Zum ersten Mal wurden am Mittwoch mehr als 11.000 Corona-Neuinfektionen an einem Tag gemeldet. Auch Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU) hat sich mit dem Coronavirus infiziert. Mit den Zahlen steigen auch die Maßnahmen und die Nervosität in Gesellschaft und Politik. "Risikogebiet Deutschland – schaffen wir die Corona-Wende?", lautete die große Frage an diesem Donnerstagabend in der Talkshow "Maybrit Illner".
In der Frage, wie diese Wende in den kommenden Monaten herbeigeführt werden könnte, geraten besonders FDP-Chef Christian Lindner sowie Hamburgs Bürgermeister Peter Tschentscher von der SPD aneinander. Aber auch Autorin Jagoda Marinić kritisierte Tschentscher. Diese Gäste hatte Maybrit Illner sich an ihren runden Tisch geladen:
Der milde Corona-Sommer ist vorbei. Hamburgs Bürgermeister Peter Tschentscher (SPD) findet die rasant steigenden Zahlen der vergangenen Tage und Wochen beunruhigend, ehrlich besorgt sei Tschentscher jedoch über etwas anderes: "Was mir Sorge macht ist, dass es immer noch einen nennenswerten Anteil von Menschen gibt, die sagen, das ist doch alles nicht so schlimm, bei denen es immer ein ‚Aber‘ gibt."
Für Tschentscher seien dies nur "Ausflüchte". Zwar seien immer härtere Regelungen nicht die Lösung, jedoch forderte der Politiker zu Beginn der Sendung: "Alle müssen jetzt verstehen, es ist ernst. Wir brauchen jetzt Disziplin. Dazu gehören auch Kontrolle und Sanktion."
Autorin und Kolumnistin Jagoda Marinić widersprach Tschentscher direkt:
Statt einem Klima der einzigen Wahrheit, müsse Raum für Diskussionen und Kritik bleiben: "Wir leben in einer Demokratie und da muss es auch Widerrede geben und es sollte Widerrede geben."
Jagoda Marinić schlug ein nachhaltigeres Konzept vor und stellte der Runde dafür eine Theorie des Krisenmanagements vor. Diese gehe von folgender Annahme aus: Zehn Prozent der Gesellschaft verstehen die Krise, 80 Prozent folgen den ersten zehn Prozent in ihrem Verhalten und die fehlenden zehn Prozent der Bevölkerung ziehen nicht mit, wollen die Krise vielleicht überhaupt nicht anerkennen. Marinić folgerte: "So eine Krise kann man auch meistern mit diesen zehn Prozent an Verweigerern."
Peter Tschentscher relativierte die Theorie der Schriftstellerin und Kolumnistin wenig später. Diese funktioniere vielleicht, wie von Marinić angewandt, bei einem Hurrikan – allerdings könne sie nicht auf die Corona-Pandemie angewendet werden. Tschentscher machte das Ganze bildlich: "Die zehn Prozent, die den Hurrikane ignorieren, bringen sich selbst in Gefahr und kommen selbst zu schaden, die anderen 90 Prozent sind nicht beeinträchtigt." Auf unsere Situation übertragen hieße das laut Tschentscher jedoch: "Die zehn Prozent, die sich nicht an die Corona-Regeln halten, gefährden das gesamte Projekt."
Jagoda Marinić war sich ihrer Theorie sicher und widersprach dem Hamburger Bürgermeister erneut: "Das finde ich genau nicht." Mit Verweis auf den Virologen Christian Drosten sprach Marinić anschließend von "vernachlässigbaren Infektionen". Sie erklärte: "Auch so eine Pandemie verträgt gewisse Infektionen. Man muss nur verhindern, dass diese in Clustern auftreten." Statt darauf zu setzen, die zehn Prozent der Corona-Verweigerer in der Bevölkerung vom Virus zu überzeugen, müsse man "solidarisches Denken" zurückerobern, mit Maßnahmen, die 80 Prozent der Bevölkerung bereit seien, mitzutragen.
Stichwort Maßnahmen: Mit welchen Regelungen sollte die Bundesregierung sowie die Länder auf stark steigende Corona-Neuinfektionen reagieren? Auch hier gab es teilweise sehr unterschiedliche Ansichten. Virologin Susanne Herold plädierte zu Beginn der Sendung für zweierlei: konsequentes Einhalten der AHA-Regeln (Abstand, Hygiene, Alltagsmasken) sowie die Selbstverantwortung der Bürger. "Die Verantwortung des Einzelnen ist ganz klar gefragt", erklärte sie.
FDP-Parteichef Christian Lindner machte direkt zu Anfang deutlich: "Ein zweiter Lockdown in Deutschland muss ausgeschlossen werden! Jede Krisenstrategie muss sich daran orientieren, dass wir das komplette Herunterfahren unseres Landes ausschließen." Dies bedeute, und da pflichtete Lindner Jagoda Marinić bei, man müsse "kluge Maßnahmen finden, die wir über einen längeren Zeitraum notfalls durchhalten können".
Dabei gilt derzeit im Corona-Hotspot Berchtesgadener Land bereits eine Art Lockdown light, samt Ausgangssperren, Schließungen von Restaurants sowie Schulen und Kitas. Zwar hoffe auch der Investigativ-Journalist Georg Mascolo, ein zweiter Lockdown könne verhindert werden, weil wir uns diesen schlichtweg nicht leisten könnten. Jedoch bemerkte Mascolo auch: "Gleichzeitig erleben wir um uns herum, dass Länder, die sich einen zweiten Lockdown noch viel weniger leisten können, es trotzdem tun."
