Wir immer wieder bedroht: SPD-Gesundheitspolitiker und Arzt Karl Lauterbach. Bild: imago images / Jürgen Heinrich
Meinung
Corona-Frust hin oder her: Karl Lauterbach hat die Buhmann-Rolle nicht verdient
Der SPD-Gesundheitspolitiker überbringt seit Monaten schlechte Nachrichten – und nervt damit Bayern-Trainer Hansi Flick und Millionen Deutsche. Aber hätten mehr Menschen auf ihn gehört, wäre Deutschland viel Frust erspart geblieben.
Hansi Flick gegen Karl Lauterbach: Das ist vermutlich der absurdeste Streit, den Deutschland seit Beginn der Corona-Krise erlebt hat. Der Trainer des deutschen Fußball-Dauermeisters nennt den SPD-Gesundheitspolitiker einen "sogenannten Experten" und wirft ihm und anderen Politikern vor, dass "jeder aus der Situation seinen Profit schlagen will". Flick ist nicht der erste und nicht der letzte prominente Mensch in Deutschland, der sich in der Corona-Krise an Lauterbach abarbeitet.
Karl Lauterbach hat das nicht verdient.
Kritik an prominenten Politikern ist wichtig. Kritik muss jeder Mensch aushalten können, der ein Bundestagsmandat ausübt. Und erst recht Karl Lauterbach, der mit einer bemerkenswerten Ausdauer von Talkshow zu Talkshow wandert und Interviewfragen beantwortet. Seit Monaten spricht der Gesundheitspolitiker unpopuläre Forderungen aus, warnt vor zu viel Gelassenheit im Umgang mit dem Coronavirus. Es sind selten beruhigende Worte.
Karl Lauterbach kriegt aber momentan viel mehr ab als die Kritik an seinen Forderungen und Auftritten. Er ist der Buhmann, an dem viele Menschen ihren Frust entladen.
Ja, man kann finden, dass ein prominenter Politiker wie Lauterbach in Krisenzeiten mehr Optimismus verbreiten sollte. Man sollte dabei aber zweierlei berücksichtigen:
Lauterbach kennt sich mit ansteckenden Krankheiten wie Covid-19 so gut aus wie nur wenige andere Menschen in Deutschland. Er ist Arzt, Gesundheitsökonom und Epidemiologe, unterrichtet unter anderem an der School of Public Health der Harvard-Universität. Seit Beginn der Coronakrise studiert er offensichtlich intensiv wie kaum ein zweiter Politiker die Fachliteratur zum Virus. Und er teilt sein Wissen und seine Meinung dazu, über seinen Twitter-Account, in Interviews und in Talkshow-Studios. Für diesen Einsatz hat er Respekt verdient.
Lauterbach ist kein Minister oder Staatssekretär. Seine Aufgabe ist es nicht, bei den Bürgern mit netten Worten für die Politik der Bundesregierung zu werben. Seine Aufgabe als Abgeordneter ist es, der Regierung auf die Finger zu schauen, ihr Ratschläge zu geben, sie zu kritisieren. Und das tut er seit einem Jahr.
Bayern-Coach Hansi Flick ist offensichtlich einer der Menschen, denen das auf die Nerven geht. Der Auslöser von Flicks verbalem Angriff auf Lauterbach war, dass der SPD-Politiker die Sonderstellung des Profifußballs in der Corona-Krise kritisiert hatte: die Verlegungen von Europapokal-Partien von einer Ecke Europas in die andere, die Einreise des Corona-positiven Thomas Müller aus Katar nach Deutschland. Lauterbach ist nicht der erste, der diese Privilegien kritisiert. Es mag menschlich nachvollziehbar sein, dass Flick darauf mit einem verbalen Angriff reagiert. Es hat aber eine brandgefährliche Nebenwirkung: Denn auch wenn Flick das sicherlich nicht will, bestärkt er damit auch diejenigen, die in Lauterbachs digitale und analoge Postfächer seit Monaten Drohungen, Beschimpfungen und widerlichste Hassrede kübeln.
