Jens Spahn ist für viele Menschen ein Mysterium. Als offen homosexueller Mann Ende 30, der von der Modernisierung der deutschen Gesetzgebung, der Alt-68er- und der feministischen Bewegung profitiert hat und entkriminalisiert wurde, positioniert Spahn sich politisch immer wieder am konservativen Rand der CDU.
Während er auf wirtschaftlicher Ebene als Freund von Hartz IV die Eigenverantwortung jedes Einzelnen hochhält, mahnt er bei eher moralischen Fragen zur staatlichen Kontrolle.
Gerade ist das Recht auf Informationen für Schwangerschaftsabbrüche reformiert worden. Der Paragraf 219a wurde nicht abgeschafft, die Informationslage für Betroffene soll nun aber verbessert werden. Die SPD hatte ursprünglich für die Abschaffung des Abtreibungsverbots plädiert, doch damit stießen sie bei Gesundheitsminister Spahn auf taube Ohren. Egal, wie jeder einzelne Mensch zu Abtreibungen steht: Der Staat will sie weiterhin als Sonderfall behandeln. Eine Beratung für Schwangere vor einem Abbruch ist nach wie vor Pflicht. Die sexuelle Selbstbestimmung liegt also nicht nur in den Händen der Betroffenen, sondern auch bei staatlichen Stellen. Das ist auch der Standpunkt, für den Jens Spahn eingetreten ist.
Bereits vor der Debatte um Artikel 219a äußerte sich Spahn auch gegenüber der vaginalen Verhütung kritisch, weil er die "Pille danach" nicht rezeptfrei zugänglich machen wollte. Diese seien "keine Smarties".
Für Spahn endet die Eigenverantwortung insbesondere bei Frauen da, wo Verhütung und Familienplanung ins Spiel kommen. Offenbar muss, nach Spahn, der Staat bei diesen Themen mitreden.
Obwohl es Impfungen gibt, erkranken Kinder in Deutschland immer wieder an Masern. Besonders groß ist die Ansteckungsgefahr in Gemeinschaftseinrichtungen wie Schulen und Kitas. Viele Eltern lassen ihre Kinder heute nicht mehr gegen Masern impfen, unter anderem weil sie glauben, dass Masern Autismus auslösen kann. Obwohl diese Behauptung in den vergangenen Jahrzehnten immer wieder widerlegt wurde, hält sich das Gerücht. Um möglichst viele Kinder dennoch zu schützen, sieht Jens Spahn die Lösung in einer Impfpflicht:
Da in Deutschland die allgemeine Schulpflicht herrscht, müsste demnach nahezu jedes Kind geimpft werden. Bislang mussten Eltern entscheiden, ob ihr Kind geimpft werden soll oder nicht. Auch hier soll der Staat nach Spahn die Verantwortung übernehmen, die eigentlich Eltern obliegt.
In Deutschland sind zu wenig Menschen bereit, im Falle eines Hirntods ihre Organe zu spenden. Laut Jahresbericht der Stiftung Eurotransplant gab es im Jahr 2017 einen Tiefstand mit etwa 800 Spender. Das waren acht Prozent weniger als 2016. Immer wieder gab es Ermittlungen wegen Korruption: Patienten wurden gegen Geld auf der Empfängerliste höher eingestuft, um schneller an Organe zu kommen. Laut einer Statistik von "RODaT" lag die durchschnittliche Anzahl postmortaler Organspender 2017 beispielsweise in Spanien bei 46,9 Prozent und in Deutschland nur bei 9,7 Prozent.
Doch wie soll dieses Problem behoben werden? Jens Spahn plädiert für die Organspenderpflicht: Eine Gesetzesänderung soll die "Doppelte Widerspruchslösung" einführen. Das bedeutet: Jedem deutschen Staatsbürger, der Organe spenden könnte, werden diese auch entnommen. Es sei denn, die Person hat konkret in einer Widerspruchsregelung widersprochen. Damit wäre jede Person deutscher Staatsangehörigkeit gezwungen, sich damit auseinanderzusetzen. Der Gesetzesentwurf wurde am Montag vorgestellt.
Kritiker sehen diesen Vorschlag nicht mit dem Grundgesetz vereinbar und die körperliche Unversehrtheit über den Tod hinaus in Gefahr. Die "Doppelte Widerspruchslösung" wäre eine Kehrtwende im bislang selbstlosen Prozess des Organspendens. Schließlich bedeutet Spende auch freiwillige Abgabe ohne eine Gegenleistung zu erwarten. Es ließe sich argumentieren: Jens Spahn verwendet den Notstand an Spenderorganen, um dem Staat die Macht über die Körper seiner Bürger zu verleihen.
Nur Jens Spahn weiß, ob er aus Überzeugung handelt oder einfach gerne polarisiert. Sollte seine Strategie der Aufmerksamkeit dienen, geht sie auf: In jeder großen, gesellschaftlichen Debatte der letzten zwei Jahre ist auch Jens Spahns Name gefallen.
Wenn Spahn nur bei wirtschaftlichen Themen auf die Eigenverantwortung pocht, in moralischen Punkten aber den gesetzgebenden Moralapostel spielt, muss er sich den Vorwurf der Doppelmoral gefallen lassen.