Januar 2022: Ukrainische Soldaten in Lwiw bereiten sich auf den Ernstfall vor. Zu dieser Zeit war Russland noch nicht in die Ukraine eingefallen.Bild: Mykola Tys / imago images
Analyse
Eis, Schnee, Kälte – und Krieg. Der Winter wird gerade im Norden und Nordosten der Ukraine hart sein. Und er beeinflusst die Situation massiv. Auch auf der wirtschaftlichen Seite. Das könnte letztlich auch auf dem Schlachtfeld zu großen Verlusten führen.
25.10.2022, 07:5723.11.2022, 16:50
Wenn der Winter kommt, kuscheln sich Menschen unter normalen Umständen gern Zuhause ein. Die Heizung wärmt die Innenräume, man freut sich über Schnee. Schlittenfahren, Schneemänner, bunte Weihnachtsbeleuchtung. Doch in diesem Jahr wird das anders sein. In der Ukraine herrscht Krieg. Und der wird auch nicht vor der kalten Jahreszeit Halt machen.
Wie wird der Winter den Krieg beeinflussen? Seit jeher hat die Witterung Einfluss auf die Wirtschaft, die humanitäre Situation in Krisengebieten und auch die militärische Schlagfertigkeit – aber wird das auch die Dynamik der Gefechte im Donbass oder der Südukraine betreffen?
Theoraris Grigoriadis ist Wirtschaftswissenschaftler und hat sich auf Osteuropa spezialisiert.Bild: FU Berlin / Bloom Fotostudio
Im ersten Part einer dreiteiligen Serie dreht sich alles um die wirtschaftliche Situation. Dafür hat watson mit dem Wirtschaftswissenschaftler und Studiendekan des Osteuropa-Instituts an der Freien Universität Berlin, Theoraris Grigoriadis, gesprochen.
Energie – Leben stehen auf dem Spiel
Bürger werden finanzielle Probleme im Winter mehr zu spüren bekommen – das kann Leben kosten, sagt er Experte. Gemeint ist damit etwa, dass sich viele Menschen in der Ukraine keine Heizung oder generell die Energieversorgung leisten können – wenn sie denn überhaupt noch an eine Versorgungsinfrastruktur angeschlossen sind. Auch hier müssten dann viele Menschen entscheiden: heizen oder essen?
"Die Ukraine muss finanziell weiter unterstützt werden – sowohl auf bilateraler als auch auf europäischer Ebene."
"Und das ist eine große Frage für Europa: Was kann Europa tun, um die Ukraine in diesem Sinne zu unterstützen – damit weitere Lebensverluste verhindert werden", sagt Grigoriadis. Konkret meint er: Menschen drohen zu erfrieren oder zu verhungern.
"Die Ukraine muss finanziell weiter unterstützt werden – sowohl auf bilateraler als auch auf europäischer Ebene." Kosten für humanitäre Hilfe müssten laut Grigoriadis dringend übernommen werden. "Gemeint sind damit die Basiskosten für das Überleben, für die menschliche Würde – das kann der ukrainische Staat ganz sicher nicht allein leisten."
In Kriegszeiten gehört eine Wirtschaftskrise zur Tagesordnung. Kurzfristig, meint der Wirtschaftswissenschaftler, müsse sich Europa auf die humanitäre Versorgung fokussieren – vor allem in den nord- und nordöstlichen Regionen der Ukraine. Dort, wo der Winter sehr viel härter, kälter und tödlicher sein wird, als in anderen Regionen.
Je weiter es Richtung Belarus oder Russland geht, desto kälter wird es.
Doch auch langfristig, sagt Grigoriadis, müsse Europa die Wirtschaft der Ukraine wieder besser vernetzen. Vernetzen: ein gutes Stichwort. "Das ukrainische Energiesystem sollte schleunigst stärker an das polnische oder auch das rumänische angeschlossen werden", sagt der Experte. "Damit man Unsicherheiten in der Energieversorgung verhindern kann."
Die direkte und indirekte Abhängigkeit der Ukraine von dem russischen Energiesystem sei noch immer von hoher Bedeutung. "Die Ukraine gilt noch als Transitland für russisches Erdgas nach Europa und sie importiert Erdölprodukte aus Russland", erklärt Grigoriadis.
Landwirtschaft – Sorge vor Versorgungslücken
Die meisten Soldaten, die für die Ukraine kämpfen, stammen aus ländlichen Gebieten. Viele arbeiteten zuvor in der Agrarwirtschaft. Ob Anbau oder Vertrieb: Die Agrarwirtschaft der Ukraine ist seit Kriegsbeginn massiv unter Druck. Das bedeutet einerseits, dass wenig exportiert werden konnte – Einnahmen blieben also aus. Andererseits konnten die Speicher nicht so gefüllt werden, wie es früher der Fall war. Heißt: Der Winter könnte zu einer Hungerkrise im Land führen.
