Während Bayerns Ministerpräsident Markus Söder (CSU) am Donnerstagabend bei "Markus Lanz" davon spricht, wie gut die Inzidenzzahlen mittlerweile in großen Teiles seines Bundeslandes seien, warnt der Epidemiologe Prof. Gérard Krause die Politik davor, sich allein auf die Fallzahlen zu konzentrieren. Diese reichten nicht aus, um sich ein Bild vom großen Ganzen zu machen. Auch Kai Lanz, der mit 19 Jahren ein kostenloses Online-Seelsorge-Angebot initiiert hat, macht deutlich, wie es den Jugendlichen in Deutschland mit den Lockdown-Maßnahmen geht: "Wir sind an unserer absoluten Belastungsgrenze!"
Bayern macht seine Grenzen dicht - das hat Moderator Markus Lanz am Morgen noch gelesen, trägt er dem bayerischen Ministerpräsidenten vor und fragt ihn, ob damit nicht die europäische Idee nun doch verraten würde. "Die Grenzen werden nicht dicht gemacht, aber die Sicherheitskontrollen werden erhöht", erklärt Söder. Bayerns Entwicklung sei "sehr, sehr gut", jedoch gäbe es Probleme an den Grenzen zu Tschechien und Tirol, weshalb dort nur noch Menschen ins Bundesland einreisen sollen, die einen negativen Corona-Test nachweisen können.
Der CSU-Politiker macht deutlich, dass er die Motivation seiner Bevölkerung nicht schwächen wolle. "Vorsicht ist die Mutter der Porzellankiste." Etwas anders sieht es die Oberbürgermeisterin von Flensburg. Dort gäbe es an der Grenzregion zu Dänemark zwar eine hohe Inzidenz, jedoch könne sie keine Grenzen schließen, da täglich 12.000 Menschen aus Deutschland nach Dänemark zum Arbeit fahren. Simone Lange (SPD) ist der Meinung, dass man sich etwas von der Strategie Dänemarks abschauen sollte. Dort könnte man sich überall umsonst testen lassen und "auf er Autobahn ständig rausfahren". Dies sei staatlich bezahlt. In Deutschland hingehen sei das immer noch nicht in dem Ausmaß möglich und falls doch, dann von privaten Unternehmen organisiert.
Söder sagt dazu, es sei "wichtig, safe zu sein" und verweist darauf, dass Bayern schon seit Langem genauso wie die Dänen verfahren würde. Er will seine Inzidenz nach unten drücken, jedoch mache ihm Österreich Sorgen. Bundeskanzler Sebastian Kurz will Lockerungen einführen, obwohl die Infektionszahlen hoch bleiben. Die "Stop and Go-Strategie" würde er nicht unterstützen. Mit dieser Strategie sei der "gesundheitliche und wirtschaftliche Schaden viel größer als bei uns", erklärt der CSU-Politiker, "weil es keine Planbarkeit" gebe.
Mit dem Eigenlob sollte man sich bei den Todeszahlen, die wir mittlerweile in Deutschland haben, zurückhalten, greift Lanz jedoch beherzt ein. Wo wir lange Zeit mit dem Finger auf andere Länder gezeigt haben, hätten wir heute ähnliche Zahlen. Ähnlich sieht das auch der anwesende Epidemiologe Prof. Gérard Krause. Die Todesfälle würden in einem "Mikrokosmos stattfinden, wo der Lockdown gar nicht wirke", erklärt der Experte. Gemeint sind Alten- und Pflegeheime. Dort würden die Menschen ein Mehrfach-Risiko tragen, sich zu infizieren. Doch dieses Problem sei schon lange bekannt gewesen und auch ebenso absehbar. Kontaktbeschränkungen lösen es nicht, sagt Krause.
"Wir diskutieren unglaublich viel über Maßnahmen und stecken da unglaublich viel Energie rein, aber wie wir die Menschen schützen, die am meisten geschützt werden müssen, überlassen wir den Krankenhäusern, Alten- und Pflegeheimen und anderen Einrichtungen ganz allein", kritisiert der Arzt, der schon einige Epidemien auf er Welt erlebt hat. Der Bericht, der am vergangenen Mittwoch bei der Ministerpräsidentenkonferenz verfasst wurde, würde diesen Punkt kaum beachten, aber in vier Zeilen über Frisöre debattieren - das verstehe Krause nicht.
Wenn man das so "zusammenfasse", würde ein falscher Eindruck entstehen, greift Söder ein. Er verteidigt die Minister und sagt, dass gerade die Alten- und Pflegeheime bei der Impfstrategie als Erste berücksichtigt würden - in ein paar Wochen seien "alle durchgeimpft". "Das Thema ist mehr als auf dem Schirm!" Für ihn sei der Frisör keine Modefrage, sondern auch ein "Hoffnungsschimmer".
Bayerns Ministerpräsident bleibt bei der Verteidigung der Maßnahmen und sagt, dass der Frisörbesuch für viele Menschen etwas mit Hygiene zu tun habe und gerade alte Menschen darauf angewiesen seien. Er beschreibt den Besuch als "Teil der eigenen Würde" - jedoch löst das bei Lanz Unverständnis aus. Der Moderator hakt nach, wie das mit Würde verglichen werden könnte, während beispielsweise ein Spielzeugwarenhändler seit Monaten seinen Laden geschlossen haben müsse und man ihm erkläre, von ihm aus gehe eine Gefahr aus, aber von einem Frisör nicht.
