Edith Kwoizalla heißt die erste Frau in Deutschland, die gegen das Coronavirus geimpft worden ist: Die 101-Jährige ist Bewohnerin eines Pflegeheims und hat bereits am zweiten Weihnachtstag die Spritze erhalten.
Bis jedoch ein Großteil der deutschen Bevölkerung durchgeimpft ist, wird es noch eine Weile dauern: Das liegt unter anderem daran, dass zunächst genügend Impfstoff gegen die vom Coronavirus ausgelöste Krankheit Covid-19 produziert werden muss – und das ist gar nicht so einfach, vor allem nicht, da die ganze Welt auf das langersehnte Mittel wartet.
Watson beantwortet die wichtigsten Fragen zur Impfstoffherstellung und -verteilung.
Wie weit sind die unterschiedlichen Hersteller in der Impfstoffentwicklung?
Bevor Impfstoffe der Bevölkerung verabreicht werden, müssen sie umfangreich klinisch getestet werden. Normalerweise dauert dieser Prozess Jahre – im Kampf gegen das Coronavirus ist es mehreren Herstellern in weniger als einem Jahr gelungen. In den 27 Staaten der Europäischen Union läuft die Zulassung von Impfstoffen so ab: Zunächst empfiehlt die europäische Arzneimittelbehörde EMA die Zulassung, danach muss die Europäische Kommission grünes Licht geben.
In der EU ist derzeit nur ein Impfstoff zugelassen, den der US-Pharmahersteller Pfizer und das deutsche Unternehmen Biontech entwickelt haben. Für einen zweiten Impfstoff des britischen Unternehmens AstraZeneca wird eine Entscheidung über die Zulassung für Anfang Januar erwartet. Mehrere Länder außerhalb der EU sind mit den Zulassungen schneller: In Großbritannien wurde etwa der Biontech-Pfizer-Impfstoff schon Anfang Dezember per Notzulassung freigegeben, in Russland und anderen Staaten der Welt wird schon der russische Impfstoff Sputnik V verabreicht.
Weitere Impfstoffe dürften in den kommenden Monaten folgen:Laut der "New York Times" werden momentan dutzende Impfstoffe gegen Covid-19 entwickelt. Bei 19 davon ist Stand Ende Dezember 2020 die letzte Phase der klinischen Tests erreicht.
Wie lange wird es voraussichtlich dauern, bis sich alle in Deutschland impfen lassen können?
Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) geht davon aus, dass bis Sommer 2021 etwa 60 Prozent der Bevölkerung geimpft sein könnten. Zuerst geimpft werden Menschen, die ein erhöhtes Risiko haben, schwer oder tödlich an Corona zu erkranken (also ältere Menschen und solche mit Vorerkrankungen) sowie medizinisches Fachpersonal. Auch Menschen, die für den reibungslosen Ablauf des öffentlichen Lebens notwendig sind, also Polizeibeamte oder Lehrer, werden relativ früh geimpft.
Der Rest der Bevölkerung, vorrangig junge, gesunde Menschen, die sich gut zu Hause isolieren können, werden sich demnach voraussichtlich noch einige Monate gedulden müssen, bis sie eine Impfung gegen Corona erhalten. Bis die Herdenimmunität in Deutschland erreicht ist, müssten 75 Prozent der Bevölkerung immunisiert sein, sagte der Epidemiologe Markus Scholz von der Uni Leipzig gegenüber watson. "Das setzt aber auch voraus, dass die Immunisierung dauerhaft ist", so Scholz. "Das wissen wir noch nicht."
Axel Olaf Kern, Gesundheitsökonom an der Hochschule Ravensburg-Weingarten in Baden-Württemberg, rechnet vor, welcher Impf-Rhythmus für die Herdenimmunität nötig wäre. Gegenüber watson erklärt Kern:
"Wenn für Covid-19 eine Durchimpfungsrate von 80 Prozent angenommen wird, so müssten rund 65 Millionen. Bürger geimpft werden – was bedeutete, dass rund 180.000 Personen pro Tag geimpft werden müssten, um innerhalb eines Jahres die Herdenimmunität erreicht haben zu können."
