Angefangen hatte der Parteitag, der die Grünen zu einem historischen Wahlsieg bringen soll, mit einem Verlierer. Die erste Rede gehörte Parteichef Robert Habeck, der bei der parteiinternen Diskussion um die Kanzlerkandidatur gegenüber Co-Chefin Annalena Baerbock den Kürzeren gezogen hatte.
Doch seit der Kür von Baerbock war viel passiert. Nicht angegebene Einkünfte und Ungereimtheiten in ihrem Lebenslauf hatten Baerbock in den vergangenen Wochen zum Gegenstand heftiger Kritik gemacht. In den Umfragen verlor sie daraufhin stark an Zustimmung und landete abgeschlagen auf dem letzten Platz der Kanzlerkandidaten der verschiedenen Parteien.
Einen Tag vor dem Grünen-Parteitag hatte eine Autorin des "Spiegel" sogar vorgeschlagen, Robert Habeck nachzunominieren, um den Wahlkampf zu retten. Nach dem Parteitag scheint dieser Vorschlag aktueller denn je.
Habeck hatte der Idee, spontan für Baerbock einzuspringen, natürlich vehement widersprochen. Trotzdem: Beim Auftakt des Parteitages wurde er empfangen, als sei er der Kanzlerkandidat. Mit Standing Ovations betrat er die Halle und hielt eine gewohnt emotionale und gewinnende Rede. Wie so oft sprach er frei und ohne Notizen.
Er erzählte von der Radfahrerin, die ihn auf dem Weg zur Halle angelächelt habe und wie gut es tat, mal wieder einen Menschen ohne Maske zu sehen. Er berichtete von seiner Begegnung mit der oppositionellen Swjatlana Zichanouskaja aus Belarus, von ihrem Kampf gegen die Diktatur und davon, wie wichtig die Freiheit sei, insbesondere die Freiheit zu wählen.
Die Freiheit, das ist für Robert Habeck auch die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes, dass der Bund für eine frühere Klimaneutralität als 2050 sorgen muss. Eine historische Entscheidung. Nur bei einer Sache hört die Freiheit bei Robert Habeck auf: bei zu vielen Änderungsanträgen zum Wahlprogramm. 3280 wurden davon beim Parteitag eingereicht – so viele wie nie zuvor.
Bereits im Vorfeld hatte die Parteispitze daher darum gebeten, das Wahlprogramm möglichst geräuschlos durchzuwinken. Habeck erklärte, man mache hier keine "Wünsch-dir-Was"-Politik. Nach außen sollte Geschlossenheit demonstriert werden und das Wahlprogramm ebenso professionell und problemlos beschlossen werden wie Baerbocks Kanzlerkandidatur.
Das ist natürlich nicht allen recht. Insbesondere die Grüne Jugend wollte ihre Änderungswünsche gerne ordentlich besprochen und im besten Fall auch beschlossen wissen.
Trotzdem schien die Partei den Wunsch ihres Parteivorsitzenden zu respektieren. Fast alle Anträge wurden direkt abgelehnt, nur wenige mussten mit Kompromissen gelöst werden, kaum ein Änderungsantrag ging durch. Größere Diskussionen blieben aus. Die Grünen wollen ihrem in Beschuss geratenen Parteivorstand den Rücken stärken, so schien es.
Dabei spielten auch Ängste vor weiterer negativer Berichterstattung eine Rolle. Immer wieder wird in der Gegenrede zum Änderungsvorschlag darauf verwiesen, ob das dem Wähler zumutbar sei oder was denn das für ein Bild in der Öffentlichkeit abgeben würde – beispielsweise ein Tempolimit auf Landstraßen von 70 km/h zu fordern. Und wie der politische Gegner wohl darauf reagieren würde.
Auch die Anträge der Grünen Jugend wurden mit dieser Argumentation abgelehnt. Grüne Jugend-Sprecher Georg Kurz bedauerte das: "Wir können verstehen, dass die Angriffe der letzten Wochen dazu geführt haben, dass auch bei den Grünen die Lust auf mutige Vorschläge ein wenig vergangen ist. Es ist aber keine vorausschauende Strategie, Vorschläge aus Angst vor dem politischen Gegner abzuräumen."
Doch es ging nicht nur darum, dem politischen Gegner keine Angriffsfläche zu bieten. Die Grünen wollten auch zeigen, dass sie regierungsfähig sind. In der Rede von Robert Habeck verzichtete er auf das traditionelle Duzen der Parteikollegen, wandte sich stattdessen an die ganze Republik, als er die Idee hinter dem Regierungsprogramm der Grünen erklärte.
Und dieses Programm sollte eben auch für andere Parteien anschlussfähig sein. Die grünen Forderungen waren durchaus ambitioniert. Ein höherer Spitzensteuersatz ist sicher keine Bewerbungsrede für ein Bündnis mit der Union oder der FDP. Eine Verschärfung der Forderungen, wie es der linke Flügel der Partei und die Grüne Jugend gefordert hatten, würde bei möglichen Koalitionsverhandlungen zum Problem werden. Vor allem dann, wenn die Grünen als Juniorpartner antreten würden, wie es bei Schwarz-Grün nach aktuellem Umfragestand der Fall wäre.
