Galatasaray, Fenerbahce oder Besiktas. Meistens steht in der türkischen Liga am Ende der Saison einer der drei Istanbuler Renommierklubs ganz oben. Doch nicht in diesem Jahr. Die Türkei hat einen neuen Fußballmeister. Zum ersten Mal feiert Basaksehir Istanbul den Titel in der Süper Lig, dabei kommen zu Heimspielen in der Regel nur wenige Tausend Leute.
Basaksehir reiht sich als erst sechster Klub in die Meisterliste der 1959 gegründeten Liga ein. Durch ein 1:0 gegen Kayserispor am vorletzten Spieltag kann das Team von Trainer Okan Buruk mit jetzt 69 Punkten nicht mehr von der Spitze verdrängt werden.
"Eine Überraschung ist das nicht, in den vergangenen Saisons waren sie auch schon nah dran am Meistertitel", sagt Fatih Demireli, Sportjournalist und Experte für türkischen Fußball, zu watson.
Es ist die erste Trophäe in der noch jungen Vereinsgeschichte, die auch eng mit der türkischen Regierungspartei AKP und Präsident Recep Tayyip Erdogan verbunden ist. Im Eingangsbereich des Vereinsgeländes hängt sogar sein Porträt. "Erdogan macht da auch kein Geheimnis draus, dass er dem Klub nahesteht, sagt sogar, dass er ihn gegründet habe", erklärt Demireli, Chefredakteur und Herausgeber des Sportmagazins "Socrates".
Erdogan sitze zwar in keinem Gremium, "trotzdem bedankt man sich für seine Unterstützung. Dennoch kann man nicht sagen, dass da alles nur nach seinem Gusto läuft, oder er den Klub besitzt. Die türkischen Spieler im Team sind auch nicht ausnahmslos Erdogan-Anhänger, ich habe noch nie einen Basaksehir-Profi etwas in die Richtung sagen hören. Aber auf Vorstandsebene ist die emotionale Nähe zum Präsidenten auf jeden Fall da."
Erdogan ist auf dem Weg nach oben immer mit dabei – wenn es sein muss, auch auf dem Feld. Bei der Eröffnung der neuen Basaksehir-Arena, das Fatih-Terim-Stadion, vor sechs Jahren drehte er in einem Promikick ein 0:3 per Dreierpack, auch dank der Ehrfurcht seiner Gegner. Erdogans Rückennummer zwölf wird seit diesem Spiel nicht mehr vergeben. Bei anderen Vereinen macht man das höchstens, wenn eine Klub-Legende verstirbt.
1990 wurde der Klub als Betriebsmannschaft der Istanbuler Stadtverwaltung gegründet, 2007 stieg er erstmals in die erste türkische Liga auf. Damals noch unter dem Namen Istanbul Büyüksehir Belediyespor, so hieß der Verein bis zum Sommer 2014. Dann gliederte man die Fußballabteilung aus und wandelte sie in ein unabhängiges Unternehmen um. Mit der Namensänderung zu Basaksehir Istanbul FK zog der Klub auch nach Basaksehir um und ist seitdem die Bezirksmannschaft des Stadtteils auf der europäischen Seite der Bosporus-Metropole.
Am Sonntagabend, nachdem der neue türkische "Şampiyon" feststand, blieb es weitgehend ruhig in der Stadt. Zumindest viel ruhiger, als wenn einer der drei alteingesessenen Istanbuler Meister geworden wäre: Keine Autokorsos, keine großen Feiern auf öffentlichen Plätzen. Ein paar Hundert Leute hatten sich am Stadion versammelt, bejubelten Basaksehir mit Leuchtfeuern und Raketen, das war es.
Und es hatte nicht nur Corona-Gründe, warum die Meisterschaftsfeier nicht so groß in der Öffentlichkeit zelebriert wurde. Denn der Klub hat kaum Fans, die Sympathien sind begrenzt. Unter türkischen Fußballfans gilt der Klub als Retortenverein.