Wie lange oder kurz es am Ende dauert, bis jeder sich gegen Covid-19 impfen lassen kann, hängt vor allem von zwei Faktoren ab: Wie schnell eine möglichst große Zahl an Impfstoffen zugelassen werden – und wie schnell möglichst viele Dosen dieser Stoffe für die Bevölkerung verfügbar sind.
Damit die Impfdosen nach der Zulassung schnell und zuverlässig geliefert werden, hat die Europäische Kommission schon lange vor der Zulassung Verträge mit mehreren Herstellern abgeschlossen: Neben 300 Millionen Dosen für den Stoff von Biontech-Pfizer hat sie sich so schon 400 Millionen von Astra Zeneca und insgesamt 1,2 Milliarden Dosen anderer Hersteller gesichert. Die Kommission weist auf ihrer Website darauf hin, dass die EU-Mitgliedsstaaten Impfdosen auch an ärmere Länder weitergeben können.
Wie lässt sich der Prozess beschleunigen?
Anfang Dezember schon gaben die Unternehmen Biontech und Pfizer bekannt, dass sie nur die Hälfte der ursprünglich geplanten 100 Millionen Impfdosen liefern könnten. Mit den 50 Millionen Impfdosen können 25 Millionen Menschen geimpft werden. Laut Gesundheitsminister Spahn erhält Deutschland in diesem Jahr 1,3 Millionen Dosen, weitere 10 Millionen treffen im Januar ein. Damit wäre noch nicht einmal die erste Impfgruppe mit "sehr hoher" Priorität – also über-80-Jährige, Menschen mit Vorerkrankungen und medizinisches Personal – immunisiert.
"Ein Engpass sind zurzeit noch die begrenzten Mengen an Impfdosen", bestätigt auch Epidemiologe Timo Ulrichs von der Akkon-Hochschule in Berlin gegenüber watson. Allerdings gibt er zu bedenken, dass nicht nur der Impfstoffmangel selbst ein Problem werden könnte:
"Wenn diese ausreichend vorhanden sein werden, wird sicher die Personaldecke in den Impfzentren ein weiterer Flaschenhals werden, das heißt, hier könnte aufgestockt werden. Und dann wäre noch wichtig, dass immer, also jeden Impftag, in allen Impfzentren ausreichend Impflinge vorhanden sind, damit kein Leerlauf entsteht oder sogar nicht verwendete Impfdosen verfallen."
In der Politik wird derweil diskutiert, wie man den Impfprozess beschleunigen kann. "Endloses Warten reduziert auch die Bereitschaft der Bevölkerung, sich impfen zu lassen", warnte Bayern Ministerpräsident Markus Söder (CSU) gegenüber der Deutschen Presse-Agentur.
Ein Vorschlag der Linken ist, Lizenzen zur Impfstoffproduktion für weitere Pharmaunternehmen freizugeben. "Das größte Problem derzeit ist, dass zu wenig Impfstoffe produziert werden", sagte der gesundheitspolitische Sprecher der Linksfraktion im Bundestag, Achim Kessler, dem "Spiegel". "Der Gesundheitsminister kann nach dem ersten Bevölkerungsschutzgesetz Unternehmen zwingen, anderen Unternehmen eine Lizenz zum Nachproduzieren zu gewähren – das muss die Bundesregierung jetzt schnell tun." Gemeint ist damit wohl vorrangig das Mainzer Unternehmen Biontech. "Wenn die Bundesregierung jetzt nicht alle gesetzlichen Möglichkeiten ausschöpft, gefährdet sie zahllose Menschenleben", so Kessler.
Kordula Schulz-Asche, Berichterstatterin für Infektionsschutz der Grünenfraktion, gibt laut "Spiegel" allerdings zu bedenken, dass ein Ausbau der Kapazitäten in Bezug auf den Impfstoff selbst sowie das impfende Personal nicht über Nacht möglich sei. "Die Forderung nach einer Ausweitung der Impfstoffproduktion ist ein gut gemeinter Wunsch", sagt Schulz-Asche. "Wir sprechen hier nicht über das Fertigen von Zahnstochern, sondern über die Herstellung von hochkomplexen Arzneien."