"Die wichtigen Monate in der Landwirtschaft sind von März bis November", erklärt Grigoriadis. "Wenn hier nichts erwirtschaftet wurde, wird es kritisch." Der Westen müsse dabei helfen, die Agrarhaushalte aufzufüllen. "Und hier ist es vielleicht sogar wichtiger, in den ländlichen Raum zu blicken und eben nicht nur auf die Städte."
Anfang September: Sonnenblumenernte in der Ostukraine. Bild: AP / Leo Correa
Auf der anderen Seite konnte die Ukraine allerdings durch ein von der Türkei ausgehandeltes Getreideabkommen wieder auf Hochtouren exportieren. Im August hatte die Türkei zwischen Russland, der Ukraine und den Vereinten Nationen vermittelt. Seither konnten wieder tonnenweise Getreideexporte – vor allem Mais – über das Schwarze Meer stattfinden.
Seit Montag sind ukrainischen Angaben zufolge tatsächlich sieben Schiffe auf dem Weg nach Asien und Europa – mit einer Ladung von insgesamt 124.300 Tonnen Getreide.
Doch wird das ausreichen?
Noch ist das unklar, denn: Ein weiterer Faktor könnte die Versorgung mit Agrargütern extrem behindern. Russland beansprucht nämlich die Erzeugnisse aus den vom Kreml annektierten Gebieten für sich.
Wie der russische Landwirtschaftsminister Dimitri Patruschew der staatlichen Nachrichtenagentur TASS mitteile, erwartet Russland eine Steigerung der Ernte um mehr als fünf Millionen Tonnen. Patruschew sagte: "Unter Berücksichtigung des dortigen Ackerlandes denke ich, dass Russland mindestens fünf Millionen Tonnen Getreide zusätzlich bunkern würde. Das dürfte auch bei anderen Kulturen der Fall sein." Die Erzeugnisse seien bereits aus den "zusammengeführten Gebieten" geliefert und entsprechende Lieferketten aufgebaut worden.
Im Juni bewachten russische Soldaten ein Getreidefeld in der Ostukraine.Bild: AP / Uncredited
Am Freitag veröffentlichte zudem der NDR seine Recherche zu einem möglichen Getreideklau. Russland exportiert demnach große Mengen gestohlenen Getreides aus der Ukraine und verkauft es dann auf dem Weltmarkt. Völkerrechtler meinen, dass dies ein weiteres Kriegsverbrechen sein könnte. Mindestens 1,8 Millionen Tonnen Getreide beabsichtige Russland laut internen russischen Dokumenten in diesem Jahr von dort auszuführen.
Im Winter, wo die Versorgung in der Ukraine sowieso schon gefährdet ist, könnte dies zu einem Desaster führen.
Logistik – wenn Lieferketten ausfallen
Ein Thema, das in Deutschland vermutlich nicht überall präsent ist: die Logistik. Kalte Winter mit Minusgraden im zweistelligen Bereich führen dazu, dass Schienennetze ausfallen könnten und die Straßen vereist sind. Lieferketten können so schon außerhalb von Kriegszeiten gestört werden. Allerdings gibt es in Friedenszeiten immer andere Wege, die man nutzen kann.
Ausweichrouten auf Landwegen, Luftverkehr, Wasserwege. Doch gerade in den umkämpften Gebieten im Donbass wird es schwierig, andere Routen zu finden. Oftmals sind die Wege blockiert – entweder, weil die Gebiete bereits okkupiert sind, die Frontlinie dort entlang verläuft oder die Straßen schlicht zerstört wurden. Auch das Schienennetz ist davon betroffen.
Januar 2022: eingeschneite Panzer in der Region Charkiw.Bild: www.imago-images.de / imago images
Fallen zusätzlich noch weitere Strecken aus, weil die kalte Jahreszeit hereinbricht, könnte dies zu humanitären, aber auch militärischen Engpässen kommen. Können die Soldaten noch versorgt werden? Eine große Frage, die auch Experte Grigoriadis in den Raum stellt.
"Wenn die Lieferketten abgeschnitten sind, kann das dazu führen, dass auch die Soldaten – sowohl von russischer als auch von ukrainischer Seite – nicht mehr versorgt werden", sagt er. Gemeint sind hier nicht bloß Nahrungsmittel. Auch der Nachschub an Waffen könnte behindert werden – oder gar zum Stillstand kommen.
"Und dann stellt sich die große Frage, welche Kriegspartei die bessere Logistik hat – und wer weniger stark vom Winter getroffen wird", meint Grigoriadis. Eine schlechte Versorgung könnte auch auf dem Schlachtfeld entscheidend sein. Werden sich die russischen Soldaten zurückziehen? Grigoriadis sagt:
"Putin wird ganz sicher eine solche Entscheidung nicht wegen des körperlichen Zustands der Soldaten treffen, aber wenn die Soldaten unterversorgt sind, kann das zu einem Problem werden."