"Man kann es mit RB Leipzig vergleichen", sagt Demireli, "nur dass RB halt schon Fans hat, und viele Leute dort froh sind, dass es den Klub und Bundesligafußball in der Region gibt. In Istanbul gibt es ja schon genug Standorte, kein Mensch hat auf Basaksehir gewartet. Du hast ja schon die drei anderen Klubs, außerdem gibt es weitere Istanbuler Vereine, die nicht im Fokus stehen, aber eben eine kleine, etablierte Fangruppen haben. Da wirst du kein Basaksehir-Fan." Den Rang als wohl am wenigsten gemochter Klub des Landes hat der neue Süper-Lig-Champion den drei Lokalrivalen längst abgelaufen.
Dies wird sich laut Demireli auch künftig nicht ändern. "Auch nicht, wenn Basaksehir in den nächsten 20 Jahren Meister wird. In der Türkei ist es so: Ein Teil des Familienerbes ist auch immer die Vereinszugehörigkeit zu einem bestimmten Klub." Bezeichnend: Vor der Corona-Krise kamen zu den Heimspielen im Schnitt nicht einmal 3000 Zuschauer ins Stadion, obwohl 17.319 Personen hineinpassen.
Aber dafür hat der Klub ja den größten, edelsten und prominentesten Fan, den man sich in der Türkei vorstellen kann, Recep Tayyip Erdogan. Der 66-Jährige twitterte zu Ehren seines Lieblingsklubs: "Ich gratuliere dem Meister 2019/20 Basaksehir FK und seinen Unterstützern von Herzen".
Auch deswegen kommt der Erfolg keineswegs überraschend, so heißt es. Vereinsboss Göksel Gümüsdag ist mit einer Nichte von Erdogans Frau verheiratet, er ist natürlich auch AKP-Mitglied. "Eine revolutionäre Erfolgsgeschichte wurde im türkischen Fußball geschrieben. Wir werden unseren Weg mit dem gleichen Glauben und der gleichen Emotion fortsetzen", sagte er nach dem Premierentitel. Das nötige Geld für diese "revolutionäre Erfolgsgeschichte" soll Basaksehir ebenfalls aus regierungsnahen Kreisen beziehen. Zu den wichtigsten Unterstützern zählen die Krankenhauskette Medipol, der Istanbuler Flughafen und die Wasserwerke.
Fatih Demireli drückt es etwas vorsichtiger so aus: "Die Vermutung der finanziellen Unterstützung aus dieser Richtung ist da, aber Belege gibt es dafür nicht. Die Hülle und Fülle an guten und namhaften Sponsoren ist aber schon deutlich, und bei dem ein oder anderen geht man auch davon aus, dass die Nähe zur Regierung eine Rolle spielt."
So konnte der Klub Altstars wie Robinho, Martin Skrtel oder Gaël Clichy locken. Auch die früheren Bundesliga-Spieler Demba Ba (Hoffenheim), Eljero Elia (Werder und HSV) oder Junior Caicara (Schalke) laufen im orangefarbenen Basaksehir-Dress auf. Arsenal Londons Ex-Nationalspieler Mesut Özil, dessen Trauzeuge Erdogan war, wird immer wieder mal als Neuzugang gehandelt. Erfolge schienen nur eine Frage der Zeit zu sein.
Doch es sind nicht allein die teuren Ex-Stars, die Basaksehir so erfolgreich machen – mit gealterten Profis schmücken sich viele Süper-Lig-Klubs ohnehin gerne. Demireli zollt Basaksehir Istanbul durchaus Respekt: "Was sich da in den vergangenen Jahren entwickelt hat, was der Klub geschaffen hat, das muss man anerkennen."
Galatasaray, Fenerbahce und Besiktas haben in den vergangenen Jahren sportlich massiv abgebaut. "Bei allen ist der Grund die finanzielle Situation, besonders seit Corona. Die drei Vereine sind dermaßen verschuldet. Deswegen können sie kein Gehalt zahlen, dann geht die Motivation der Spieler flöten", weiß Demireli.
