Yves R. hatte am Sonntag vier Polizisten in Oppenau im Schwarzwald bedroht und ihnen ihre Waffen abgenommen. Der 31-Jährige ohne festen Wohnsitz war nach der Tat in den Wald geflüchtet. Mit einem Großaufgebot durchkämmte die Polizei die Gegend um Oppenau im Ortenaukreis. Vor seiner Flucht hinterließ Yves R. einen Text. In einem Gastbeitrag für watson erklärt die Kriminalpsychologin Lydia Benecke, welche möglichen Bezüge der von Yves R. hinterlassene Text aufweisen könnte.
Yves R. hält die Polizei weiter auf Trab. Inzwischen wurde berichtet, dass R. einen zwei Din-A4-Seiten langen Text in einer Kneipe hinterlegte, in dem er möglicherweise Bezüge zum Roman "Ruf der Wildnis" von Jack London und der "Ghost Dance"-Bewegung von 1870 und 1890 herstellte. Es wurde sogar über mögliche inhaltliche Bezüge zum als "Unabomber" bekanntgewordenen Theodore Kaczynski spekuliert.
Im Roman "Ruf der Wildnis" wird die Handlung aus der Perspektive des Hundes Buck ab dem Jahr 1897 erzählt. Bucks Leben ist sehr bewegt, ruhelos und voller schmerzlicher persönlicher Erfahrungen und Bindungsverluste. Schließlich findet er in der Wildnis bei einem Wolfsrudel den emotionalen Halt, nach dem er sein Leben lang suchte. Hier drängen sich offensichtliche Parallelen zu den wenigen bekannten Informationen über das bisherige Leben von Yves R. auf, sodass es naheliegend erscheinen kann, dass er sich mit der Figur von Buck und dessen Suche nach emotionalem Halt in der Wildnis identifizieren könnte.
Eine sehr viel unspektakulärere Erklärung für die Briefüberschrift könnte allerdings sein, dass ihm das Internetforum ruf-der-wildnis.de bekannt war und er sich schlicht von dessen Namen inspirieren ließ. Immerhin ist ein Teil des diskutierten Textes in eben diesem Forum zu finden.
Am Ende des in der Kneipe hinterlegten Textes soll "Ghost Dance 1870 und 1890" stehen. Als "Ghost Dance" wurde eine neureligiöse Bewegung der amerikanischen Ureinwohner bezeichnet. Sie ging von einem vermeintlichen Propheten namens Wodziwob aus, der ab 1869 die Durchführung der sogenannten "Geistertänze" unter den Ureinwohnern verbreiten konnte. Hierbei tanzten Gruppen von Menschen tagelang bis zur Erschöpfung auf eine spezifische Weise im Kreis und wiederholten dabei sich wiederholende Beschwörungen.
Wodziwod führte dies auf eine von ihm als solches wahrgenommene Vision zurück. Hierbei habe er erfahren, dass die Durchführung des "Geistertanzes" die Geister der Ahnen dazu bewegen werde, ihren Nachkommen dabei zu helfen, die europäischen Eroberer zu vertreiben und eine zufriedene, friedliche Lebensweise für die Ureinwohner zurückzugewinnen. Die Reservatbehörden sahen das vermehrte Aufkommen der Geistertänze als potenzielle Gefahr für aktiveren Widerstand an und versuchten, dies durch Bestrafungen zu verhindern. Hierdurch wurde eine Abfolge gewalttätiger Ereignisse in Gang gesetzt, die mit dem Massaker von Wounded Knee am 29. Dezember 1890 ihren Höhepunkt hatten. Über zweihundertfünfzig Männer, Frauen und Kinder aufseiten der Ureinwohner wurden getötet und über fünfzig verletzt.
An dieser Stelle drängt sich der Gedanke auf, dass Yves R. sich mit den Motiven und Bedürfnissen der Ureinwohner in dieser Situation identifizieren könnte. Allerdings bleibt unklar, welche Aspekte der historischen Vorgänge er für sich wie interpretiert und welche Schlüsse er daraus eventuell für sich zieht. Der mögliche Spielraum ist von einer symbolischen Identifikation auf eher abstrakter Ebene bis hin zu einer möglicherweise wahnhaften Überzeugung, Glaubenselemente des "Geistertanzes" in die eigene Realitätswahrnehmung und Handlungsplanung zu übernehmen, außerordentlich groß.
