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Was die Ampelkoalition für junge Menschen bedeutet

BERLIN, GERMANY - DECEMBER 8: Olaf Scholz (L) swears in as Germany’s new chancellor on December 8, 2021, ending Angela Merkel’s historic 16-year tenure, in Berlin, Germany. Scholz, whose Social De ...
Am Mittwoch, 8. Dezember 2021, wurde Olaf Scholz zum Bundeskanzler von Deutschland gewählt. Bundestagspräsidentin Bärbel Bas (SPD) nahm ihm den Amtseid ab.Bild: AA / Abdulhamid Hosbas
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"Die drei Parteien der Regierung sind zurzeit die absoluten Favoriten der jungen Generation": Jugendforscher über Kanzler Scholz, die Ampel-Koalition und junge Menschen

09.12.2021, 13:1709.12.2021, 16:03
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Deutschland hat einen neuen Kanzler. Und eine neue Regierung. Olaf Scholz und die 16 Ministerinnen und Minister seines Kabinetts sind am Mittwoch im Bundestag vereidigt worden. "Fortschrittskoalition" nennen sie sich gerne selbst. Auch ihr Koalitionsvertrag trägt den Fortschritt im Namen.

Fortschritt und progressives Handeln der Regierenden, das ist es auch, was sich viele junge Menschen im Land wünschen. Menschen, die gerade in den vergangenen zwei Jahren viel zurückstecken mussten. Die Jugendforscher Klaus Hurrelmann von der Hertie School Berlin und Simon Schnetzer von Datajockey Kempten haben in ihrer neuen Jugendstudie eine Nachanalyse der Bundestagswahl betrieben. Und erörtert, welche Themen die junge Generation aktuell besonders umtreiben.

Multiracial friends having fun in city center - Happy guys and girls sharing time together at urban area - University students on autumn vacation after lockdwon reopening - Warm contrast filter
In ihrer neuen Trendstudie haben Hurrelmann und Schnetzer die Herausforderungen und Erwartungen an die und von der jungen Generation erforscht.Bild: iStockphoto / ViewApart

Darüber hat watson mit Studienautor Hurrelmann gesprochen. Außerdem über den neuen Kanzler, die Regierung und warum die Hauptthemen der SPD aktuell den Nerv der Jugend treffen.

watson: Herr Hurrelmann, Olaf Scholz ist zum Kanzler von Deutschland gewählt worden. Kann er mit seinen 63 Jahren auch der Kanzler der jungen Generation sein?

Klaus Hurrelmann: Grundsätzlich ist das möglich. Unsere Studien zeigen, dass die jungen Menschen ziemlich pragmatisch denken und auf Inhalte schauen. Und Olaf Scholz hat in seinem Wahlkampf Themen angesprochen, die von den Unter-30-Jährigen als sehr wichtig angesehen werden.

Was sind denn die wichtigen Themen für junge Menschen?

Umwelt- und Klimafragen stehen ganz weit oben, dicht gefolgt von beruflichen Perspektiven und – durchaus überraschend – der Sicherung der Altersrente.

Das klingt erstmal nicht so, als würde das alles gut zusammenpassen.

Das stimmt, aber es lässt sich ein gemeinsamer Nenner erkennen: Junge Menschen haben zwei ganz große Zukunftsprobleme auf ihrer Agenda. Und von einer neuen Regierung erwarten sie, diese Probleme zu lösen.

Was heißt das konkret?

Erstens, erwarten sie eine gute Umweltpolitik und die Bewältigung der Folgen des Klimawandels. Und zweitens erwarten sie eine Absicherung ihrer beruflichen Laufbahn bis hin zum Rentenalter. Das ist bemerkenswert, weil in beiden Fällen eine langfristige Perspektive eingenommen wird.

"Die Pandemie hat allen deutlich gemacht: Wir leben in Krisenzeiten."

Haben sich die Themenschwerpunkte der jungen Generation während der Pandemie verändert?

Ja. Die Pandemie hat allen deutlich gemacht: Wir leben in Krisenzeiten. Sie macht allen bewusst, dass wir unseren gesamten Lebensstil an die veränderten Lebensbedingungen anpassen müssen. Die Grünen profitieren von dieser Stimmung, sie haben das im Wahlkampf stark betont. Aber inzwischen werden auch die wirtschaftlichen Folgen der Pandemie immer bedrohlicher, und deshalb steigt die Aufmerksamkeit für Fragen der sozialen Sicherung.