Andererseits gehört Hansi Flick zu den Millionen Menschen, die sich nach Normalität sehnen. Die sich volle Fußballstadien, Geschäfte und Flugzeuge herbeisehnen, die Papa oder Oma wieder ohne Angst umarmen wollen. Karl Lauterbach hat aber seit Monaten immer wieder die eine, unbequeme wie auslaugende Botschaft: Wir wissen nicht, wann diese Normalität wiederkommen.
Das ist aber nicht Lauterbachs Schuld. Im Gegenteil. Lauterbach hat – wie der Chefvirologe der Berliner Charité Christian Drosten – seit Beginn der Pandemie immer wieder Recht behalten mit seinen vermeintlich nervtötenden Botschaften. Im vergangenen September warnte Lauterbach, auf Deutschland könnten 5.000 Corona-Fälle pro Tag zukommen, wenn die Regeln zur Maskenpflicht nicht verschärft und die Teilnehmerzahl von Veranstaltungen nicht verringert würden.
Entspanntere Politiker wie FDP-Bundesvize Wolfgang Kubicki taten das als unbegründete Panik ab. Bis Anfang November lief das gelockerte Leben in Deutschland fast ungeändert weiter. Später, zur Weihnachtszeit, wurden in Deutschland pro Tag 20.000 Menschen positiv getestet, viermal mehr, als der angebliche Panikmacher Lauterbach befürchtet hatte.
Hätte man auf manche Ratschläge Lauterbachs früher gehört, wäre dem Land viel Corona-Frust erspart geblieben. Auch das gehört zur Wahrheit.
Was viele nicht wahrhaben wollen: Auch ein Jahr, nachdem die Corona-Krise Deutschland erwischt hat, gibt es keine schnellen Lösungen. Weiter sterben zu viele Menschen an Covid-19, weiter ist es nicht zu verantworten, Menschen ohne Hürden reisen, shoppen, abends weggehen zu lassen. Auch dafür kann aber Karl Lauterbach nichts. Frust an ihm auszulassen, bringt die Normalität keinen Zentimeter näher.
Hilfreicher, um diese hoffentlich letzten Wochen des Corona-Ausnahmezustandes durchzustehen, wäre etwas Anderes: der Blick auf die guten Nachrichten.
Da ist die Impfkampagne, die – bei allem Stottern – läuft. Immerhin 1,7 Prozent der Bevölkerung hat inzwischen zwei Impfdosen gegen die Krankheit Covid-19 bekommen. Deutschland ist bei der Quote der Zweitimpfungen im internationalen Vergleich auf Platz 20. Das ist kein Spitzenplatz, aber auch deutlich mehr als in anderen großen europäischen Ländern wie Frankreich (0,9 Prozent) oder Großbritannien (0,8). Und die Impfkurve wird in den kommenden Wochen wahrscheinlich deutlich steiler ansteigen, wenn mehr und mehr Impfstoff geliefert wird.
Da sind die sensationell guten Zahlen zur Wirksamkeit des Biontech-Pfizer-Impfstoffs. In Israel zeichnet sich ab, dass die Covid-19-Erkrankungen bei geimpften Menschen drastisch sinken, die schweren Verläufe noch stärker.
Und bei allem Jammern über das angebliche "Impfchaos" sollte man eines bedenken: Dass Deutschland darüber schon streiten kann, ist eigentlich eine Sensation. Nie zuvor ist es Menschen gelungen, einen hochwirksamen Impfstoff für eine neue Krankheit binnen weniger Monate zu entwickeln. Geschweige denn mehrere.
Die Corona-Krise wird trotzdem noch eine Weile anstrengend bleiben, klar. Karl Lauterbach wird weiter davor warnen, zu schnell nachlässig zu werden. Das wird viele aufregen. Aber Politiker, die niemandem auf die Nerven gehen, machen selten einen guten Job.
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