Und dann gehen im Zweifel auch die Spieler flöten: "Bei Besiktas hat zum Beispiel kurz vorm Derby gegen Fenerbahce der Abwehrchef Victor Ruiz den Klub verlassen, weil sein Gehalt nicht mehr überwiesen wurde." Auf der anderen Seite hat Max Kruse aus dem gleichen Grund Fenerbahce und Loris Karius Besiktas verlassen. "Bei Galatasaray gab es auch schon die ersten Spieler, die sich bei der Fifa gemeldet haben, dass ihr Verein ihnen Gehalt schulde." Basaksehir hat diese Probleme nicht: "Das Gehalt kommt dort pünktlich."
Während das aus dem Boden gestampfte Basaksehir also die großen, namhaften Sponsoren hat, "wirbt zum Beispiel Galatasaray als türkischer Rekordmeister auf dem Trikot für einen Pizzalieferanten und verdient damit nur etwa eine Million Euro, – so viel wie ein deutscher Zweitligist. Das ist nichts im Vergleich zu deren Ansprüchen."
Aber Basaksehir weiß das Geld auch clever einzusetzen. Demireli hebt hervor, dass Basaksehir sein vorhandenes Budget "nicht mit so vielen dummen Transfers in den Sand gesetzt hat" wie die Konkurrenz. "Sie haben eine gute Struktur, ein gutes Analyseteam und Scoutingsystem."
Keine Transfers entstünden bei Basaksehir unter öffentlichem Druck: "In der Türkei haben Fans viel Einfluss über Social Media. Viele Klubs lassen sich von Fans leiten und unter Druck setzen, wenn diese neue Stars fordern." Dass Basaksehir kaum Fans hat, erweist sich in diesem Punkt also als Vorteil. "Klar, sie haben große Namen wie Robinho. Aber der Klub holt eben auch Spieler, die die anderen eher nicht holen würden", sagt Demireli und zählt weniger bekannte Spieler wie Moldaus Nationalspieler Ciprian Epureanu oder den französischen Stürmer Enzo Crivelli auf. Diese Spieler seien es, die die Meisterschaft geholt hätten.
Der Architekt des Erfolgs ist Trainer Okan Buruk, 46, der nun zu den wenigen im türkischen Fußball gehört, der als Spieler und Coach Meister geworden ist. "Buruk gilt als Rising Star unter den türkischen Fußballtrainern, er lässt schönen Fußball spielen, nachdem Basaksehir in den vergangenen Jahren eher den Ruf hatte, pragmatischen, nicht besonders ansehnlichen 1:0-Ergebnisfußball zu spielen", erklärt Demireli, "auch spielerisch haben sie die Meisterschaft jetzt verdient, muss man sagen."
Wenn es nach Erdogan geht, dürfte die erste Meisterschaft von Basaksehir nur eine Etappe auf dem Weg zu weiteren Erfolgen sein.
Dabei gilt der Präsident eigentlich als Fenerbahce-Fan, auch Kasimpasa Istanbul und Caykur Rizespor zählen zu den Vereinen, mit denen er sympathisiert. Warum unterstützt er die nicht? Bringt Erdogan die Fans der anderen Süper-Lig-Klubs mit seiner Zuneigung zum ungeliebten Klub nicht eventuell sogar gegen sich auf?
"Theoretisch ja. Die Gefahr ist da", sagt Demireli. Doch er kann es sich nur so erklären: "Aber niemand kann die drei großen Klubs in der Türkei kontrollieren, das funktioniert nicht. Das sind die drei größten NGOs in der Türkei, wenn man so will. Das sind Millionen von Fans, deren Meinung auch ein Gewicht hat, nicht nur sportlich, auch gesellschaftlich und politisch."
Erdogan will im Fußball aktiv und präsent sein, und mit Basaksehir hat er eine unverfängliche Alternative zu Fenerbahce, Galatasaray und Besiktas. Wo keine Fanbase, da keine Gegenstimmen.
Möglicherweise setzt sich Basaksehirs Aufstieg bereits in wenigen Wochen fort, schließlich hat der Klub dank des 1:0-Hinspielerfolgs gegen den FC Kopenhagen beste Chancen aufs Europa-League-Viertelfinale. Auch darüber dürften sich wenige Fans freuen – Erdogan dagegen schon.
(as/mit Material von dpa und sid)