Klimaaktivisten belagern im Vorfeld der Ampel-Gespräche die SPD-Parteizentrale in Berlin Kreuzberg. Bild: dpa / Annette Riedl
Analyse
28.10.2021, 19:3828.10.2021, 19:51
Der selbsternannte politische Neuanfang Deutschlands kommt in Schriftgröße elf, Schriftart Calibri, Zeilenabstand 1,5 daher. Das sind die strikten Vorgaben für die Berichte aus den Arbeitsgruppen von SPD, Grünen und FDP. Die drei Parteien haben am Donnerstag offiziell ihre Verhandlungen für eine Ampel-Koalition begonnen. Und dabei soll nichts dem Zufall überlassen werden.
Die Liebe der Deutschen zu Bürokratie und Formalien hat schon der russische Revolutionsführer Wladimir Lenin vor einhundert Jahren erkannt. "Revolution in Deutschland? Das wird nie etwas, wenn diese Deutschen einen Bahnhof stürmen wollen, kaufen die sich erst eine Bahnsteigkarte!", soll er in einem Interview gesagt haben.
Zwar steht in Deutschland keine Revolution bevor. Aber doch ein grundlegender politischer Wandel: Eine Ampel-Regierung auf Bundesebene gab es nie. Und da muss natürlich alles bis ins Detail geregelt werden: in einem Koalitionsvertrag.
Der endgültige Koalitionsvertrag soll Ende November stehen
Das Feintuning für die Inhalte, die in den kommenden vier Jahren umgesetzt werden sollen, übernehmen insgesamt 300 Abgeordnete von SPD, Grünen und FDP. Sie verhandeln in 22 Arbeitsgruppen, die thematisch gegliedert sind: Freiheit und Sicherheit, Familie und Kinder, Moderner Staat und Digitalisierung, Klimaschutz, Arbeitswelt, Äußeres und Verteidigung, Staatsfinanzen.
Die Deadline ist der 10. November um 18 Uhr, auch das ist klar geregelt. Bis dahin müssen die Arbeitsgruppen Positionspapiere zu ihren Themengebieten vorlegen. Diese Papiere sollen dann die Grundlage für die Hauptverhandlungsgruppe dienen. Diese Gruppe soll dann den Koalitionsvertrag aushandeln.
Der endgültige Koalitionsvertrag soll dann Ende November stehen. Die beteiligten Parteien sollen das Abkommen dann noch bestätigen. Wenn SPD, Grüne und FDP all diese Schritte gemeinsam schaffen, dann sollen die Abgeordneten der drei Parteien im neuen Bundestag in der Woche ab 6. Dezember den SPD-Spitzenkandidaten Olaf Scholz zum neuen Bundeskanzler wählen.
Klappt das, dann beginnt in Deutschland noch vor Weihnachten eine neue politische Ära.
Arbeitsgruppen – mit humanen Arbeitszeiten
Mit dem Zeitplan hat man sich ehrgeizige Ziele gesteckt. Zur Erinnerung: Nach der Bundestagswahl im September 2017 hat es bis März 2018 gedauert, bis eine Regierung zustande kam. Jetzt wollen SPD, Grüne und FDP am 6. Dezember Olaf Scholz zum Kanzler wählen. Die Arbeitsgruppen sollen bis 10. November mit ihren Ergebnissen rausrücken.
Aber nicht mit durchgearbeiteten Nächten und Augenringen bis zum Boden.
Die Koalitionsparteien haben 22 Arbeitsgruppen aufgestellt, die ihre jeweiligen Kernthemen parteiübergreifend bearbeiten. Sie sollen nur unter der Woche zwischen elf und 17 Uhr schuften, Nachtsitzungen sind tabu.
Darüber hatte SPD-Generalsekretär Lars Klingbeil auch kürzlich in einem Instagram-Live mit Kevin Kühnert (SPD) philosophiert. "Ich weiß auch nicht, woher dieses Bild kommt, dass man nur einen guten Koalitionsvertrag erstellen kann, wenn man die ganze Nacht durchgemacht hat."
Kritik kommt von der Klimabewegung
Wenn man sich denn einig wird. Denn Reibungspunkte gibt es – trotz aller zur Schau gestellten Einigkeit – durchaus. Da wäre zum Beispiel die Steuerpolitik. Die FDP ist traditionell Verfechterin von Steuersenkungen, während Grüne und SPD höhere Abgaben für Spitzenverdiener wollen. Um das Thema diskret aus dem Weg zu räumen, soll auf diesem Gebiet vorerst einfach gar nichts passieren.
Auch in Sachen Klima lastet viel Druck auf den künftigen Koalitionären. Die Grünen haben im Wahlkampf die Unterstützung eines großen Teils der Klimabewegung erhalten. Und die will nun auch Ergebnisse sehen.
In der Vergangenheit haben die Grünen die Einhaltung der Pariser Klimaziele in Aussicht gestellt.
Verbindliche Klimaziele definieren
"Mit einem wirksamen Programm können wir zeigen, dass eine positive wirtschaftliche Entwicklung und Klimaschutz zusammen gehen", teilte die Partei Ende August mit. "Das ist vor allem für den internationalen Klimaschutz und die Umsetzung des Pariser Klimaschutzabkommens eine wichtige Botschaft, die von Deutschland als einem der wichtigsten Industrieländer der Welt ausgehen muss."