Die Schwierigkeit im Umgang mit Corona sieht Journalist Georg Mascolo während dieser zweiten Welle in der Ermunterung der Menschen. Dabei machte er auf ein Phänomen aufmerksam, das sich "pandemische Erschöpfung" nennt. "Man ist es im Grunde leid", erklärte Mascolo. Dies bedeute, "wir kämpfen jetzt darum, dass wir die Geschlossenheit, die uns in der ersten Runde so sehr getragen hat, in Gesellschaft und Politik zu erhalten oder gar zurückzuerobern."
Statt auf Repression würde der Journalist in diesem Kampf jedoch auf milde Prävention setzen, oder zumindest fast: "Ich glaube, der Ansatz muss sein, dass so viele wie möglich sich freiwillig an die Regeln halten. Der Einsatz staatlicher Mittel sollte nur für die angewandt werden, die es überhaupt nicht begreifen wollen. Ohne wird es schwer, denjenigen, die sich an die Regeln halten, zu erklären, warum andere sich nicht daran halten."
FDP-Chef Christian Lindner plädiert für einen stärkeren Blick nach vorn, statt für eine Orientierung an der ersten Phase der Pandemie. Seine Forderung: "Ich denke, dass wir über drei Dinge nachdenken sollten: Erstens die Menschen, die besonders schutzbedürftig sind, besser schützen. (Dabei denke Lindner beispielsweise an seine Großmutter)
Zweitens seien individuelle Entscheidungen notwendig, ein gewisses Restrisiko einzugehen. Punkt drei seiner Aufzählung kündigte Lindner klar als Seitenhieb auf sein Gegenüber an, als er sagte: "Drittens – und das kann ich Herrn Tschentscher nicht ersparen – die Qualität der politischen Entscheidungen muss besser werden."
In der folgenden Auseinandersetzung treffen offensichtlich Real- und Oppositionspolitik aufeinander. Lindner legte noch einmal nach: "Ich bin davon überzeugt, dass solche Fehleinschätzungen wie das Beherbergungsverbot niemals beschlossen worden wären, wenn das vorher im parlamentarischen Verfahren diskutiert worden wäre."
Hamburgs SPD-Bürgermeister Peter Tschentscher will diesen Angriff nicht auf sich sitzen lassen. Oft bleibe für derartige Absprachen schlicht keine Zeit. "Wir sind auch verpflichtet, konsequent zu entscheiden und das in so kurzen Zeitabständen, dass man das nicht in parlamentarische Beratungen einbauen kann."
"Da möchte ich gerne als überzeugter Parlamentarier widersprechen", grätscht Lindner daraufhin in die Diskussion. Schnelligkeit sei auch bei Entscheidungen im Parlament möglich. Leicht fassungslos bemerkte Lindner: Anfangs sei der Bundestag nach Bund-Länder-Konferenzen zumindest noch offiziell über Maßnahmen informiert worden. "Noch nicht einmal das findet mehr statt", erklärte Christian Lindner. "Der deutsche Bundestag wird über die Medien und Podcasts informiert."
Daraufhin erklärt der Oppositions-Politiker: "Das geht aus einem Grund nicht: Wenn man im Parlament über die Krisenstrategie und Maßnahmen debattiert. Selbst wenn eine Regierungsmehrheit sich anders entscheidet, so können die vorhandenen Kritiker und Skeptiker in der Gesellschaft sichergehen, dass ihre Position im Parlament genannt und abgewogen worden ist."
Peter Tschentscher bezeichnet das Beherbergungsverbot als "Nebensache, die in den meisten Ländern bereits aufgehoben ist" und schießt zurück. Der SPD-Bürgermeister richtet sich an Lindner: "Wenn Ihnen an den Akzeptanzen dieser Maßnahmen gelegen ist, sollten Sie nicht immer wieder nur eines von 70 Beispielen herausarbeiten – dieses Beherbergungsverbot gibt es kaum noch." Am Ende dieser Zweier-Debatte sind die Fronten zwischen Regierung auf Landesebene und Opposition im Bund weiter verhärtet.
Zum Ende der Sendung gibt es jedoch noch ein paar gute Nachrichten für die Zuschauerinnen und Zuschauer. Eingeladen war in dieser Sendung nämlich auch noch Stefan Oschmann. Als CEO und Geschäftsführer des Pharmakonzerns Merck ist er ganz nah dran an der Entwicklung eines Impfstoffes gegen das Coronavirus. Oschmann, der aus München zugeschaltet wurde, zeigte sich "vorsichtig optimistisch".
Er rechne schon bald mit Ergebnissen: "Ich persönlich gehe davon aus, dass wir in einem überschaubaren Zeitraum Daten haben, d.h. bis ungefähr Ende des Jahres und dass die Wahrscheinlichkeit, dass wir im kommenden Jahr einen Impfstoff haben, groß ist." Zwar wies Journalist Georg Mascolo zurecht noch darauf hin, dass Impfen kein Moment, sondern ein Prozess sein werde und niemand genau sagen könne, wie lange es dauert, bis alle Menschen geimpft sind. Jedoch lässt sich auch Peter Tschentscher diesbezüglich zu einer positiven Prognose hinreißen und beendet die Talkshow "Maybrit Illner" mit den Worten: "Ich bin mir sicher, dass wir im Frühjahr in einer besseren Lage sein werden."