Das Flugzeug rollt auf die Startbahn, beschleunigt und hebt ab. Es steigt immer höher und höher. Erst hier weit oben über Israel nimmt sich Tilman die Freiheit, die Erschöpfung zuzulassen. Die Passagiere an Bord sind angespannt, aber rücksichtsvoll. Ein Gemeinschaftsgefühl macht sich breit. 20 Minuten später, sagt er, wurde der Flughafen beschossen. Explosionen des Raketenabwehrsystems schallten durch Tel Aviv.
Doch da waren Tilman und das Flugzeug schon außer Schussweite. Ursprünglich wollte der 31-Jährige zehn Monate in Israel bleiben und dort an einem Leadership-Programm teilnehmen. Gemeinsam mit fünf weiteren Deutschen und sechs Israelis sollte er dafür in einem Studierendenwohnheim in Jaffa, einem Stadtteil von Tel Aviv, untergebracht werden. Anders als deutsche Wohnheime ist dieses mit bombensicheren Appartements ausgestattet.
Denn zu Spannungen kommt es im Pulverfass Nahost immer wieder. Der Kurs hätte Mitte Oktober losgehen sollen. Tilman ist mit seiner Freundin extra etwas früher nach Israel gereist, um dort noch einmal gemeinsam Urlaub zu machen, ehe sie sich zehn Monate nur selten sehen.
"Wir waren in Tel Aviv unterwegs. Die Menschen dort sind wahnsinnig nett und offen", sagt Tilman über seine ersten Eindrücke. Dann wurden die beiden erst einmal sehr krank. Statt Tel Aviv zu erkunden, lagen sie flach. Samstagmorgen brach dann das Chaos aus.
Luftalarm. Verschlafen schlossen er und seine Freundin die Fenster und gingen in die fensterlose, hoffentlich bombensichere Küche und warteten ab. Tilman meint, er habe sich zu diesem Zeitpunkt keine großen Gedanken gemacht, schließlich hatte er damit gerechnet, dass es hin und wieder zu solchen Alarmen kommen könnte. Hinzu kam die Krankheit, die immer noch an seinen Kräften zehrte. Nach einiger Zeit war Ruhe, sie konnten wieder ins Bett gehen.
Bis wenige Stunden später erneut die Sirenen schrillten. Wieder zogen sich Tilman und seine Freundin von den Fenstern zurück – und warteten. "Ich fing an, die Nachrichten zu checken, um herauszufinden, was überhaupt los ist", sagt er. Ihm habe dann langsam gedämmert: "Was hier gerade passiert, ist nicht gut."
Und dann kam der dritte Alarm. Mittlerweile war Tilman und seiner Freundin bewusst, dass in der Nacht tausende Raketen aus dem Gaza-Streifen auf Israel abgefeuert worden sind. In der bombensicheren Küche haben die beiden mit einer israelischen Studierenden gefrühstückt und über die Lage gesprochen. Immer wieder hätten sie die paarweise auftretenden Detonationen der Raketenabwehrsysteme gehört. "Da hat es mich geschüttelt", gibt Tilman zu.
Er wisse zwar, dass krasse Situationen real seien und ihm gerade passieren – die emotionale Reaktion darauf käme aber meistens erst später. Diesmal sollte es noch eine Weile dauern, bis Tilman sich vom Anspannungsmodus verabschieden und seinen Emotionen freien Lauf lassen konnte.
Samstagmittag war noch nicht klar, dass Tilman wirklich ausfliegen würde, dass der Kurs, an dem er teilnehmen sollte, ausfällt. Bei seiner Freundin sah die Situation anders aus. Ihr Flug ging am frühen Morgen des kommenden Tages – weil sie nicht wussten, wie sich die Situation entwickelt, sind sie trotzdem schon am frühen Abend zum Flughafen losgefahren. Zu Tilmans Überraschung fuhren Taxis.
Vom Auswärtigen Amt gab es währenddessen die ersten Informationen für Staatsbürger:innen, die sich in Israel befinden. Von Evakuierungen ist in den ersten E-Mails (die watson vorliegen) nichts zu lesen. Stattdessen gab es allgemeine Informationen zu den Sicherheitsvorkehrungen in Israel – und den Verweis auf Linienflüge, die nach wie vor fliegen.
Von der Stiftung, über die Tilman in Israel war, hatte er das Go, eigenmächtig auszureisen. Es wurde jedoch erst einmal geraten, die Entwicklung der Lage abzuwarten. Die Ansage war, die Studierenden sollten erstmal auf dem eingezäunten Gelände ihres Wohnheimes bleiben, mit den bombensicheren Räumen wären sie dort sicher.
