Der Abzug der russischen Armee aus Cherson sorgt für Freude – aber auch für Skepsis seitens der Ukrainer. Doch vor allem wirft der Rückzug viele Fragen auf und lässt die Gerüchteküche kräftig brodeln.
Warum würden die Russen den Ukrainern die strategisch wichtige Stadt Cherson überlassen – widerstandslos? Die einen reden von einer Falle, andere von möglichen Friedensverhandlungen.
Was an diesen Gerüchten dran ist und wie es weitergeht, erklärt der Politikwissenschaftler Nikita Gerasimov von der Freien Universität Berlin.
"Trotz der wochenlangen Spekulationen über einen möglichen Abzug, kam er in dieser Form überraschend", sagt Gerasimov im Gespräch mit watson. Es sei für ihn schwer vorstellbar, dass der russische Generalstab die großen Gebiete über Nacht einfach fallenlässt und abzieht.
Auch der Leiter des ukrainischen Präsidialamts Andrij Ermak teilte sein Misstrauen auf Twitter mit. "Da glaubt jemand besonders schlau zu sein. Aber wir sind einen Schritt voraus." Laut Gerasimov wittern die Ukrainer hinter dem russischen Rückzug eine Falle. So hatten die Russen erst vor Kurzem ein sogenanntes "Beitrittsreferendum" in Cherson ausführen lassen und das Gebiet feierlich als "neues russisches Territorium" eingegliedert. Zudem schade der kampflose Rückzug dem Image der russischen Armee. "Eigentlich ein politisches No-Go in Moskau", sagt Gerasimov.
Und doch überlässt der Kreml Cherson kampflos dem Gegner.
Gerasimov zufolge haben russische Kriegsreporter:innen und Militärbeobachter:innen schon seit etwa einem Monat über den Abzug spekuliert. Er sagt dazu:
Der russische "Befehlshaber der Sondermilitäroperation" Sergei Wladimirowitsch Surowikin sagt, dass die Entscheidung über den Abzug "schmerzhaft", aber notwendig sei. Ihm zufolge könne Cherson nicht versorgt werden und damit "die Kampffähigkeit der Armeegruppierung aufrechterhalten werden". Am Mittwochabend verkündete der russische Generalstab den Komplettabzug vom Westufer des Dnjepr inklusive der Provinzhauptstadt Cherson.
Nach dem Scheitern des Vormarschs auf Kiew und dem Rückzug bei Charkiw gilt dies als weitere Niederlage Russlands.
Laut Gerasimov brechen in Russland heftige Debatten über den Sinn und Unsinn des Rückzugs aus. "Die einen reden von einer desaströsen Niederlage, manche von 'Verrat' und 'Schande'", sagt der Konfliktbeobachter.
Andere wiederum sehen den Rückzug als einzig richtigen Schritt an. Die Versorgungslinien auf dem Westufer seien zu überdehnt und äußerst verwundbar. Der Experte erklärt:
Besonders oft wurde dabei auf ein Szenario hingewiesen, dass eine gezielte Zerstörung des Staudammes bei Novo Kachovka russische Truppen komplett von der Versorgung abschneiden könnte. Kiew dementierte das vehement.
Allerdings hieß es von russischer Seite, dass der Kachowka-Staudamm in Cherson durch einen ukrainischen Angriff beschädigt sei. Demnach habe eine Rakete eine Schleuse des Damms getroffen. Die Ukraine hingegen beschuldigte Russland, den Staudamm des Wasserkraftwerks zerstören zu wollen. Russische Streitkräfte sollen den Staudamm vermint haben, um mit einer Flutwelle eine ukrainische Gegenoffensive in Cherson zu stoppen.
Laut Gerasimov werde im Netz, auch auf ukrainischen Portalen, heiß diskutiert, ob die Russen versuchen, die ukrainische Armee nach Cherson zu locken, um dann den Kachowka-Staudamm zu sprengen und die Feinde "absaufen" zu lassen. Konkrete Anzeichen dafür gibt es laut des Experten aber nicht.
Dafür stehe eine weitere mögliche Begründung für den Abzug im Raum.
Viel wahrscheinlicher erscheint Gerasimov die pragmatische Variante: Es ist ein "echter" Rückzug aufgrund "echter" Versorgungsprobleme und kein "genialer" militär-taktischer Schachzug, wie mancherorts vermutet. "Zugleich gewinnen Gerüchte an Fahrt, dass hinter dem Abzug auch informelle russisch-amerikanisch-ukrainische Verhandlungen über einen Waffenstillstand stecken könnten", sagt der Experte.
Ihm zufolge soll der Abzug in Verbindung mit einem gewissen Plan für einen Waffenstillstand stehen, der den Dnjepr-Fluss als eine natürliche permanente Trennlinie vorsehen würde. Gerasimov sagt dazu:
Mit dem überraschenden und anfangs so ungestörten russischen Rückzug aus Cherson gewannen diese Gerüchte an Fahrt. Zusätzlich soll die USA laut Gerasimov die ukrainische Regierung dazu gedrängt haben, zumindest eine Verhandlungsbereitschaft zu signalisieren. Auf russischer Seite erklärte die Sprecherin des russischen Außenministeriums, Marija Wladimirowna Sacharowa, am Tag der Bekanntgabe des Abzugs: "Russland ist weiterhin für Verhandlungen mit der Ukraine bereit – natürlich unter Einbezug der Gegebenheiten, die sich derzeit abzeichnen."
In anderen Worten: verschiedene Seiten signalisierten zuletzt, dass Verhandlungen im Raum stehen.
Gerasimov beobachtet dazu die Aussagen verschiedener russischer Kriegsreporter, wie etwa Wladlen Tatarsky. Auch studiert er russische sowie ukrainische Militärkanäle auf dem Messenger-Dienst Telegram. "Dort äußerte man recht einheitlich den Verdacht, dass die Verhandlungen hinter den Kulissen sogar bereits laufen", sagt Gerasimov.
Der russische Abzug sehe demnach wie Teil eines inoffiziellen "Deals" aus. Doch was würde dieser sogenannte Plan konkret beinhalten? Der Konfliktbeobachter erklärt:
Inwieweit dieses Szenario realistisch sei, lasse sich derzeit schwer beurteilen. "Ausgeschlossen ist das sicherlich nicht", meint Gerasimov. Rein praktisch betrachtet sei solch eine Waffenstillstandslinie entlang des Dnjepr-Flusses die naheliegendste Option. Politisch gesehen haben sich allerdings beide Seiten dafür eigentlich den Weg verbaut, sagt Gerasimov.
"Nun hat die ukrainische Armee auch begonnen, die abziehenden russischen Verbände zu bombardieren", sagt Gerasimov. Ukrainische Truppen rücken bislang extrem vorsichtig vor und haben eine Reihe von Ortschaften übernommen, die sich nah an der ehemaligen Kontaktlinie befinden.
"Kiew will keine Gespräche, also geht die militärische Spezialoperation weiter", sagt Kremlsprecher Dmitri Peskow nach Angaben russischer Nachrichtenagenturen. "Der Feind macht uns keine Geschenke, macht keine Gesten des guten Willens", sagt der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj in seiner Videoansprache.
Die Ukraine werde weiter kämpfen.