Interessant ist hierbei, dass die amerikanischen Ureinwohner im Roman "Ruf der Wildnis" keineswegs die Rolle von Identifikationsfiguren spielen, sondern in dieser Geschichte eine wichtige Bezugsperson des Hundes Buck töten, worauf sie wiederum von diesem aus Rache getötet werden. Die Rache des Hundes an den Ureinwohnern, die ihn fortan "Geisterhund" nennen, wird am Ende des Romans jährlich wiederholt. Ob überhaupt irgendetwas von alldem in der aktuellen Situation für Yves R. tatsächlich von Relevanz ist, lässt sich mit dem aktuellen Informationsstand allerdings nicht sagen.
Mehrfach wurde auf Parallelen des Falls Yves R. zu dem als "Unabomber" bekannten Ted Kaczynski hingewiesen. Der ehemalige Mathematik-Professor baute sich mit 29 Jahren eine strom- und wasserlose Waldhütte im US-Staat Montana auf, die er zu seinem Lebensmittelpunkt machte. Mit 36 begann er, Briefbomben zu verschicken, mit denen er eine Revolution auslösen wollte. Kaczynski sah den technischen Fortschritt als negativ für die Menschheit an und wollte diesen durch die von ihm erträumte Revolution beenden. Auch sollte die Revolution die Menschen dazu zwingen, eine aus Kaczynskis Sicht möglichst natürliche und technologiefreie Lebensweise aufzunehmen.
Daher erreichten die Briefbomben stets Ziele, die er persönlich mit technologischem Fortschritt in Verbindung brachte. Zwischen 1978 und1995 starben durch seine Briefbomben drei Menschen, dreiundzwanzig wurden verletzt. 1995 wurde er aufgrund eines Manifestes festgenommen, das er der "New York Times" und der "Washington Post" geschickt hatte.
Im Rahmen seines Gerichtsprozesses wurde von der ihn begutachtenden psychiatrischen Sachverständigen Dr. Sally Johnson das Vorliegen einer "paranoiden Schizophrenie" sowie einer "paranoiden Persönlichkeitsstörung mit vermeidenden und antisozialen Zügen" festgestellt. Insgesamt ergab sich zum Zeitpunkt der Begutachtung bei Kaczynski demnach das Bild eines Mannes, dessen Realitätswahrnehmung und -einschätzung deutlich gestört war, der ein übermäßiges Misstrauen gegenüber anderen Menschen, aber auch soziale Ängste und rücksichtslos-kriminelle Verhaltensweisen an den Tag legte.
Sehr viele Aspekte im Fall Yves R. weichen jedoch von wesentlichen Merkmalen des Falles Kaczynski ab: Kaczynski absolvierte eine insgesamt durchaus erfolgreiche Akademikerkarriere, bevor er entschied, sich in eine selbstgebaute Hütte zurückzuziehen und die von ihm angestrebte Revolution voranzutreiben. Es handelte sich nicht um eine kurzfristig besetzte Hütte, sondern um einen planvoll aufgebauten Lebensraum, den Kaczynski über zwei Jahrzehnte lang legal bewohnte.
Besonders relevant ist der entscheidende Unterschied: Kaczynski handelte 27 Jahrelang als systematischer Inlandsterrorist, der bewusst und zielgerichtet immer wieder Menschen schwer verletzte und tötete. Er genoss die hierdurch ausgeübte Macht und Gewalt und nutzte Drohungen gezielt. Menschen in Angst und Schrecken zu versetzen war ein zentrales Motiv Kaczynskis, das er über Jahre effektiv auslebte. Hier ist ein nach bisherigem Kenntnisstand zentraler Unterschied zum bisherigen Leben von Yves R. zu finden. Insgesamt finden sich deutlich mehr Unterschiede als Gemeinsamkeiten in den beiden Lebensgeschichten, bisherigen Verhaltensweisen und schriftlichen Hinterlassenschaften. Selbst wenn Yves R. den "Unabomber" oder auch nur Aspekte seiner Ideen auf irgendeiner Ebene bewundert haben sollte, so lässt dies dennoch angesichts der aktuellen Informationslage keine tiefergehenden Schlüsse zu.