Der inoffizielle Dirigent des Parteitags war neben Bundesgeschäftsführer Michael Kellner, der auch offiziell operativ zuständig war, Robert Habeck. Er lief durch die Halle, hielt Pläuschchen mit anderen Grünen und der Presse und wirkte, als gehöre er nirgendwo anders hin.
Sonnengebräunt lächelte er entspannt und verbreitete gute Laune, obwohl er im Vorfeld mit durchaus scharfen Worten zur Disziplin gemahnt hatte. Am Parteitag selbst war er so etwas wie das Maskottchen der Grünen. Wo immer Robert Habeck auftauchte, umgab ihn eine Traube von Menschen, oftmals weiblich.
Annalena Baerbock ließ sich dagegen zunächst kaum blicken. Am ersten Tag der Versammlung, als Robert Habeck seine Eröffnungsrede hielt, war sie kurz zu sehen – jedoch ohne selbst etwas in die Kameras zu sagen. Nach dem gemeinsamen Auftritt war sie dann auch sofort wieder verschwunden. Auch am Folgetag war sie abseits ihrer großen Wahlkampfrede und der Nominierung zur Kanzlerkandidatin kaum zu sichtbar.
Als sie am Samstag am frühen Abend dann doch noch kurz in der Halle auftauchte, fiel sie kaum auf, stand zunächst nur am Rande und unterhielt sich mit Katrin Göring-Eckardt, während sie von ein paar Fernsehkameras gefilmt wurde. Später unterhielt sie sich mit Journalisten, tingelte ansonsten eher abseits des Geschehens herum.
Zum Schluss des Parteitags am Sonntag hielt sie noch einmal eine kurze Rede gegen einen Änderungsantrag. An Habecks Strahlkraft reichte ihr Auftritt auf und abseits des Podiums aber nicht heran.
War das beabsichtigt? Vielleicht sollte Baerbock geschützt werden vor öffentlicher Kritik und daher so wenig wie möglich in Erscheinung treten, so die Theorie einer Journalistin im Pressegespräch mit Bundesgeschäftsführer Michael Kellner. Dieser konnte das nicht bestätigen, Zweifel bleiben aber. Vielleicht war es auch die Idee der Grünen, die Zuständigkeiten des Spitzen-Duos so aufzuteilen, dass Habeck für den Kontakt zur Öffentlichkeit zuständig war und Baerbock für den großen Auftritt als Kanzlerkandidatin geschont wurde.
In der öffentlichen Wahrnehmung hat es ihre Position jedenfalls nicht gestärkt. Daran konnte auch ihr großer Auftritt beim Parteitag nichts ändern. Bei ihrer Rede wirkte sie ein wenig fahrig, verhaspelte sich im Text und startete noch einmal neu mit einem Absatz. Am Ende verließ sie das Podium offensichtlich genervt und raunte durch die Mikros gut hörbar "Scheiße!" zu ihrem Co-Vorsitzenden Robert Habeck. Was genau damit gemeint war, ist unklar. Aber ganz zufrieden scheint sie selbst nicht mit ihrer Performance gewesen zu sein.
So gesehen hinterlässt der Parteitag ein zwiespältiges Bild. Auf der einen Seite zeigte sich die Partei geschlossen wie nie. Der gigantischen Flut an Änderungsanträgen stand ein sehr diszipliniertes Abstimmungsverhalten gegenüber, das fast ausschließlich im Sinne der Parteispitze ausging. Mit 98,5 Prozent konnte Annalena Baerbock darüber hinaus ein fulminantes Ergebnis als Kanzlerkandidatin einfahren. All das zeigt: Die Grünen vertrauen ihrer Spitze.
Auf der anderen Seite steht die Außenwirkung von Annalena Baerbock als Kanzlerkandidatin. Den schlechten Umfragewerten der vergangenen Tage konnte sie auch hier nicht entschieden genug etwas entgegensetzen. Ihre Rede, die eigentlich als großer Befreiungsschlag wirken sollte, hatte im Vergleich zu der von Co-Parteichef Robert Habeck wenig überzeugen können und sorgte mit ihrem spontanen Gefühlsausbruch eher für einen Slapstick-Moment.
Ob Baerbock es schaffen wird, solche Fauxpas in der Öffentlichkeit sympathischer oder zumindest professioneller wirken zu lassen, wird im kommenden Wahlkampf womöglich darüber entscheiden, ob sie Kanzlerin werden wird oder nicht. Nach den vergangenen Wochen sollte sie gelernt haben, dass der Umgang mit kleinen Fehlern große Konsequenzen haben kann.
Sollte sie es nicht schaffen, würde der "Spiegel" recht behalten und Habeck wäre in der aktuellen Lage tatsächlich der bessere Kanzlerkandidat. Warmgelaufen hat er sich am Wochenende schon einmal und bewiesen, dass er zumindest in Sachen Selbstinszenierung und Außenwirkung mindestens genauso viel kann hat wie Annalena Baerbock.