Die Bilder Hunderter getöteter Zivilisten in Butscha nahe Kiew offenbaren Putins Kriegsverbrechen in ihrer härtesten Form. Der Westen werde handeln, kündigten Deutschland und die EU bereits an. Doch wie? Kommt nun der umstrittene Import-Stopp für russische Energie?
Der SPD-Vorsitzende Lars Klingbeil und Bayerns Ministerpräsident Markus Söder (CSU) lassen bei "Anne Will" Parteipolitik hinter sich und sagen: nein. Deutschland könne es aber verkraften, meint Wirtschaftswissenschaftlerin Veronika Grimm. Grünen-Politikerin Marieluise Beck und "Welt"-Journalist Robin Alexander erklären dabei, wie sehr Deutschlands Ansehen wegen solchen Zögerlichkeiten im Ukraine-Krieg leidet.
Das sind Anne Wills Gäste am Sonntagabend:
Die Bundesregierung sei einem enormen wirtschaftlichen Druck ausgesetzt, sagt Grünen-Politikerin Marieluise Beck, die am Samstag erst aus Kiew zurückgekehrt ist. Es sei richtig, dass mit einer solchen großen Entscheidung nicht leichtfertig umgegangen werde. Doch für sie steht fest, dass ein Energieembargo nötig ist: "Das Leid in der Ukraine ist für uns unvorstellbar."
Wenn man die Bilder aus Butscha sehe, wolle man alles tun, um diesen Krieg zu beenden, beginnt SPD-Vorsitzender Lars Klingbeil. Doch seine Emotionalität schwindet schnell. Felsenfest verteidigt er bis zum Ende der Sendung seine Meinung: "Ich habe mich sehr intensiv mit dem Embargo beschäftigt und ich denke, dass das der falsche Weg ist," so sein Urteil. Durch die Sanktionen würde Putin der Geldhahn mit jedem Tag sowieso schon zugedreht werden, betont er. Zudem denke er nicht, dass ein Embargo direkt zum Kriegsende führen würde. "Die Ukraine hat aber nicht mehr viel Zeit", unterbricht Beck.
Deutschland tue viel, um zu helfen, Klingbeil bleibt dabei. Der stellvertretende Chefredakteur der "Welt", Robin Alexander, widerspricht deutlich: nein, zumindest nicht so viel, wie die Verbündeten. Deutschland sei immer zögerlich, liefere zu wenig Waffen und zu spät. Bevor Alexander und Beck weiter die deutsche Zurückhaltung kritisieren, schlägt sich der bayerische Ministerpräsident auf Klingbeils Seite.
Zwar müsse man "so schnell wie möglich" helfen, doch einen Importstopp "von heute auf morgen" lehne auch er ab – schließlich müsse man auch die Konsequenzen für die deutsche Bevölkerung berücksichtigen. Für ein geplantes Embargo brauche man einen schnellen Energieplan, eine Verlängerung der Kernenergie und eine organisierte Entlastung der Wirtschaft, mahnt Söder.
Seiner Auffassung nach würden größere und schnellere Waffenlieferungen nun mehr nützen. Man müsse die Lieferungen so organisieren, wie die Verbündeten auch. "Man hat den Eindruck, da wirkt auch die Ministerin überfordert in der Situation", urteilt er über die vielfach kritisierte Verteidigungsministerin Christine Lambrecht.
Deutschland würde ein sofortiges Embargo verkraften, sagt Wirtschaftswissenschaftlerin Veronika Grimm. Ein tiefer Einbruch der Wirtschaft sei die logische Konsequenz, Schätzungen zufolge wären das -2,5 bis -6 Prozent Abschlag der Wirtschaftsleistung. "Keine 20 Prozent," betont sie.
Ohne Zweifel sei das eine schwere Abwägung. Die wirtschaftliche Entwicklung sowie die Sicherheit des gesamten Kontinents wären jedoch dauerhaft gefährdet, wenn Putin den Krieg ausweitet, unterstreicht sie. Im Endeffekt würde ein schnellerer Importstopp zu einer Beschleunigung des Ausbaus von erneuerbaren Energien führen, der grundsätzlich beabsichtig ist. Mittel- und langfristig werde man höhere Preise haben, das stehe fest.
"Wir werden nach dieser Zeitenwende in einer strukturell anderen Welt sein", sagt sie auch mit Blick auf die Abhängigkeiten von Rohstoffen sowie die Importe aus China. Schnellere Alternativen zu einem kompletten Stopp könnten auch Importzölle oder ein Embargo nur für Öl sein, schlägt Grimm vor. Ein Ausstieg aus Öl und Kohle würde schneller gehen, bei Gas sei das schwieriger, merkt auch Söder an.
Mit Blick in Richtung Klingbeil stimmt Beck zu. "Ein kurzer, harter Schritt würde Putin klar machen: Der Westen macht ernst", sagt sie. Wie lange ein solches Embargo gehen würde, sollte dabei gar nicht öffentlich mitgeteilt werden. Das zusammen mit mehr und schnelleren Waffenlieferungen könnten den Krieg schnell beenden, glaubt sie. Denn "die Ukraine ist in einem Wettlauf mit der Zeit".
Putin will mehr als die Ukraine, sagt Beck voraus. In Polen sei die Angst, dass es Putins nächstes Ziel werde, enorm, berichtet sie von ihren Gesprächen mit der polnischen Bevölkerung. Putin habe jede Ankündigung ernst gemeint und trotzdem sei Deutschland immer wieder aufs Neue "naiv und überrascht". Auch in Polen sei der Blick auf Deutschland "unschön", sagt Beck. Bei dem Krieg gehe es auch darum, dass sich Nachbarländer in Zukunft auf Deutschland verlassen können, unterstreicht Alexander. "Der Hälfte des Kontinents denkt sich: 'Was ist denn mit den Deutschen los?'", bekräftigt er.
Im Laufe der Sendung zeichnet sich immer mehr ein Schlagabtausch zwischen Klingbeil und Söder auf der einen, und Beck und Alexander auf der anderen Seite ab. "Ich sehe das komplett anders", unterbricht Klingbeil den Politikjournalisten. Die Zeitenwende sei doch da, wiederholt er das gewohnte SPD-Narrativ. Er nehme die Kritik an der alten Russland-Politik an, doch nicht an der seit dem 24. Februar, verteidigt er sich vehement. Sogar Wladimir Klitschko habe sich vor dem Bundestag bei Deutschland bedankt. Klingbeil wirkt in seiner Argumentation fast verzweifelt, Beck hält ihm entgegen:
Söder und Klingbeil bleiben dabei: Es gehe auch um Auswirkungen auf die Arbeitslosigkeit in Deutschland, die Existenzängste der unteren und mittleren Einkommen. Becks Appelle werten Söder und Klingbeil als "emotional" und "engagiert". Und von der Emotionalität solle man sich nicht treiben lassen, sagt Klingbeil. Alexander springt Beck zur Seite: Es sei komisch, dass die beiden ausgerechnet Beck als emotional bezeichnen, so seien ihre Aussagen doch sehr vernünftig.
Zum Schluss kann sich Söder etwas Parteipolitik aber nicht verkneifen. Als Klingbeil in höchsten Tönen über das geplante 100-Milliarden-Euro-Sondervermögen für die Bundeswehr spricht, unterbricht Söder: In der Ampel gebe es da noch Unstimmigkeiten. "Wenn man die eigene Mehrheit nicht hat, dann hat man auch nicht die Mehrheit in der Bevölkerung", stichelt er. Klingbeil lächelt: Die Koalition werde stehen.