesem Argument nie vorkommt, ist die Sichtweise der Länder Mittel- und Osteuropas, die der Nato seit 1999 beigetreten sind.
Nein, es war nicht die böse Nato, die Mittel- und Osteuropa verschluckt hat. Es war die Mehrheit der Tschechinnen, der Polen, der Esten und der Ungarn, die in die Nato wollten.
In allen Ländern, die zur Nato gekommen sind, hat eine Mehrheit der Abgeordneten im Parlament für den Beitritt gestimmt. In Ungarn gab es 1997 sogar eine Nato-Volksabstimmung: Über 85 Prozent waren für den Beitritt.
Diese Mehrheiten für die Nato gab und gibt es bis heute, weil der größte Teil der Menschen in Prag, Vilnius oder Bukarest schlichtweg keinen Bock mehr hat auf russischen Einfluss.
Wer das verstehen will, sollte sich klarmachen, wie sich die Jahrzehnte der Kontrolle aus Moskau für die Menschen in Polen, Tschechien, im Baltikum oder in der Ukraine angefühlt haben. Und wie sie bis heute nachwirken.
Da war, gut 40 Jahre lang, die alltägliche Angst davor, den Mund aufzumachen. Die Angst vor Spitzeln und Polizisten, die Menschen wegen eines falschen Worts mit einem Federstrich den Job kosten und die Familie ruinieren konnten.
Da war der ungarische Volksaufstand, den sowjetische Panzer 1956 niederwalzten. Die Soldaten aus sozialistischen Staaten von DDR bis UdSSR, die die Demokratiebewegung namens Prager Frühling in der Tschechoslowakei im August 1968 hinrichteten. Das Kriegsrecht, das die Kommunistische Partei in Polen 1981 verhängte und so versuchte, die demokratische Gewerkschaft Solidarność zu zerquetschen.
Kurz gesagt: Es führt eine direkte Linie von den Wunden von 1956, 1968, 1981 zur Nato-Osterweiterung.
Erik Tabery, Chefredakteur des tschechischen Magazins "Respekt", hat in seinem Leitartikel (unter dem Titel "Pravá tvář Adolfa Putina", zu Deutsch "Das wahre Gesicht des Adolf Putin") zum russischen Angriff auf die Ukraine das geschrieben: Man müsse sich in Tschechien wohl erneut beim früheren Staatspräsidenten Václav Havel und anderen Politikern der 1990er-Jahre dafür bedanken, dass sie das "kurz geöffnete historische Fenster" genutzt hätten, um Tschechien in die Nato und die EU zu führen.
Was Tabery damit sagen will: Die Nato, die viele in Deutschland so gerne verteufeln, ist unsere Garantie dafür, dass die russischen Panzer und Raketenwerfer, die heute vor Kyjiw stehen, nicht bis Warschau und Prag weiterfahren.
Überhaupt, Tschechien: Wie das Trauma der aus Moskau kontrollierten kommunistischen Gewaltherrschaft bis in die Tage des Ukraine-Kriegs nachwirkt, sieht man dort gerade sehr gut.
In der Hauptstadt Prag hat am vergangenen Dienstag ein Benefizkonzert für die Ukraine stattgefunden. Einer der eindrücklichsten Momente: Als Sänger und Filmmusikkomponist Michal Hrůza den in Tschechien legendären Song "Bratříčku, zavírej vrátka" (zu Deutsch „Brüderchen, mach die Tür zu“) sang.
Den Song schrieb der Liedermacher Karel Kryl in der Nacht des 21. August 1968: in den Stunden, in denen die Panzer der Sowjetunion und ihrer Verbündeten die Tschechoslowakei überrollten und die Demokratisierung des Prager Frühlings buchstäblich zerschossen und zermalmten.
Die Jahre nach dem Panzereinmarsch nannte die Kommunistische Partei der Tschechoslowakei (KPČ) zynisch "normalizace", also "Normalisierung": Es war die Rückkehr zur blanken Diktatur, zum Polizeistaat und zur Verfolgung Andersdenkender. Zu einer Tschechoslowakei unter der Fuchtel Moskaus.
Bei dem Benefizkonzert in Prag haben mehrere Künstlerinnen und Künstler die Parallele zwischen der angegriffenen Ukraine heute und der besetzten Tschechoslowakei von 1968 gezogen. Der Chefdirigent der Prager Philharmoniker, Semjon Bytschkow, russischstämmiger Amerikaner, rief ins Publikum:
Der russische Überfall auf die Ukraine hat bei vielen Tschechinnen und Tschechen am kollektiven Trauma des 21. August 1968 gerührt.
Das tschechische Trauma von 1968. Noch so ein Thema, von dem viele selbsternannte deutsche Russlandexperten nicht den Hauch einer Ahnung haben.