Ende Dezember ging es los mit dem begehrten Biontech-Impfstoff. Wann ist genug für alle da?Bild: dpa / Felix Kästle
watson antwortet
Zu wenig Impfstoff, zu lahme Verteilung: Die Bundesregierung und auch die EU-Kommission müssen sich Kritik anhören. Lief da etwas schief? Die wichtigsten Fragen und Antworten.
03.01.2021, 18:2304.01.2021, 06:50
Seit einer Woche wird in Deutschland gegen das
Coronavirus geimpft. Gesundheitsminister Jens Spahn hatte schon vor
dem Start geahnt: "Es wird an der einen oder anderen Stelle auch mal
ruckeln." Der CDU-Politiker sollte recht behalten. Vielen geht das
Impfen zu langsam, andere Länder kommen schneller voran. Die Älteren,
die als erste geimpft werden sollen, fragen sich, wie sie an den
wichtigen Piks kommen. Die Opposition wirft der Bundesregierung zum
Start des Wahljahrs vor, bei der Vorbereitung versagt zu haben. Und
auch die EU-Kommission kriegt reichlich Schelte. Wir fassen den aktuellen Stand zusammen.
Bild: watson
Wie viel Impfstoff ist da und wie viel davon wurde bereits genutzt?
Bislang wurden 1,3 Millionen Dosen des Impfstoffes der Mainzer Firma
Biontech an die Bundesländer geliefert. Damit werden zunächst
Bewohner von Alten- und Pflegeheimen, Menschen über 80 Jahre sowie
Pflegekräfte und besonders gefährdetes Krankenhauspersonal versorgt.
Am Sonntag gab das Robert Koch-Institut bekannt, dass inzwischen rund
238.800 Impfungen gemeldet seien. Wegen Meldeverzögerungen könnte die
reale Zahl höher liegen. Viele Bürger und auch Experten beschweren
sich, dass nicht genügend Impfstoff da sei. Aber selbst wenn man – wie manche Bundesländer es tun – die Hälfte der Dosen für die nötige
zweite Impfung zurücklegt, wurde noch längst nicht die gesamte Menge
aufgebraucht.
Warum geht es so langsam voran?
Das Gesundheitsministerium verweist an die Bundesländer, die die
Impfungen organisieren. Generell könnte es daran liegen, dass erstmal
vorrangig in Alten- und Pflegeheimen geimpft wird. Die Bewohner dort
sind oft nicht mobil, so dass Impfteams in die Heime fahren müssen.
Das dauert länger als Massenimpfungen in einem Impfzentrum. Außerdem
sind vor dem Impfen kurze Arztgespräche vorgesehen. Minister Spahn
verspricht bei "RTL Aktuell", dass im Laufe des Monats alle
Pflegeheim-Bewohner geimpft werden. "Dieses Ziel können wir im Januar
erreichen. Und das wollen und werden wir auch mit den Ländern
erreichen."
Wann kommt die nächste Impfstoff-Lieferung in den Ländern an?
Die nächste Charge Biontech-Impfstoff kommt am Freitag, dem 8.
Januar. Bis Anfang Februar sind jeweils montags drei weitere
Liefertermine vorgesehen. Bis einschließlich 1. Februar sollen
weitere 2.68 Millionen Impfdosen an die Länder verteilt werden. Noch
im Januar könnte Impfstoff eines anderen Herstellers dazukommen: Die
Bundesregierung rechnet für den 6. Januar mit der EU-Zulassung des
Impfstoffs von Moderna. "Die genauen Lieferpläne für diesen Impfstoff
werden wir dann zügig mit der EU und dem Unternehmen abstimmen",
kündigte das Ministerium an.
Wie kommt man an einen Termin fürs Impfen?
Wie Über-80-Jährige, die nicht in Altenheimen leben, an ihre Impfung
kommen, ist von Bundesland zu Bundesland unterschiedlich. In
Baden-Württemberg und Schleswig-Holstein etwa können sie bereits
telefonisch Termine für die Impfzentren buchen, die Hotline 116 117
war Berichten zufolge zum Start aber teilweise schwer erreichbar. In
anderen Ländern wie Nordrhein-Westfalen können noch gar keine
individuellen Impftermine vereinbart werden. Die Deutsche Stiftung
Patientenschutz sieht Nachteile für Pflegebedürftige, die zuhause
leben. Nicht-mobile Menschen seien schlichtweg vergessen worden.
Unklar ist auch noch, wie das Gros der Bürger später informiert wird – ob etwa alle Über-70-Jährigen von den Kommunen oder Versicherungen
angeschrieben werden.
Hat die EU-Kommission zu wenig Impfstoff von Biontech bestellt?
Gesundheitskommissarin Stella Kyriakides weist Kritik zurück. "Das
Nadelöhr ist derzeit nicht die Zahl der Bestellungen, sondern der
weltweite Engpass an Produktionskapazitäten", erklärt sie der
Deutschen Presse-Agentur. "Das gilt auch für Biontech." Im November
wurden bis zu 300 Millionen Dosen des Biontech-Impfstoffs bestellt,
die nach Bevölkerungszahl auf die 27 EU-Staaten verteilt werden.
