Seit einigen Wochen hat Deutschland eine neue Streitfrage – und zwar die, ob man überhaupt noch frei streiten darf. Anlass für die Debatte um die Meinungsfreiheit waren gleich eine Reihe von Umfragen in diesem Jahr, aus denen hervorgeht, dass eine Mehrheit der Deutschen meint, man dürfe bestimmte Themen in Deutschland nicht mehr ansprechen.
In der ZDF-Sendung von Markus Lanz sprach der Politikwissenschaftler Karl-Rudolf Korte über den Zustand der Debattenkultur in Deutschland. Korte sah bei der Frage nach der Spaltung der Gesellschaft nicht nur das Verhalten der extremen Ränder rechts und links der Mitte in der Verantwortung – sondern auch die Verantwortlichen in Berlin.
Korte stellte Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) und SPD-Vizekanzler Olaf Scholz, der sich auch um den Vorsitz seiner Partei bewirbt, ein schlechtes Zeugnis aus. Der Politikwissenschaftler erläuterte: "Politisch gibt's die ja auch nicht, die Auseinandersetzung. Wir haben verlernt, mit Unterschieden wirklich umzugehen – das ist ja ein Stillhalteabkommen über ein Minenfeld. Das ist eine Diskurs-Allergie, systematisch. Angeführt von Akteuren, die mit einer Empörungsverweigerung geradezu Politik zu machen."
ZDF-Moderator Lanz war überrascht – und fragte nach: "An wen denken Sie jetzt?" Korte weiter: "Na, an Merkel und auch Herrn Scholz gleichermaßen. Die in in dieser Art Schlichtheit für uns – für viele auch durchaus befriedigend dienend – Politik machen."
Für den Professor ist klar: "Aber wer nur die Wirklichkeit so thematisiert, aber nie die Möglichkeit, versagt sich auch Gestaltungszielen." Für Korte sind die Folgen klar: "Wir haben uns an diese Art der Lindenstraßen-Politik – immer das gleiche – gewöhnt." Da gab es großen Applaus im Studio.
Korte beobachtete in der Gesellschaft "die Sehnsucht nach einem charismatischen Überschwang, nach einem neuen Auftritt geradezu", der aus der Mitte kommen würde. So weit, so Seminar-theoretisch.
Der Professor zog seine TV-Vorlesung voll durch: "Wo ist denn ein Gefühl für die Mitte? Wo sind denn die Demokratie-Missionare?" Korte vermisst die "Euphorie, die Erzählung, die mobilisierende Art für das, was Freiheit ausmacht." Er meinte: "Das erwarte ich von einer Regierung, nicht das Gucken, wie kann ich Populisten bekämpfen."
Korte forderte die Politik zu einem emotionaleren, leidenschaftlicheren Kampf auf: "Die Gefühle nur den Populisten zu überlassen – das hilft nicht." Der Autor Stefan Kruecken sprang Korte zur Seite: "Wo ist denn unsere Leidenschaft da einzustehen?" Kruecken erklärte, dass die Volksparteien der AfD im digitalen Meinungskampf das Feld überlassen hätten: "Das kommt alles aus solchen Quellen."
Korte erklärte die Deutschen zum "Weltmeister der Angst": Deutschland sei ein "Wolf-Erwartungsland", durch die Sozialen Medien würden sich die Ängste vieler Deutschen verstärken. "Zeit"-Journalist Giovanni di Lorenzo war der Einzige in der Runde, der sich dazu entschloss, Korte zu widersprechen: "Wir sind umringt von Ländern, in denen Populisten ungleich stärker sind als in Deutschland." Der Journalist will den "erreichbaren Teil noch erreichen".
Kortes Urteil über die Spitzenpolitiker in Berlin teilt der "Zeit"-Journalist: "Es ist, als ob auf einmal aus den Menschen die Fähigkeit zum Volk zu sprechen, rausgesogen worden ist." Alle klatschten, alle waren sich einig – da dachte man fast schon an Willy Brandts "Mehr Demokratie wagen".
(pb)