Söder versucht auch hier zu erklären, dass es um die Summe der Einkaufsläden gehe in der Innenstadt. Mobilität und Kontakte seien die ausschlaggebenden Punkte, weshalb sie reduziert werden müssten.
Für den Epidemiologen geht die Diskussion nicht weit genug. Er fordert, dass man sich mehr Indikatoren anschauen müsse und man sich nicht nur auf eine Zahl versteifen dürfe. Er wünscht sich "ein Bewertungssystem, das nicht nur Fallzahlen misst". Diese seien nämlich Laborzahlen. Sowohl das RKI als auch die Gesundheitsämter würden täglich differenziertere Zahlen rausgeben, jedoch würden weder Politik noch Medien darauf achten, kritisiert der Experte. Je mehr getestet würde, desto höher seien auch die Fallzahlen. Deshalb sollten weitere Parameter in Betracht gezogen werden, wie beispielsweise die Kapazitäten von Krankenhäusern.
"Wir müssen uns auf das fokussieren, was gesamtgesellschaftlich relevant ist", sagt Krause. Das seien auf der einen Seite die schweren Krankheitsverläufe, die Todesfälle, aber eben auch die Konsequenzen der Maßnahmen. Er weiß, dass es schwierig sei, diese Dinge in "Balance" zu bringen, jedoch sei die Gesundheit nicht der einzige Wert unserer Gesellschaft. Ob es möglich sei, Pflegeheime besser und wirklich wirksam zu schützen, will Lanz von ihm wissen. Und dabei antwortet der Arzt sehr entschieden.
Er selbst habe lange auf der Onkologie gearbeitet, wo Patienten stark von Infektionen geschützt werden mussten und daher wisse er, dass es möglich ist, Menschen so zu schützen, dass sie dennoch Besuch empfangen können von ihrer Familie. "Es ist keine Magie. Es sind Anpassungen in den Konzepten und es bedeutet etwas Geld" - jedoch sei das nichts verglichen zu den Mengen, die für Maßnahmen ausgegeben würden, die nicht wirkungsvoll seien. Testen und Impfen wird seiner Meinung nach nicht ausreichen. Es fehle nicht nur immer noch an Personal, sondern auch an technischer Ausstattung. So gäbe es noch nicht einmal genügend Kittel, weiß er von Kollegen und beschreibt diese als "banal" und "Pfennigartikel". Man habe sich nur auf die Kontaktreduzierungen konzentriert und dabei vieles andere aus dem Blick verloren.
Kai Lanz ist gerade einmal 19 Jahre alt und hat bereits eine der erfolgreichsten Plattformen für psychologische Online-Hilfe in Deutschland gegründet. Sein Krisenchat umfasst mittlerweile rund 200 ehrenamtliche Mitarbeiter, die 24 Stunden am Tag Seelsorge per Chat anbieten. Er spricht dabei für seine Generation, deren Probleme während des Lockdowns enorm zugenommen hätten. "Wir haben gesehen, wir müssen was machen", erklärt Lanz. Es habe keine "zeitgemäßen Angebote für Jugendliche" gegeben, die eben lieber chatten als telefonieren. "Bei uns geht es auch um extreme Fälle, Menschen, die kurz davor sind, Suizid zu begehen", erklärt er mit Nachdruck.
Überall auf der Welt sitzen seit dem Lockdown des vergangenen Jahres seine Mitarbeiter und arbeiten im Schichtdienst. Allein am vergangenen Wochenende sollen 1.500 Anfragen eingegangen sein: "Wir kommen an unsere Belastungsgrenze!"
"Wir sehen die Nachfrage, aber bekommen keinen Support", sagt der Gründer. Eigenes Geld wurde für die Entwicklung des Chats eingesetzt, alle Mitarbeiter seien ehrenamtlich tätig, doch ewig könne das nicht weiterlaufen. Deshalb habe er bereits beim Bundesfamilienministerium nachgehakt, doch "keine positive Rückmeldung" erhalten. "Haben Sie Frau Franziska Giffey angesprochen?", will der Moderator wissen. "Ja", erklärt Lanz, jedoch habe man im Ministerium "Angst, wir wollen Whatsapp nutzen". "Sie sind nicht bereit, mit uns zu sprechen."
Der junge Mann erklärt, beim Krisenchat hätten sie es häufig mit Angst- und Panikzuständen zu tun, ebenso mit häuslicher Gewalt. "Wir haben schon sehr akute Fälle begleitet", erklärt der 19-Jährige und sagt, dass sie für das Thema der häuslichen Gewalt spezielle Teams hätten, die sich darum kümmern. Der junge Mann kritisiert in der Sendung, dass gerade in Talkshows häufig über diese Themen geredet würde, jedoch niemand ins Handeln käme. Da verteidigt Lanz seine Sendung und sagt, es gehe auch darum, genau darauf aufmerksam zu machen. Er macht seinen Namensvettern das Angebot, jede Woche zu ihm in die Sendung zu kommen, bis das Familienministerium reagiere. Was er sich wünschen würde, will der Moderator am Ende von Lanz wissen. Dieser antwortet nüchtern: "Ich wünschte, ich müsste hier nicht sitzen."
Damit meint der junge Gründer, dass er hofft, die Politik würde auf ihn und das Thema reagieren. Die Lage für Jugendliche sei ernst und müsse ebenso in den Fokus rücken.