Thema: Maedchen am Schreibtisch || Modellfreigabe vorhanden
Gerade Schülerinnen und Studierenden hat die Pandemie zugesetzt.Bild: Ute Grabowsky/photothek.net / Ute Grabowsky

Welche wirtschaftlichen Folgen sind das?

Schüler und Studienanfänger machen sich berechtigte Sorgen, dass sie durch Defizite in ihrer Ausbildung berufliche Nachteile erleiden. Zum Glück werden dadurch, dass die großen Babyboomer-Jahrgänge bald in Rente gehen, die Zukunftsperspektiven der jungen Generation nicht komplett zerstört. Aber das ökonomische, das wirtschaftliche und das berufliche Sicherheitsbedürfnis steigt in der jetzigen Krisenzeit enorm. Das kommt der SPD zugute.

Das Credo von Scholz in diesem Wahlkampf war Respekt. Ist das etwas, das auch für junge Menschen einen Wert hat?

Auf jeden Fall. Das ist etwas, das wir aus allen Studien ablesen können: Die jungen Leute haben eine große Skepsis, dass sie der Politik wirklich am Herzen liegen. Sie beklagen, ihre Bedürfnisse und Interessen würden nicht beachtet. So kann sich sehr schnell Misstrauen gegenüber Regierungen aufbauen. Die Corona-Pandemie war in den vergangenen Monaten ein Nährboden dafür.

"Junge Menschen haben ganz klar den Eindruck gewonnen, dass sie an letzter Stelle der Beachtung stehen, zum Beispiel beim Impfen."

Was meinen Sie damit?

Junge Menschen haben ganz klar den Eindruck gewonnen, dass sie an letzter Stelle der Beachtung stehen, zum Beispiel beim Impfen. Sie haben gesehen: Erst kommen die älteren Menschen, die Senioren in den Heimen, dann kommen die Berufstätigen, um die Wirtschaft am Laufen zu halten. Weil aber bis zum Beginn des Jahres 2021 keine Pläne gemacht wurden, die Schulen und Hochschulen offenzuhalten, das hat den Eindruck der jungen Generation verstärkt, dass sie für die Politik nicht wichtig sind.

Mittlerweile sind die Hochschulen schon wieder geschlossen, auch im Privatleben müssen die jungen Menschen erneut zurückstecken. Was ist die neue Regierung ihnen nun schuldig, nach 22 Monaten Pandemie?

Respekt! Die neue Regierung unter Olaf Scholz muss glaubwürdig deutlich machen, dass sie die Interessen der jungen Generation ernst nimmt. Besonders die beiden Koalitionspartner Die Grünen und FDP müssen hier vorangehen.

Warum?

Weil sie bei den Unter-30-Jährigen den größten Erfolg bei der Wahl hatten, weil sie hier mehr Stimmen eingefahren haben als bei der älteren Bevölkerung. Das heißt, wenn sie diesen Erfolg halten wollen, müssen sie jetzt liefern. Das wird hart. Es bedeutet für die Grünen, sie müssen eine sehr konsequente Umwelt- und Klimapolitik betreiben – die Umweltbewegung Fridays for Future sitzt ihnen direkt im Nacken. Bei der FDP stand die Sicherung der Bürgerrechte ganz weit oben, und da merkt man jetzt schon: In der vierten Coronawelle lässt sich das nicht halten wie versprochen, und die Impfpflicht spaltet die Partei und die Anhängerschaft. Es könnte also sein, dass die FDP die Erwartungen, die an sie gestellt werden, nicht erfüllen kann.

Robert Habeck (l), Bundesvorsitzender von Bündnis 90/Die Grünen nimmt neben Annalena Baerbock, Bundesvorsitzende von Bündnis 90/Die Grünen und Christian Lindner, Parteivorsitzender der FDP, an einem P ...
Robert Habeck (Grüne), Christian Lindner (FDP) und Annalena Baerbock (Grüne) zu Beginn der Koalitionsverhandlungen.Bild: dpa / Michael Kappeler

Und die SPD?

Dadurch, dass die junge Generation viele der Themen, die die SPD aufgreift, neuerdings als besonders gravierend ansieht, könnte es sein, dass die Sozialdemokraten ihre Stellung nicht nur halten, sondern ausbauen können. Dass die SPD am Wochenende wahrscheinlich einen 32-Jährigen zum Generalsekretär machen wird, zeigt auch, dass sie verstanden haben, wie wichtig die junge Generation ist.