Dem stimmt Ulrichs zu. Der Epidemiologe sagt gegenüber watson: "Es ist leider nicht so, dass andere Firmen in kurzer Zeit den Impfstoff nachproduzieren können – die vorhandenen Kapazitäten werden wohl schon ziemlich ausgeschöpft."
Gesundheitsökonom Kern weist gegenüber watson darauf hin, dass zunächst zu klären sei, welche Unternehmen überhaupt "über die technischen Voraussetzungen verfügen, den mRNA-Impfstoff herzustellen".
Kerns Ansicht nach dürfte eine Freigabe der Lizenz aber im Interesse der ursprünglichen Hersteller sein. Kern wörtlich:
"Das Ursprungsunternehmen (hier Biontech) sollte grundsätzlich daran interessiert sein, durch Lizenzvergaben die Produktion auszuweiten, sofern es die erforderliche Menge an Impfstoff nicht in eigener Produktion herstellen kann."
Laut Gesundheitsökonom Kern ist es außerdem besonders wichtig, dass den Herstellern die Kosten für Forschung, Produktion und Verteilung des Impfstoffs erstattet werden. Die Kosten für eine Durchimpfung der gesamten deutschen Bevölkerung gegen Covid-19 schätzt Kern aus jetziger Sicht auf insgesamt 4,5 Milliarden Euro.
Warum dauert es so lange, einen Impfstoff herzustellen?
Zunächst einmal: Noch nie wurde in Deutschland ein Impfstoff so schnell hergestellt wie aktuell gegen das Coronavirus. Normalerweise benötigt die Entwicklung mehrere Jahre. Wegen der Pandemie wurde den Forschern allerdings mehr Geld zur Verfügung gestellt, einige bürokratische Schritte wurden im Eintempo durchgeführt. Trotzdem braucht es Zeit, die aufwendigen Arzneimittel in mehreren Schritten herzustellen, sie zu überprüfen, zu transportieren und zu lagern – und zwar weltweit.
Beim Impfstoff von Biontech handelt es sich um einen mRNA-Impfstoff. Das ist ein Vakzin, bei dem ein Teil der genetischen Information des Virus entnommen wird – quasi eine Bauanleitung, anhand derer der menschliche Körper das Virusprotein selbst nachbaut. Dagegen werden dann Antikörper gebildet und so der Immunschutz gegen das Coronavirus aufgebaut.
Es ist das erste Mal, dass ein mRNA-Impfstoff auf dem Markt zugelassen wird. "Der mRNA-Impfstoff lässt sich im Vergleich zu anderen eigentlich schnell und in großen Mengen produzieren, deshalb ist es gut, dass er schon zugelassen ist", sagt Ulrichs über die Vorteile dieses Vakzins. Die Herstellung erfolgt in zwei Schritten: Zuerst muss die mRNA, also die "Bauanleitung", für das Virus erschaffen werden. Dann muss die mRNA in eine Art Hülle verpackt werden, Lipid-Nanopartikel, mithilfe derer die mRNA in den Körper findet.
Und hier liegt die große Herausforderung: Denn diese Hülle so herzustellen, dass der menschliche Körper sie auch annimmt, ist sehr schwierig. "Sind die mRNA-Lipid-Partikel zu groß, werden sie eher von der körpereigenen Müllabfuhr beseitigt", erklärt Olivia Merkel vom Fachbereich Pharmazeutische Technologie an der Ludwig-Maximilians-Universität München gegenüber dem "Redaktionsnetzwerk Deutschland". Sind sie zu klein, kann nicht ausreichend mRNA verpackt werden.