Daneben gibt es Rahmenverträge mit fünf weiteren Herstellern.
Insgesamt hat die EU Bezugsrechte für knapp zwei Milliarden
Impfdosen, mehr als genug für die 450 Millionen Menschen in der EU.
Das Problem: Bisher hat nur Biontech/Pfizer die EU-Zulassung. Die
Vielfalt nützt also erstmal nichts.
Warum ist die EU-Kommission so vorgegangen?
Da lange unklar war, wer im Impfstoff-Rennen die Nase vorn haben
würde, wollte die Kommission das Risiko streuen. Warum zu welchem
Zeitpunkt welche Mengen bei bestimmten Firmen bestellt wurden, ist
aber nicht transparent – die Verträge sind geheim. Unter der Hand ist
in Brüssel zu hören: Biontech und Moderna waren für einige EU-Staaten
zunächst nicht erste Wahl, wegen der neuartigen Technologie und wegen
der Preise. Auch diese sind ein Geheimnis, doch gab eine belgische
Staatssekretärin kürzlich auf Twitter zeitweise Einblick: So koste
eine Dosis Impfstoff von Moderna umgerechnet rund 15 Euro, von
Biontech/Pfizer 12 Euro, von Astrazeneca nur 1,78 Euro.
Hat die EU auf die falschen Impfstoffe gesetzt?
Der SPD-Politiker Karl Lauterbach kritisiert, dass Europa nur wenig
von dem Moderna-Impfstoff gekauft hat, nämlich 160 Millionen Dosen.
"Schon sehr früh war klar, dass der Moderna-Impfstoff sehr stark
wirkt und in Hausarztpraxen verwendet werden könnte", sagte
Lauterbach der "Rheinischen Post". Wegen der geringen Menge werde der
Moderna-Impfstoff wohl keine große Rolle spielen. Mit AstraZeneca
vereinbarte die EU-Kommission hingegen schon im August den Kauf von
bis zu 400 Millionen Dosen und hoffte auf Lieferung vor Jahresende.
Dann gab es in Tests Rückschläge. In Großbritannien hat der
sogenannte Oxford-Impfstoff nun die Notfallzulassung geschafft. In
der EU könnte das Mittel einige Wochen nach Moderna möglicherweise
als nächstes auf den Markt kommen.
Kann die EU noch mehr von Biontech bekommen?
Voraussichtlich ja. Man sei "in fortgeschrittenen Diskussionen" über
zusätzliche Lieferungen, sagte Biontech-Chef Ugur Sahin an Neujahr
der Deutschen Presse-Agentur. Also mehr als die bestellten 300
Millionen Dosen. Man arbeite mit der EU am Ausbau der
Produktionskapazitäten. Im "Spiegel" wies er auf Schwierigkeiten hin:
"Aber es ist ja nicht so, als stünden überall in der Welt
spezialisierte Fabriken ungenutzt herum, die von heute auf morgen
Impfstoff in der nötigen Qualität herstellen könnten." Erst Ende
Januar werde klar sein, ob und wieviel zusätzlich produziert werden
könne.
Wann wird genug Impfstoff für alle da sein?
"Die Situation wird sich Schritt für Schritt bessern", verspricht
Gesundheitskommissarin Kyriakides. Rechnerisch reicht die von der EU
bestellte Menge der drei Mittel von Biontech/Pfizer, Moderna und
Astrazeneca – insgesamt 860 Millionen Dosen – für alle erwarteten
Impfungen in Europa: 60 bis 70 Prozent der Bevölkerung mit jeweils
zwei Spritzen. Sobald alle drei die EU-Zulassung haben, dürfte der
Nachschub in Schwung kommen. Dennoch wird die Impfkampagne Monate
dauern, weil nur in Etappen geliefert wird.
Warum setzt Deutschland auf Beschaffung über die EU und kauft nicht selbst ein?
Gesundheitsminister Spahn betont, dass Deutschland bewusst den
europäischen Weg wählte. Ein Wettrennen der 27 um den knappen
Impfstoff hätte neuen Zündstoff für die EU bedeutet, und das große
Deutschland wäre mit Sicherheit dafür angefeindet worden, kleine und
weniger wohlhabende Staaten auszubooten. "Europa ist vernetzt, und
wir kommen am schnellsten gemeinsam aus dieser Krise", meint
Kyriakides. "Daran hat auch Deutschland ein großes Interesse." Hinzu
kommt die Marktmacht der EU-Kommission. Sie bekommt wegen der großen
Mengen gute Preise. Laut Medienberichten sollen die USA für die
ersten 100 Millionen Dosen Biontech-Impfstoff 19.50 Dollar pro Stück
bezahlt haben, umgerechnet rund 16 Euro. In der EU waren es den
belgischen Informationen zufolge 12 Euro.
(andi/dpa)