Man brauche ein Klimaschutzgesetz, "das Klimaziele in definierten Schritten verbindlich vorgibt und sich an dem verbleibenden Budget orientiert, das wir für den 1,5 Grad Pfad gerade noch emittieren dürfen."
Nach Veröffentlichung des Sondierungspapiers von FDP, Grünen und SPD kam unter anderem Kritik von Fridays For Future-Aktivistin Luisa Neubauer. „Man kann sich die Sondierungen schönreden, aber nicht die Emissionen, die jetzt reduziert werden müssen“, sagte Neubauer dem RedaktionsNetzwerk Deutschland (RND). Es gehe nicht darum, mehr zu machen als die Vorgängerregierung. Es gehe stattdessen darum, genug zu tun, um internationale Klimaversprechen einzuhalten.
Das sei mit diesem Papier bisher nicht möglich. Weder zum Gasausstieg noch zum verbindlichen Kohleausstieg oder zum Ende der Flächenversiegelung stehe etwas drin. Die drei Parteien müssten noch beweisen, „dass es ihnen Ernst ist mit einer Politik der gerechten Krisenbewältigung“.
"Weltweit fühlen sich 58% der Jugendlichen von Regierungen wegen der Klimakrise verraten,
in DE sind es 56%"
Die Klimaaktivistin Pauline Brügger postete am Mittwoch eine wenig subtile Botschaft auf Twitter:
"Weltweit fühlen sich übrigens 58% der Jugendlichen von Regierungen wegen der Klimakrise verraten, in DE sind es 56% - das ist ganz unabhängig von irgendwelchen Sprüchen, sondern repräsentativ erhoben. Vielleicht könnte man DA ja mal was gegen machen? Nur so‘n Idee though".
Am 22. Oktober hatte Fridays For Future die Parteizentralen von Grünen und SPD blockiert, um die Parteien vor Kompromissen zu warnen, die einer radikalen Klimapolitik zuwiderlaufen. Das erzeugte wiederum Widerspruch aus den Reihen der FDP. Der frisch in den Bundestag gewählte Abgeordnete Maximilian Funke-Kaiser erwiderte, es sei gerade der Kapitalismus, der den Klimaschutz fördere.
Es ist ein Spannungsverhältnis zwischen den drei Parteien, ihrer Basis und kritischen Unterstützerinnen in der Zivilgesellschaft, welches die Koalitionsverhandlungen zu einem komplizierten Verhandlungsmarathon machen dürften.
Nicht nur der Klimaschutz ist eine drängende Zukunftsaufgabe. Auch bei Themen wie Integration, Sicherheitspolitik und Haushalt gehen die Philosophien zuweilen deutlich auseinander. Die kommenden Wochen werden zeigen, ob die Ampel ein langfristig funktionierendes Konzept für Deutschland ist.
Umkämpftes Finanzministerium
– neue Details im Streit zwischen Habeck und Lindner
Die 22 Arbeitsgruppen bei den Verhandlungen können schon mal erste Hinweise darauf geben, welche Parteien und welche Köpfe welche Ministerien übernehmen wollen. Da wäre zum Beispiel der Ex-Grünen-Parteichef Cem Özdemir, der die Arbeitsgruppe Wirtschaft leitet. Könnte er der neue Wirtschaftsminister werden?
Sicher ist hier noch gar nichts. Die Parteien lassen immer wieder verlauten, dass es erst zum Schluss der Verhandlungen um die Postenverteilung gehen soll.
So ganz konnte sich FDP-Chef Christian Lindner aber nun doch nicht zurückhalten. Es ist ja kein Geheimnis, dass sowohl Lindner als auch der Grünen-Co-Chef Robert Habeck scharf auf das Finanzministerium sind. Lindner hatte allerdings vor Journalistinnen und Journalisten gesagt, es werde in einer neuen Regierung neben Kanzleramt und Finanzministerium auch ein neues Klimaministerium als ein Kraftzentrum geben.
Damit hat der FDP-Chef natürlich Raum für Spekulation gegeben. Wenn Scholz Kanzler werden und es ein starkes Klimaministerium geben soll – das mit Sicherheit grün-geführt wird – dann bleibt für die FDP schließlich das Finanzministerium. Lindner ruderte allerdings schnell wieder zurück. "Das war ein Versehen", sagte er.
Spannend ist dieser Streit um den Posten auch deswegen, weil Lindner und Habeck offenbar unterschiedliche Vorstellungen davon haben, wie das Finanzministerium zu führen sei. Vor allem geht es dabei um die Frage, wie die im Sondierungspapier aufgelisteten Investitionen finanziert werden sollten.
Nun gibt es aber auch neue Details zum Streit um diesen Posten. "Focus Online" berichtete nun über zwei Verhandlungsführer, die preisgaben, dass die Entscheidung offenbar schon gefallen sei. Einer dieser namentlich nicht genannten Unterhändler gab an, "eine Kiste Wein" darauf zu verwetten, dass die Liberalen am Ende Olaf Scholz im Finanzministerium beerben würden.
Parität im Kabinett?
Es bleibt spannend
Olaf Scholz möchte das künftige Kabinett paritätisch besetzen. Das heißt: Genauso viele Ministerinnen wie Minister. Hier könnte es möglicherweise Ärger zwischen Grünen und FDP geben. Die Liberalen haben teilweise gegen Paritätsgesetze in einzelnen deutschen Bundesländern geklagt. Jetzt dringen die Grünen darauf, dass eben auch die FDP ihre Regierungsposten paritätisch besetzt.