Deutlich mehr Parallelen als zum Fall des "Unabombers" finden sich auf den ersten Blick zum Fall eines unter dem Alias "Albert Johnson" 1932 verstorbenen Mannes. Johnson tauchte im Juli 1931 in der kanadischen Gemeinde Fort McPherson auf. Der eher wortkarge Mann soll mit skandinavischem Akzent gesprochen haben. Er baute sich eine kleine Blockhütte am Fluss und pflegte keine sozialen Kontakte. Fünf Monate nach seiner Ankunft beschwerte sich ein Fallensteller bei der Polizei darüber, dass Johnson seine Fallen bewusst unbrauchbar gemacht habe. Was als harmlose Befragungssituation wegen eines eher nichtigen Anlasses begann, eskalierte zur Überraschung der Polizei sehr schnell: Beim ersten Besuch der Polizei am 26. Dezember 1931 verweigerte Johnson angesichts eines fehlenden Durchsuchungsbefehls sowohl den Zutritt zu seiner Hütte als auch jegliche Aussage.
Fünf Tage später erschienen vier Polizeibeamte mit Durchsuchungsbefehl und wurden von Johnsons Reaktion deutlich überrascht: Er verweigerte erneut Aussage und Zutritt, sodass die Beamten versuchten, seine Tür gewaltsam zu öffnen. In dieser Situation schoss Johnsons durch die Tür, wobei er einen Beamten verletzte. Die Beamten brachten sich und den verletzten Kollegen in Sicherheit, kurz darauf erschienen an der Hütte neun Beamte mit einer größeren Anzahl Hunde und Dynamit.
Mithilfe des Dynamits wurde die Hütte zum Einsturz gebracht, doch Johnson überlebte dies weitgehend unverletzt dank der Doppelbodenkonstruktion der Hütte, die eigentlich als Kälteschutz eingebaut worden war. Da er sich nicht freiwillig stellen wollte, versuchten die Polizisten, die Trümmer der Hütte zu stürmen, worauf Johnson zu schießen begann, bis sich die Beamten zurückzogen. Hierbei wurde niemand verletzt. Die Situation dauerte fünfzehn Stunden an, bis sich die Polizisten aufgrund der eisigen Winterkälte zurückziehen mussten.
Johnson schaffte es anschließend trotz widrigster Wetterbedingungen, bis zum 30. Januar 1932 durch die Wildnis zu fliehen. An diesem Tag wurde er umstellt und erschoss einen Polizisten, wodurch ihm erneut die Flucht gelang. Diese dauerte bis zum 17. Februar1932 an. Es gelang ihm dabei, in dreiunddreißig Tagen trotz der bemerkenswert harten Wetterbedingungen 137 km zurückzulegen.
Letztlich starb er in einem Feuergefecht mit der Polizei, bei dem ein weiterer Polizist schwer verletzt wurde. Die Motive für die durch sein Verhalten ausgelöste Eskalation konnten ebenso wie seine wahre Identität nie geklärt werden. Er erlangte unter der Bezeichnung "Mad Trapper of Rat River" traurige Bekanntheit.
Die Parallelen zu dem Fall von 1932 ergeben sich aus der bewusst gewählten, zurückgezogenen Lebensweise, dem starken Naturbezug und der Fähigkeit, sich in dieser zu verstecken. Ähnlich scheint auch die irrational wirkende Eskalation gegenüber der Polizei, die in beiden Fällen in keinem vernünftigen Verhältnis zum Anlass zu stehen scheint.
Johnson zeigte eine Bereitschaft, auf Menschen zu schießen, was er allerdings ausschließlich dann tat, wenn er sich unmittelbar angegriffen fühlte. Leider sind sein psychischer Zustand während dieser Zeit sowie seine zugrundeliegenden Motive ebenso wie seine Identität bis heute unbekannt. Auch in diesem beinahe ein Jahrhundert zurückliegenden Fall wirft der Informationsstand deutlich mehr Fragen auf, als dass er Antworten bieten würde. Es bleibt zu hoffen, dass die Geschichte von Yves R. im Gegensatz zum historischen Vergleichsfall unblutig ausgeht und die psychologischen Hintergründe seiner Handlungen im Rahmen eines Gerichtsverfahrens geklärt werden können.