Die Bundesregierung muss Menschen mit Behinderung im Falle von Engpässen in Krankenhäusern besonders schützen, urteilt das Bundesverfassungsgericht.Bild: dpa / Fabian Strauch
Analyse
28.12.2021, 18:2229.12.2021, 09:30
Kommt es im Zuge der Pandemie zu Behandlungs-Engpässen in Krankenhäusern, müssen Menschen mit Behinderung besonders geschützt werden.
Das hat das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe am Dienstag entschieden und damit der Beschwerde von neun Personen stattgegeben. Der Gesetzgeber wird damit verpflichtet, unverzüglich entsprechende Vorkehrungen zu treffen.
Versorgung eines Covid19-Patienten.Bild: dpa / Kay Nietfeld
Das Urteil bezieht sich auf die sogenannte Triage. Damit ist eine Situation gemeint, in der Ärztinnen und Ärzte etwa aufgrund von fehlenden Intensivbetten entscheiden müssen, wen sie retten und wen nicht.
Die Beschwerdeführer hatten befürchtet, dass Menschen mit Behinderung in einem solchen Fall benachteiligt werden, sollte es keine entsprechenden gesetzlichen Vorgaben geben.
"Das ist ganz klar ein Versäumnis, das nun so schnell wie möglich behoben werden muss"
Verena Bentele
"Wir begrüßen, dass das Bundesverfassungsgericht eine solche Regelung nun unverzüglich vom Gesetzgeber fordert", teilt Verena Bentele, Präsidentin des größten deutschen Sozialverbandes VDK, auf watson-Anfrage mit.
Die Politik sei bislang ihrer Pflicht nicht nachgekommen, rechtsverbindliche Kriterien für diese sensible und wichtige Frage zu suchen und finden.
"Das ist ganz klar ein Versäumnis, das nun so schnell wie möglich behoben werden muss. Nur weil es nicht einfach ist, darf sich die Politik vor eine Regelung nicht länger wegducken“, schreibt die ehemalige Spitzensportlerin weiter.
"Ein großer Meilenstein in Richtung der Ausübung von Rechten von Menschen mit Behinderungen in Deutschland"
Christian Rathmann
Auch Christian Rathmann, Leiter der Abteilung Deaf Studies und Gebärdensprachdolmetschen am Institut für Rehabilitationswissenschaften der Humboldt-Universität Berlin, begrüßt das Karlsruher Urteil.
Auf watson-Anfrage schreibt er:
"Es muss langsam selbstverständlich werden, dass Menschen mit Behinderungen keine Angst vor Diskriminierungen und Ungleichbehandlungen in Krankenhäusern mehr haben sollten."
Fachleute und Vertreterinnen und Vertreter mit Behinderungen seien beste Expertinnen und Experten in eigener Sache und sollten bei weiteren politischen und inhaltlichen Konsultationen einbezogen werden.
Es sei zu hoffen, dass es sowohl auf Bundesebene als auch auf Landesebene vermehrt Programme geben werde, die zur Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen in Deutschland führen würden, schreibt Rathmann weiter.
Das Urteil sei "ein großer Meilenstein in Richtung der Ausübung von Rechten von Menschen mit Behinderungen in Deutschland".
Auch Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) äußerte sich am Dienstag positiv zu der Entscheidung.
Er begrüße das Urteil ausdrücklich, schrieb er auf Twitter.
Menschen mit Behinderung bedürften mehr als alle anderen des Schutzes durch den Staat. "Erst Recht im Falle einer Triage. Jetzt aber heisst es, Triage durch wirksame Schutzmassnahmen und Impfungen zu verhindern".
Im Juli 2020 hatten neun Menschen mit Behinderungen Verfassungsbeschwerde erhoben. Darin heißt es unter anderem, dass die gegenwärtigen staatlichen Maßnahmen zur Bewältigung Pandemie zum Schutze ihrer Grundrechte den Anforderungen des Grundgesetzes nicht genügten.
Das Bundesverfassungsgericht solle anordnen, dass die Bundesregierung spätestens innerhalb eines Monats ein Experten-Gremium benennt, in dem auch Menschen mit Behinderung vertreten sind.
Krankenhäuser geraten in der Corona-Pandemie immer wieder an ihr Limit.Bild: dpa / Hauke-Christian Dittrich
Dieses solle bis zur Verabschiedung einer gesetzlichen Regelung entsprechende Vorgehensweisen für den Fall einer Triage entwickeln. Der Verein abilitywatch hat das Vorhaben unterstützt.
Das Bundesverfassungsgericht schrieb am Dienstag in einer Stellungnahme zu dem nun ergangenen Urteil, "der Gesetzgeber muss – auch im Lichte der Behindertenrechtskonvention – dafür Sorge tragen, dass jede Benachteiligung wegen einer Behinderung bei der Verteilung pandemiebedingt knapper intensivmedizinischer Behandlungsressourcen hinreichend wirksam verhindert wird."
Ärzte sind in einer extremen Entscheidungssituation
Die behandelnden Ärztinnen und Ärzte befänden sich im Fall einer pandemiebedingten Triage "in einer extremen Entscheidungssituation", schreibt das Bundesverfassungsgericht in der Urteilsbegründung weiter.
"Sie müssen entscheiden, wer die nicht ausreichend zur Verfügung stehenden intensivmedizinischen Ressourcen erhalten soll und wer nicht."
In dieser Situation könne es "besonders fordernd sein", auch Menschen mit einer Behinderung diskriminierungsfrei zu berücksichtigen.
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