Tilman hatte hin und her überlegt: Eine überstürzte Ausreise hätte für ihn, als Studenten, eine große finanzielle Belastung bedeutet. Letztlich waren aber all seine Überlegungen umsonst. Der Flug seiner Freundin wurde verschoben, schließlich gecancelt. Der nächste, vielleicht freie Flug, wäre erst am nächsten Mittag abgeflogen. Eine Nacht am Flughafen also. Und das, während es den beiden gesundheitlich immer noch schlecht ging. Während sie warteten, mussten die beiden wegen eines Alarms ins Treppenhaus des Flughafens flüchten.
Tilman wechselte mit seiner Freundin in den Planungsmodus. Panik, Schwäche, Emotionalität: Für all das war keine Zeit. "Hätten wir die Nacht am Flughafen verbracht, wären wir am nächsten Tag richtig krank gewesen", sagt er. Die beiden fuhren während einer Beschusspause zurück ins Wohnheim und schliefen sich aus. Dort, meint Tilman, hatten sie wenigstens einen sicheren Raum.
Am nächsten Morgen hatte Tilman eine Schalte mit den anderen Teilnehmer:innen des Programms, sowie den Organisator:innen. Der erste Israeli der Klasse wurde bereits eingezogen, fast alle berichteten von vermissten Freund:innen und Toten. Der Krieg sei plötzlich sehr nah gewesen. "Meine Freundin nannte diesen Moment surreal: Wir wollten unbedingt raus, die Israelis wollten unbedingt für ihr Land kämpfen", sagt Tilman.
Sonntagabend hatte die Stiftung dann auch ihr finanzielles Go gegeben: Der Ausreise stand nichts im Weg. Theoretisch. Einen Flug zu finden, kaum möglich.
Vom Auswärtigen Amt gab es noch immer kein Evakuierungsangebot. Stattdessen der Tipp nicht nur nach Direktlinienverbindungen nach Deutschland Ausschau zu halten. Ein Tipp, der Tilman sauer macht. Er fühlte sich verarscht, meint er. Im Stich gelassen. "Als wären wir nicht schon selbst auf die Idee gekommen, einen Flug zu suchen, der uns herausbringt – völlig egal wohin", schimpft er.
Das Auswärtige Amt, meint Tilman, sei überhaupt keine Hilfe gewesen. Erst am Dienstagnachmittag kam eine E-Mail, die eine Evakuierung per Bus zum Flughafen Amman in Jordanien anbot. Am Donnerstag, also fünf Tage nach Ausbruch des Krieges, hat Deutschland mit der Evakuierung per Flugzeug begonnen.
Aus dem Auswärtigen Amt heißt es auf watson-Anfrage: Gemeinsam mit der Botschaft in Tel Aviv stünde man in engem Austausch mit israelischen Behörden und mit den sich in Israel befindenden deutschen Staatsangehörigen. Diese würden über Ausreiseoptionen und -routen beraten. Neben den Flügen der Lufthansa am Donnerstag sei nun eine Fähre nach Zypern organisiert worden.
Schließlich schafften sie es, einen Flug in die Türkei zu buchen. Am frühen Dienstagmorgen machten sich Tilman und seine Freundin auf den Weg zum Flughafen. Ihr Flug in die Türkei sei zwar bereits in der Nacht gecancelt worden, für sie war aber klar: Sie warten jetzt so lange am Flughafen, bis sie in ein Flugzeug steigen.
Woran sich Tilman erinnere, wenn er an den Flughafen denkt: rote Augen. Gerötet von der Erschöpfung, der Angst, den Tränen. Aber keine Panik, stattdessen sei die Stimmung am Flughafen sehr ruhig gewesen. Umbuchen am Schalter war nicht möglich, weil es keine Plätze mehr gab. Tilman und seine Freundin hätten dann das Internet durchforstet: ein Flug mit Turkish Airlines, am Freitag. Tilman hat zugeschlagen, in der Hoffnung, dass es doch noch einen früheren gibt.
Und dann öffnete sich tatsächlich eine unerwartete Tür für die beiden Deutschen: ein Flug, der laut Tilman vorher noch nicht auf der Flugtafel stand. Für 800 Euro pro Person am Dienstagnachmittag nach Izmir. Sie schlugen zu. Von Izmir ging es am nächsten Tag über Antalya zurück nach Deutschland.
Zu Hause angekommen, hätte Tilman erstmal im Wohnzimmer gestanden. Überwältigt von der Anstrengung der vergangenen Tage, von den Erlebnissen und von der Gewissheit, dass sein Traum vom Auslandsjahr in Israel nun begraben ist. Beschämt hätte er an die im Land gebliebenen und ihr unfassbares Leid gedacht.
Dann hätte er sich die Freiheit genommen, aus dem Fenster zu gucken und zu weinen.