Nach der Invasion Russlands in der Ukraine vor sechs Monaten verhängte die Europäische Union (EU) ein Einreiseverbot für Russen, die dem Kreml nahestehen. Nun könnte es auf sämtliche russischen Staatsbürgerinnen und Staatsbürger ausgeweitet werden, allenfalls mit Ausnahmen. So lauten die Forderungen einiger "Hardliner" in der EU.
Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj bezeichnete letzte Woche in einem Interview mit der "Washington Post" die Schließung der Grenzen als "wichtigste Sanktion" neben einem Energie-Embargo. Beides werde nicht vollständig umgesetzt, klagte er. Tatsächlich gibt es Widerstand gegen einen totalen Einreisestopp.
In den 26 Ländern des Schengen-Raums, wurden letztes Jahr rund drei Millionen Kurzzeitvisa ausgestellt. Ein solches Schengen-Visum erlaubt einen Aufenthalt bis zu 90 Tagen innerhalb von sechs Monaten. Es wird vor allem von Touristen genutzt.
Die größte Gruppe bildeten die Russinnen und Russen mit mehr als 500.000 Anträgen. Nicht wenige reisten auch in diesem Sommer nach Europa, obwohl die direkten Flug- und Zugverbindungen nach Kriegsbeginn eingestellt wurden und sie Umwege über Belgrad oder Istanbul in Kauf nehmen mussten. Damit soll nach dem Willen einiger Länder Schluss sein.
Es sind die "üblichen Verdächtigen", also die baltischen Staaten Estland, Lettland und Litauen sowie Polen und Finnland. Sie haben traumatische Erfahrungen mit Russland und der Sowjetunion gemacht und gehören zu den eifrigsten Unterstützern der Ukraine. Dazu gehört die Übernahme von Selenskyjs Forderung nach geschlossenen Grenzen.
"Der Besuch Europas ist ein Privileg, kein Menschenrecht", schrieb die estnische Regierungschefin Kaja Kallas auf Twitter. Ihr Land lässt seit Donnerstag so gut wie keine Russen mehr mit einem von Estland ausgestellten Schengen-Visum einreisen. Vorerst nicht betroffen sind jene mit einem Visum eines anderen Schengen-Lands.
Lettland nimmt praktisch keine Visa-Anträge von russischen Staatsbürgern mehr entgegen. Ausnahmen gibt es nur für die Beerdigung eines nahen Verwandten (rund 25 Prozent der lettischen Bevölkerung sind russischer Herkunft). Die polnische Regierung will in den nächsten Wochen über ähnliche Einschränkungen wie in Estland und Lettland entscheiden.
Nach Finnland reisen besonders viele russische Touristen. Täglich werden rund 1000 Visumsanträge bearbeitet. Diese Zahl soll ab September auf rund ein Zehntel reduziert werden, erklärte Außenminister Pekka Haavisto letzte Woche. Sympathien für einen Stopp oder eine Einschränkung der Visa-Vergabe an Russen gibt es auch in Tschechien und in Dänemark.
Deutschland als größtes EU- und Schengen-Land lehnt die Schließung der Grenzen ab. Er tue sich "mit diesem Gedanken sehr schwer", sagte Bundeskanzler Olaf Scholz an seiner Sommerpressekonferenz. Es sei Putins Krieg, und nicht der des russischen Volkes. Politiker von CDU und CSU hingegen unterstützten eine Touristenvisa-Sperre für Russen.
Frankreich und die Niederlande sind ebenfalls skeptisch. Gleiches gilt für Staaten im Süden Europas, die zu den beliebtesten Ferienzielen von Russinnen und Russen gehören. Portugal und Griechenland sind gegen einen Einreisestopp, ebenso Zypern, das nicht zum Schengen-Raum gehört, aber besonders viele russische Touristen beherbergt.
Die Vergabe von Langzeitvisa fällt in die Kompetenz der Mitgliedsstaaten, sie haben einen entsprechend großen Spielraum. Kurzzeit- oder Touristenvisa aber werden durch die EU geregelt. Die Kommission in Brüssel strebt ein "koordiniertes Vorgehen" an. Sie lässt aber durchblicken, dass sie ein allgemeines Verbot für Russinnen und Russen kritisch beurteilt.
"Es gibt bisher kein rechtliches Instrument, um Bürger eines Staates komplett aus dem Schengen-Raum rauszuhalten", erklärte der Politologe Raphael Bossong von der Stiftung Wissenschaft und Politik in Berlin gegenüber t-online. Die Nationalstaaten hätten durchaus einen Ermessensspielraum, aber es handle sich um eine "rechtliche Grauzone".
Da jeder Antrag einzeln geprüft werden muss, ist ein generelles Visaverbot für russische Staatsbürger kaum durchsetzbar. Die EU-Außenminister werden voraussichtlich bei einem Treffen in Prag am 31. August über die Forderung der "Hardliner" diskutieren. Weil Einstimmigkeit erforderlich ist, dürfte ein totaler Einreisestopp chancenlos sein.