Die Debatte im Bundestag um eine mögliche Impfpflicht ist an Albernheit kaum zu überbieten. Und sie ist letztlich vorerst gescheitert: Keiner der Anträge hat eine Mehrheit erreicht. Wie die gefährlich große Impflücke in Deutschland geschlossen werden soll, bleibt erst einmal offen.
Wäre das Thema nicht so ernst, könnte tatsächlich über das Verhalten einiger Abgeordneter gelacht werden. Es ist aber ernst, aktuell sterben täglich hunderte Menschen an Covid-19. Statt zu lachen über die Sturheit und Renitenz ganzer Fraktionen, kann also nur verzweifelt der Kopf geschüttelt werden.
Natürlich: Hat die Impfpflicht im Bundestag keine Mehrheit, so ist das eine demokratische Entscheidung. Ein Entschluss der Parlamentarier, der zu akzeptieren ist.
Aber: Hat eine Impfpflicht im Bundestag keine Mehrheit, weil eine Fraktion zu hungrig ist, sich selbst zu beweisen, so ist das eine demokratieschädliche Entscheidung. Ein Gebärden der Parlamentarier, das zu kritisieren ist.
Und die Schuld an diesem Schaden tragen die Abgeordneten der Union.
296 Abgeordnete haben für den Kompromiss-Gesetzentwurf aus den Ampel-Fraktionen gestimmt. 378 dagegen.
So weit, so gut.
Bei einer solch medizinethisch heiklen und schwierigen Fragen ist es besonders wichtig, dass Abgeordnete so abstimmen, wie sie es mit ihrem Gewissen vereinbaren können. Das bedeutet aber auch: Sie müssen aus Gewissensgründen abstimmen. Nicht aus parteitaktischen.
Bei jenen, die gegen die Impfpflicht ab 60 Jahren gestimmt haben, handelt es sich unter anderem um die Mitglieder der Unionsfraktion. Und das, obwohl die Gruppe der Ampel-Politikerinnen und -Politiker viele Punkte aufgenommen hatte, die auch die Union in ihrem Vorschlag verwurstet hatte. Das Impfregister zum Beispiel, das der Union in den vergangenen Monaten heilig geworden zu sein scheint.
Die Impfpflicht ab 60 Jahren war sicherlich weder der Traumvorschlag der Gruppe um Heike Baehrens (SPD) noch der um Andrew Ullmann (FDP). Baehrens und ihre Mitstreiterinnen wollten eigentlich eine Impfpflicht ab 18 Jahren, Ullmann und seine Gruppe eine ab 50 Jahren plus eine Beratungspflicht für alle Erwachsenen. Da aber keiner der beiden Entwürfe eine Mehrheit bekommen hätte, haben die Gruppen versucht sich zu einigen.
Sie haben sicherlich gerungen, gestritten und argumentiert. Aber letzten Endes haben sie einen Entwurf vorgelegt, der die besonders vulnerable Gruppe der Über-60-Jährigen im Herbst schützen könnte. Der dafür sorgen könnte, extrem schwere Verläufe zu vermeiden und die Intensivstationen zu entlasten. Vor allem haben sie einen Entwurf vorgelegt, der einen Kompromiss darstellt – eine Einigung, die alle mittragen konnten, die für eine Impfpflicht waren.
Kompromisse finden: eines der wichtigsten Elemente einer parlamentarischen Demokratie.
Und ein Punkt, den die Union offensichtlich nicht begriffen hat. Denn spätestens beim Schlagabtausch zwischen Rolf Mützenich (SPD) und Sepp Müller (CDU) muss auch dem letzten im Raum klargeworden sein: Natürlich hatte es Gespräche gegeben. Der Vorwurf der Union, die Ampelparteien hätten Gespräche zur Klärung verhindert, wurde so als Lüge enttarnt. Und es lässt zumindest die Vermutung aufkommen, dass es sich bei der Verweigerungshaltung der Union um verletzten Stolz handelt.
Müller sagt nämlich zu Mützenich:
Auf die direkte Frage von Janosch Dahmen (Grüne), warum Müller dem Kompromiss-Gesetzentwurf nicht zustimmen wolle, obwohl die wichtigen Punkte des Vorsorgeantrags der Union darin aufgenommen seien, sagt der CDUler: "Sie wollen eine Beratungspflicht, die wir nicht möchten, weil sie nicht umsetzbar ist." Außerdem sei eine Impfpflicht zum jetzigen Zeitpunkt nicht verhältnismäßig und nicht geeignet.
Was die Union also immer noch nicht begriffen hat: Kommt eine Impfpflicht erst, wenn die Lage noch schlimmer ist als heute, ist es zu spät. Denn was wir wissen ist, dass es mehrere Monate dauert, bis die Menschen durchgeimpft sind. Schließlich müssen Abstände zwischen den Impfungen eingehalten werden.
In der Debatte präsentiert die Union vor allem die Kompetenz bockiger Kleinkinder. Und sie gipfelt in dem Schreiben des Fraktionsvorsitzenden Thorsten Frei, der seiner Fraktion einen Fraktionszwang aufgelegt hatte. Das Redaktionsnetzwerk Deutschland zitiert Frei folgendermaßen:
Und das geht gar nicht.
Erst recht nicht, wenn es in einer medizinethischen Debatte um das eigene Gewissen der Abgeordneten geht. Und auch nicht, wenn es um eine Debatte geht, in der Parteipolitik gänzlich egal sein sollte. In der es darum geht, wie Deutschland in den nächsten Corona-Herbst stolpern wird. Und wie in den vergangenen beiden Jahren, in denen die Union den Gesundheitsminister gestellt hat, entscheiden sich CDU und CSU für den Blindflug. Na herzlichen Glückwunsch.
Dass die Hauptklientel dieser ehemaligen Volkspartei genau jene vulnerable Gruppe ist, die nun möglicherweise in wenigen Monaten die Intensiv- und Normalstationen der Krankenhäuser flutet, scheint den Abgeordneten völlig egal zu sein. Es geht einzig und allein um Parteipolitik.
Noch immer hat die arrogante Union ihren Platz auf der Oppositionsbank nicht gefunden. Noch immer hat sie nicht verstanden, dass es ihr keinen Zacken aus der Krone bricht, anderen Fraktionen zuzustimmen, wenn es die Lage erfordert.
Es bleibt nur zu hoffen, dass den Konservativen dieser Schuss ausreicht. Dass sie sich so für ihr Verständnis genug profiliert haben und der Gesundheitsausschuss nun gemeinsam in geklärter Luft einen neuen Entwurf erarbeiten kann. Ohne, dass sich die Abgeordneten von CDU und CSU weiterhin wie ein Haufen quengelnder Kleinkinder verhalten. Denn unvorbereitet und ohne jeglichen Plan in den Herbst zu stolpern, darf im dritten Jahr der Pandemie keine Option mehr sein.
Das Parlament hat eine Aufgabe: Deutschland zu dienen. Es wird Zeit, dass die Parlamentarier von ihren hohen Rössern steigen und sich endlich um die Lösung der Probleme bemühen. Anstatt sich weiterhin in parteipolitischem Genörgel zu verlieren.