100.000 Demonstrant:innen werden zur Menschenkette um das Reichstagsgebäude am 3. Februar in Berlin erwartet. In Hamburg und München mussten Demos gegen Rechts ob der hohen Teilnehmer:innen-Zahlen bereits abgebrochen werden. Auch in kleineren Städten gehen tausende Menschen auf die Straße, um die Demokratie zu verteidigen.
So standen etwa 1000 Menschen auf dem Michelstädter Rathausplatz, 3500 Demonstrierende besuchten eine Kundgebung in Schwäbisch Gmünd und 3000 Menschen versammelten sich in Verden an der Aller. Insgesamt waren deutschlandweit am letzten Januarwochenende wohl über 1,5 Millionen Menschen auf der Straße.
Die Recherchen des Investigativ-Netzwerks "Correctiv", so könnte man den Eindruck gewinnen, haben Deutschlands Mitte wachgerüttelt. Die schweigende Mehrheit, juchzen nun viele, erhebt sich. Anders als es Rechte und Rechtsextreme regelmäßig proklamieren, ist diese schweigende Mitte nicht ihrer Meinung – vielmehr verteidigt sie aktuell die freiheitlich-demokratische Grundordnung gegen sie.
Und das, obwohl die Deutschen als protestmüdes Volk gelten – gerade im Vergleich mit dem Nachbarland Frankreich. Eine Trendwende sieht der Politikwissenschaftler Johannes Becker vom Institut für Protest- und Bewegungsforschung der Uni Marburg durch die aktuellen Massenproteste trotzdem nicht. Vielmehr glaubt er, dass sich die Proteste wieder verlaufen werden, wie er auf watson-Anfrage erklärte.
Aktuell werde alles von "Riesenmanifestationen gegen 'rechts', gegen die 'Remigration', gegen die AfD dominiert." Becker geht davon aus, dass die AfD-Ausgrenzung auch nach den Wahlen in diesem Jahr anhalten wird – und sie ihren Charme als Protest-Partei ein Stück weit verlieren dürfte.
Stattdessen könnten sich einige Wähler:innen dem Bündnis Sahra Wagenknecht oder auch einer neuen Partei Hans-Georg Maaßens zuwenden. Und auch die Bauernproteste werden wieder abklingen, spätestens wenn die Frühjahrsaussaat ansteht, meint der Protestforscher.
Ähnlich sieht es auch der Protestforscher Philipp Gassert von der Uni Mannheim. Im Gespräch mit dem SWR erklärt Gassert, es sei ein Novum in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland, dass eine so große Bewegung für die Demokratie eintritt und nicht für ein spezielles Thema. Das sei ungewöhnlich.
Auch er rechnet allerdings damit, dass sich diese Mobilisierung wieder verlaufen wird. Er sei vielmehr überrascht, wie lange die Proteste bereits anhalten. Klar sei zudem, dass es einen Unterschied mache, ob Parteien und Gewerkschaften zu Demonstrationen aufriefen oder Akteur:innen der Zivilgesellschaft, wie es aktuell der Fall ist. Gassert sagt:
Aus Sicht von Gassert könnten die Demos zwar kaum bewirken, dass sich ein:e überzeugte:r Wähler:in rechter oder rechtsextremer Parteien umentscheidet – sehr wohl könne aber die schweigende Mehrheit erreicht werden. Diese Mitte könnte durch die Proteste so mobilisiert werden, dass sie sich mehr an der Demokratie beteiligt.
Konfliktforscher Tareq Sydiq vom Zentrum für Konfliktstudien blickt optimistischer auf den Fortgang der Demos. Laut ihm kann Protest ansteckend wirken, zumindest dann, wenn er erfolgreich ist. Sydiq erklärt auf watson-Anfrage:
In gewisser Weise, meint Protestforscher Becker, ließe sich die aktuelle Mobilisierung gegen Rechts mit den Corona-Protesten vergleichen. Beiden Gruppen ging es demnach um ideelle Werte: Den Corona-Leugner:innen ging es um die Fragen, wer über ihren Körper bestimmt und wer eine gute Gesundheitspolitik definiere. Den Demonstrierenden gegen Rechts hingegen gehe es um die Rettung der Demokratie, der Freiheit, der Vielfalt und der offenen Grenzen.
Anders gesagt, Corona-Gegner:innen ging es stark ums Individuum, den Protestierenden gegen Rechts ums Allgemeinwohl. Beide eint aber, dass sie wegen ihrer Ideale protestieren. Bei den Protesten der Landwirt:innen hingegen gehe es klar um Materielles.
Becker geht zudem nicht davon aus, dass die Protestfreudigkeit der Mitte im Engagement gegen Rechts dazu führen könnte, dass die Unterstützung für Bewegungen wie Fridays for Future leidet. Er rechnet eher mit dem Gegenteil. In den vergangenen Monaten hätte Fridays for Future unter Zwist innerhalb der eigenen Reihen gelitten; dabei sei es um die Frage der Politisierung gegangen.
Gerade der Krieg im Nahen Osten spaltet die Fridays offenbar. So spricht sich das Gesicht der Bewegung, Greta Thunberg, klar für ein freies Palästina aus und polarisiert mit Aussagen zu Israel. Auch in Deutschland sehen sich Chapter der Bewegung immer wieder mit Antisemitismusvorwürfen konfrontiert.
Diese Vorwürfe gegen Fridays for Future International, wie auch gegen die Fridays Bremen wurden bereits vor dem Überfall der Hamas am 7. Oktober und dem damit verbundenen Kriegsausbruch laut. Mittlerweile hat sich eine neue Ortsgruppe in Bremen gegründet, die sich deutlich von Antisemitismus distanziert.
Trotz all der internen Streitereien geht Becker davon aus, dass Fridays for Future wieder Aufschwung erfahren wird. Er sagt:
Dazu beitragen würde auch, dass an vielen Orten die "Parents...", "Grandparents..." oder "Scientists for Future" Verantwortung übernommen hätten und so für Kontinuität sorgten. Das bedeutet wohl, dass Deutschland auch in den kommenden Monaten und Jahren weitere Massenproteste bevorstehen – und die Protestmüdigkeit ein Ende hat.