Es hat fast etwas von einem Theaterstück, was sich auf dem EU-Gipfeltreffen in Brüssel am Donnerstag abspielte. Auf der Agenda des Treffens der EU-Staatsoberhäupter stand unter anderem die Abstimmung über den Beginn der Beitrittsverhandlungen mit der Ukraine. Dass der ungarische Ministerpräsident Viktor Orbán sich hier querstellen würde, war allen Beteiligten schon vorher klar.
Allerdings hatten seine 27 EU-Amtskolleg:innen wohl gehofft, dass sich die Gespräche nicht so lange ziehen würden. Bereits am Donnerstagvormittag machte Orbán klar: "Die Ukraine hat nicht alle Bedingungen für den Start von Beitrittsverhandlungen erfüllt." Deshalb gebe es keinen Grund, Gespräche mit der Ukraine zu beginnen.
Doch am Ende des Tages ging dann doch alles ganz schnell. Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) schickte Orbán zu einem Kaffee. Dann war es beschlossene Sache.
Stundenlang hatte Orbán sich nicht umstimmen lassen. Auch der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj hatte zwei Tage zuvor versucht, Orbán zu überzeugen. Am Mittwoch hatte der neue polnische Premier Donald Tusk auf den Ungarn eingeredet. Am Vormittag sprachen Bundeskanzler Olaf Scholz, Frankreichs Präsident Emmanuel Macron und Kommissionschefin Ursula von der Leyen mit ihm. Und zum Gipfel-Auftakt redeten zahlreiche weitere EU-Größen auf den ungarischen Premier ein.
Erst nach acht Stunden setzen sich seine 26 EU-Kolleg:innen durch. Sie entschieden einstimmig, so wie es auch gesetzlich vorgesehen ist. Möglich war das nur deshalb, weil der ungarische Premier sich während der Abstimmung nicht im Raum befand. Seine stundenlange Blockade zur Eröffnung der Gespräche mit der Ukraine hatte er offenbar bewusst beendet, indem er den Raum verließ.
Wie der "Spiegel" berichtet, hatte Scholz ihm während der EU-Runde in Brüssel den Vorschlag gemacht, doch einfach mal einen Kaffee trinken zu gehen. Gesagt, getan. Ein Schachzug, damit der ungarische Premier nicht mit ansehen musste, wie der Rest der EU-Runde einstimmig für die Eröffnung von Beitrittsverhandlungen mit der Ukraine stimmte.
Dass er dennoch gegen diese Entscheidung ist, daraus machte er auch hinterher kein Geheimnis. Während Scholz von einem "starken Zeichen der Unterstützung" und einer "Perspektive" für die Ukraine sprach, wetterte Orbán, dass dies eine "schlechte Entscheidung" sei.
Während sich die anderen 26 Staatsoberhäupter in Sachen Beitrittsgesprächen durchsetzen konnten, blockierte Orbán jedoch die 50 Milliarden Euro Hilfe für die Ukraine. Dennoch sprechen die europäischen Regierungschefs etwa von einem "historischen Moment".
Auch Georgien und Bosnien-Herzegowina kommen nun für einen Beitritt infrage. Ratspräsident Charles Michel freut sich über dieses "kraftvolle politische Signal", das mit der Entscheidung nicht nur an die Ukraine und Russland, sondern an die ganze Welt gesendet wird.
Auch für den US-Präsidenten Joe Biden ist dies hilfreich. Er kämpft gerade gegen den Widerstand der republikanischen Mehrheit im US-Repräsentantenhaus um Hilfen für das Kriegsland. Denn die Ukraine ist auf die Unterstützung des Westens angewiesen, um Russland die Stirn bieten zu können. Wie der "Spiegel" weiter schreibt, zeigt der Westen durch die EU-Entscheidung, dass es ihn noch gibt.
Allerdings gibt es noch viele Dinge, die ungeklärt sind. Etwa die Frage, wie man in der EU mit solchen Situationen künftig umgeht. Auch die Einigkeit des Staatenverbunds in der Zukunft sowie die Frage, wie man mit Mitgliedern umgeht, die das Spiel des Russland-Machthabers Wladimir Putins mitspielen, sind unklar. Das Einstimmigkeitsprinzip macht Abstimmungsprozesse in diesen Fällen schwierig.
Denn Viktor Orbán hat mit dieser Aktion auch gezeigt, wie viel Macht ein einzelner Staat haben kann. So verlangt er etwa die Freigabe aller eigentlich eingefrorener EU-Mittel für Ungarn, um den Hilfen für die Ukraine zuzustimmen.
Ob die Europäische Union auf Dauer mit erpresserischen Mitteln in den eigenen Reihen so weitermachen kann, ist fraglich. Bereits am Mittwoch, einen Tag vor der Ukraine-Abstimmung, hatte die EU zehn Milliarden Euro freigegeben. Offiziell natürlich nicht, um Orbán umzustimmen, sondern, weil er angeblich die Bedingungen dafür erfüllt hatte.