Die Zahl der Coronainfektionen steigt seit einigen Tagen wieder massiv an. Gleichzeitig wird aber auch deutlich mehr getestet, als noch vor einigen Monaten. Eine Strategie, die nicht jeder gutheißt. Markus Lanz sprach mit seinen Gästen, dem Grünen-Politiker Boris Palmer, der Journalistin Eva Quadbeck, der Virologin Prof. Melanie Brinkmann und dem Autor Kester Schlenz über die aktuellen Entwicklungen in der Corona-Krise, die Impfstoffentwicklung und auch die Sinnhaftigkeit einer Corona-App-Verpflichtung. Gerade letzteres wurde zum Streitthema.
Tübingens Oberbürgermeister Boris Palmer hat in der Corona-Krise bereits mehrfach für kräftige Diskussionen gesorgt und auch jetzt ist er wieder im Mittelpunkt einer Debatte. Er plädiert nämlich für die Corona-App-Pflicht. Eine Idee, die vor allem bei der "Rheinische Post"-Redakteurin Eva Quadbeck für Kopfschütteln sorgt. Sie meint, eine verpflichtende Nutzung der App gebe den "Verschwörungstheoretikern einfach nur Wasser auf die Mühlen". Ja, man könne für die App werben, sagt sie, und sie solle so weiterentwickelt werden, dass sie auch auf älteren Smartphones funktioniere, aber eine Pflicht hält sie für den falschen Weg.
Palmer hingegen meint, man könne die Nutzung der App sicher verdoppeln, wenn man sie quasi als Einlasskarte für ein Restaurant nutzen würde. Nach dem Prinzip, wer sie vorzeigt, darf rein. Damit würde auch das Ausfüllen der Datenzettel wegfallen. Quadbeck sieht das mehr als skeptisch und kritisiert, dass man die Wirte nicht dazu verdonnern könne, sich von jedem die App zeigen zu lassen. Ein Argument, dass Palmer absolut auf die Palme bringt. Er poltert los: "Wenn ich in der Corona-Verordnung schreiben kann, dass der jedem die Daten abnehmen muss, dann kann ich auch schreiben, dass er wahlweise auch seine App zeigen darf. Wo soll denn da das Problem sein?" Und er empört sich weiter:
Quadbeck erläutert, dass sie einfach wolle, dass nicht autoritär vorgegangen wird. Lanz wirft daraufhin ein, dass aber auch der Zettel verpflichtend sei. Doch da ist Palmer schon voll in Fahrt und hakte nach, wieso es denn weniger autoritär sei, Masken zu tragen, das zur Arbeit gehen zu verbieten oder die Schulen zu schließen. "Das ist der am wenigsten autoritäre Eingriff überhaupt", meint er.
Quadbeck beharrt trotzdem darauf, dass die Nutzung freiwillig bleiben müsse. Sie sagt, es sei ein Unterschied, ob man seine Daten auf einen Zettel schreibe oder, um es aus einem Verschwörungstheorie-Gedanken heraus zu sagen, ein ganzes Volk gescannt würde. Sie würde stattdessen auf einheitlichere Regeln setzen wie die Personenbegrenzung von Familienfeiern. Dass in Bayern andere Regeln für Privatfeiern gelten wie in Hamburg, könne niemand nachvollziehen, meint sie. Auch Autor Kester Schlenz sieht eine gewisse Corona-Müdigkeit in der Gesellschaft und meint, dass die 16 Konzepte aus 16 Bundesländern da nicht hilfreich seien. Ähnlich sieht das auch Virologin Melanie Brinkmann. Sie hält ebenfalls nichts von einer Pflicht zur Corona-App, sondern plädiert dazu, Menschen zu überzeugen.
Brinkmann erklärt: "Die Impfung wird kommen, wir werden bessere Therapien entwickeln." Es wird besser, meint sie und macht Mut: Es ist nichts, was uns in dieser Form noch zehn Jahre beschäftigen wird. "Für mich ist es ein absehbarer Zeitraum. Ich denke mir, jetzt müsste man sich einfach noch ein bisschen zusammenreißen, mir fällt das auch schwer", sagt sie. Sie könne verstehen, dass man vielleicht über die Urlaubszeit mal etwas lockerer geworden sei, aber jetzt zum Herbst müsse man sich wieder zusammenreißen. "Gerade diese privaten Feiern machen mir Bauchschmerzen", gesteht sie. Denn da käme es zu einer hohen Anzahl von Infektionen, die weitergetragen würden.
"Es muss jetzt klare Prioritäten geben", meint sie. Dazu gehöre eine funktionierende Wirtschaft sowie ein funktionierender Wirtschaftskreislauf und dass die Schulen offengehalten werden können. Denn die Eltern müssten zur Arbeit gehen können. "Ich kann gerade nicht verstehen, warum es Familienfeiern mit 120 Leuten gibt – da muss man einfach noch ein bisschen drauf verzichten", so Brinkmann. Dass sie sich damit nun ein paar Feinde mache, damit müsse sie nun leben, meint die Virologin.
Lanz kam allerdings noch einmal auf die von Palmer geforderte Corona-App-Pflicht zurück und wollte wissen, wie eine solche Pflicht überhaupt kontrolliert werden sollte. Die Antwort des Politikers ließ den Moderator kopfschüttelnd zurück. "Die App hat eine Bluetooth-Schnittstelle. Man könnte ganz einfach programmieren, dass die Frage, ist sie an oder aus über Bluetooth übermittelt wird", meint Palmer. Das sei nichts anderes, als die Maskenkontrolle, so der Politiker. Lanz zeigte sich schockiert:
Durch diese Technik könne man ja noch ganz andere Sachen auslesen, befürchtet er. Aber diese Bedenken teilt Palmer nicht, erst recht nicht mit Blick auf die staatlichen Restriktionen aus dem Frühjahr. "Das ist eine staatlich definierte Schnittstelle, ist das Ding an oder aus", sagt er. Der Traum eines jeden Innenministers witzelt Lanz daraufhin. Virologin Brinkmann versucht zu intervenieren: Man müsse sich ja jetzt nicht so an der App reiben, meint sie. Es gebe noch viel mehr Dinge, die wir für den Herbst parat haben müssten. "Dazu gehören für mich die klugen Teststrategien" und auch, wie man die Innenräume hygienisch sauber halten kann, erklärt die Virologin.
In ihren Augen sei die aktuelle Teststrategie verrückt. Ihre Idee sei hingegen, Menschen erst einmal in eine Kurzquarantäne zu schicken und nicht sofort zu testen. Denn es ergebe keinen Sinn, sich am Tag der Infektion testen zu lassen. Gerade die Testungen für Reiserückkehrer kritisiert sie als nicht zielführend, da die mögliche Ansteckung noch nicht lang genug zurückliegen würde. Sie plädiert dafür, nach der Rückkehr aus einem Risikogebiet für sechs bis sieben Tage in Quarantäne zu gehen und erst fünf bis sieben Tage nach der letzten Ansteckungsmöglichkeit zu testen. Mit diesem Gedanken kann auch Palmer sich anfreunden. Nur eine Sache versteht er nicht: Warum soll das weniger autoritär sein, als die App verpflichtend zu machen?
Ein Punkt, über den wohl an diesem Abend noch lange hätte diskutiert werden können...
(jei)