"Was sie sich eben grundsätzlich wünschen, ist, dass die Politik stärker auf ihre Perspektive eingeht."

Sie haben bereits gesagt, dass gerade Grüne und FDP bei der Wahl besonders gut bei jungen Menschen abgeschnitten haben. Die SPD ist neben den Grünen die jüngste Fraktion im Bundestag. Die Ampel-Koalitionäre nennen sich selbst "Fortschritts -Koalition". Was erwarten Sie, was diese Koalition für junge Menschen tatsächlich auch umsetzen wird?

Im Koalitionsvertrag steht – symbolisch nicht unbedeutend – die Herabsetzung des Wahlalters auf 16 Jahre. Das ist ein Signal in die Richtung, die von den jungen Leuten als wertvoll erachtet wird. Denn was sie sich eben grundsätzlich wünschen, ist, dass die Politik stärker auf ihre Perspektive eingeht. Und dass sie die Chance haben, sich an der gesellschaftlichen Gestaltung aktiv beteiligen zu können. Dass ihnen Respekt entgegengebracht wird.

Aktuell, 08.12.2021; Berlin, Kevin Kuehnert m Portrait beim Interview in der Westlobby des Reichtagsgebaeude
Vermutlich bald der neue Generalsekretär der SPD: Kevin Kühnert.Bild: Flashpic / Jens Krick

49 Jusos sitzen im Bundestag, ihr ehemaliger Vorsitzender wird am Wochenende wahrscheinlich Generalsekretär. Auch die Grüne Jugend und die Julis sind gut vertreten. Es gibt also die Beteiligung junger Menschen auch heute schon.

Ja, und das ist ein gutes Zeichen nach außen. Auch der bisherige Generalsekretär der CDU ist jung. Das alles trifft den Nerv, dass junge Menschen nicht mehr überhört werden wollen. Und, dass sie wollen, dass die großen Zukunftsthemen endlich angegangen werden.

In Ihrer Studie sind sie zu dem Schluss gekommen, dass eine weitere große Sorge junger Menschen die Spaltung der Gesellschaft ist. Nun hat unsere neue Innenministerin Nancy Faeser (SPD) bei ihrer Vorstellung den Kampf gegen Rechtsextremismus zur Chefinnensache erklärt. Ist das ein Punkt, der junge Menschen abholt und ihnen Hoffnung gibt?

Wenn aus dem Innenministerium Signale kommen, dass man diesen Aspekt des gesellschaftlichen Zusammenlebens gewissermaßen regierungsamtlich für wichtig hält und das kein lästiges Nebenthema ist, wie das unter Horst Seehofer der Fall war, dann dürfte schon deutlich positiv bei jungen Leuten ankommen.

"Wichtig ist, dass sie transparent und offen kommunizieren und erklären, wie Politik in einer Demokratie funktioniert."

Faeser ist eine von acht Frauen, die einen Ministerinnenposten im Kabinett Scholz bekleiden. Der neue Kanzler hat also sein Versprechen eingelöst und die Regierung paritätisch besetzt. Ist das ein Schritt, den die Unter-30-Jährigen gut finden?

Absolut. Alle Fragen der Geschlechtsorientierung und der Geschlechtsidentität spielen in dieser Generation eine große Rolle. Das ist also ein tolles Signal und wird auch gut ankommen. Wir sehen in dieser Generation nämlich das große Bestreben nach Gleichberechtigung, das geht schon in der Sprache los.

Das heißt SPD, Grüne und FDP haben mit ihrem Kabinett, aber auch mit ihren Fraktionen einen ersten Fortschritt geschafft. Jetzt sind die Erwartungen hoch?

So ist es. Die drei Parteien der Regierung sind zurzeit die absoluten Favoriten der jungen Generation. Ihr Start war gut. Es besteht aber die große Gefahr – weil junge Menschen naturgegeben nun einmal sehr ungeduldig sind – dass sie sofort Ergebnisse sehen wollen.

Das heißt, wenn die neue Regierung nicht zeitnah liefert – wobei so Themen wie die Klimaneutralität Zeit brauchen – könnte sie bei der nächsten Wahl abgestraft werden?

Das könnte passieren. Wichtig ist, dass sie drei Parteien offen kommunizieren und transparent erklären, wie Politik in einer Demokratie funktioniert. Warum manche Vorhaben eben sehr viel Zeit brauchen.

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