Weil die Hülle des mRNA-Impfstoffs von Pfizer und Biontech so empfindlich ist, muss das Vakzin auf minus 70 Grad gekühlt werden. Das ist auch einer der Gründe dafür, dass extra Impfzentren mit speziellen Kühlschränken gebaut werden mussten, die es in normalen Arztpraxen meist nicht gibt.
Der Impfstoff von Moderna, über dessen Zulassung in Deutschland am 6. Januar entschieden wird, ist ebenfalls ein mRNA-Impfstoff, kann aber bei 2 bis 8 Grad gelagert werden. Das vereinfacht den Impfprozess voraussichtlich. Ähnlich ist es beim mRNA-Impfstoff von Curevac, welcher bei 5 Grad stabil bleiben soll.
Was muss sonst noch passieren, damit wir die Pandemie überwinden?
Es gibt unterschiedliche Szenarien dazu, wie die Welt am Ende mit dem Coronavirus Sars-Cov-2 und der Krankheit Covid-19 klarkommen wird. Pandemien begleiten die Menschheit seit Jahrhunderten – je stärker die Erdteile miteinander verbunden sind, desto größer ist die Gefahr, dass sie auftreten. Die für Pandemien verantwortlichen Erreger können irgendwann ausgerottet werden – so, wie das etwa im 20. Jahrhundert dank einer weltweiten Impfkampagne mit dem Erreger der Pocken geschehen ist.
Oder die Gesellschaften auf der Welt lernen, mit dem Virus mehr oder weniger gut zurechtzukommen: So ist das etwa bei der sogenannten Spanischen Grippe geschehen, die zwischen 1918 und 1920 bis zu 50 Millionen Menschen getötet hat. Seither reisen Jahr für Jahr abgeschwächte Varianten des Virus in Form von Grippewellen um die Welt und sind für manche Gruppen eine tödliche Gefahr. Doch es gibt jedes Jahr auch Impfungen dagegen.
Was mit dem Coronavirus genau passieren wird, ist schwer vorherzusagen. Es gibt aber voraussichtlich mehrere Voraussetzungen dafür, dass ein Leben ohne pandemiebedingte Einschränkungen wie Lockdowns, Maskenpflicht und das Verbot von Konzerten und Clubbesuchen möglich ist:
Ein großer Anteil der Bevölkerung muss gegen das Coronavirus immun sein.
Die Immunität durch den Impfstoff darf nicht allzu kurz dauern.
Der Impfstoff sollte nicht nur die geimpften Personen vor der Erkrankung an Covid-19 schützen – sondern auch verhindern, dass die Geimpften das Coronavirus an andere Menschen übertragen.
Wie lange die Immunität nach überstandener Krankheit beziehungsweise nach einer Impfung anhält, wissen wir noch nicht. Auch gibt es noch keine vollständigen Beweise dafür, dass das Corona-Vakzin vor einer Übertragung des Virus schützt. Da Coronaviren auch schon vor Sars-Cov-2 im Umlauf waren, ist es möglich, dass wir einfach lernen werden müssen, mit dem Virus zu leben – wie es beispielsweise der Virologe Hendrik Streeck von der Uniklinik Bonn immer wieder betont. Fakt ist allerdings, dass das Leben mit Corona dank zahlreicher Impfstoffe einfacher werden wird und zumindest die Hoffnung besteht, die Pandemie in den kommenden Monaten vielleicht nicht zu überwinden, aber in den Griff zu kriegen.
Gesundheitsökonom Axel Olaf Kern ist relativ optimistisch. Gegenüber watson erklärt er, die Beschränkungen der Freiheitsrechte müssten "bei Impfung der Risikogruppen sehr schnell wieder zurückgenommen werden können". Hygienevorsichtsmaßnahmen sollten aber beibehalten werden. Dem stimmt auch Ulrichs zu, vor allem, "wenn die Risikowahrnehmung im Frühling deutlich abnehmen wird". Außerdem sagt der Epidemiologe: "Es ist eine moralische Pflicht eines jeden, sich impfen zu lassen, um sich und andere zu schützen und dazu beizutragen, dass der jetzige Zustand dauerhaft beendet werden kann."