"Markus Söder will Eltern, die ihre Kinder ungeimpft in die Schule schicken, das Sorgerecht entziehen" oder "Julia Klöckner lässt ihr E-Auto im Transporter zu Wahlkampfauftritten fahren": Wer solche Behauptungen auf Faktencheck-Portalen wie beispielsweise Correctiv liest, staunt nicht schlecht, was so alles im Netz kursiert. Doch alle diese Aussagen sind gelogen, sogenannte "Fake News". Von erfundenen Zitaten bis zu Bildmanipulationen: Mal findet man im Netz viele Falschinformationen über Politikerinnen und Politiker. Was in den Faktenchecks journalistischer Medien landet, ist nur ein Bruchteil der Desinformation, die online kursiert.
Der Kampf mit Unwahrheiten gehört seit vielen Jahrzehnten zum Wahlkampf. Das ist vor der Bundestagswahl 2021 nicht anders. Mal sind es dezente Verzerrungen, mal bewusstes Verschweigen von Tatsachen: etwa die Anschuldigung des Armin Laschets, des Kanzlerkandidaten von CDU und CSU, Ermittler hätten das Finanzministerium seines Kontrahenten Olaf Scholz durchsucht – wenn sie in Wahrheit dort nur Informationen über eine untergeordnete Einheit einholten. Manchmal sind es aber auch gezielte und bewusste Falschinformationen: beispielsweise durch den ehemaligen Präsidenten des Bundesamts für Verfassungsschutz und CDU-Bundestagskandidaten Hans-Georg Maaßen, der dem Öffentlich-Rechtlichen Rundfunk "Meinungsmanipulation" und eine linksextreme Gesinnung vorwarf-
Natürlich finden sich immer wieder falsche Informationen im Internet – nicht alle davon sind gezielte Desinformation.
Watson spricht mit Experten sowie dem Journalisten Peter Kreysler darüber, welche Rolle Desinformation im digitalen Wahlkampf spielt.
Kreysler veröffentlichte kürzlich zusammen mit Gesine Enwaldt die Dokumentation "Virtuelle Propaganda" im WDR. In dieser schleust sich Kreysler als fiktiver Wahlkampfberater der Satire-Partei "Die Partei" als möglicher Interessent in die Szene berüchtigter PR-Agenturen in Großbritannien ein. Agenturen, die in die Vote Leave-Brexit Kampagne und den Skandal um Cambridge Analytica involviert waren. Cambridge Analytica ist eine umstrittene Datenanalysefirma, die im US-Präsidentschaftswahlkampf 2016 Donald Trump mit fragwürdigen Methoden unterstützt hatte. Kreysler und Enwaldt konnten erschreckende Aussagen aufzeichnen. So beispielsweise ein PR-Berater in der Dokumentation zu Kreysler:
Auch für Deutschland hat diese Agentur Ideen für derartige Wahlkampagnen: "Es gibt 30.000 Migranten in den deutschen Gefängnissen. Wollen wir wirklich dafür zahlen oder sie lieber zurück in ihr Heimatland schicken?"
Die PR-Berater sind in der Dokumentation überzeugt vom Erfolg ihrer Angstkampagne. Sie sprechen von 70 Prozent der Menschen, die den Werbeslogan sehen und danach "Die Partei" wählen würden. Auf die Nachfrage, wie man an die zugrunde liegenden Daten komme, antwortet der Berater vage, "es gebe da mehrere Möglichkeiten". Ist es wirklich so einfach, Menschen im digitalen Wahlkampf zu manipulieren?
Politikwissenschaftler Thomas Schmitt-Beck von der Universität Mannheim bezweifelt, dass ähnliche Kampagnen, wie sie von PR-Agenturen in England und Amerika geführt werden, auch hierzulande möglich wären. Als Gründe nennt er den strengeren Datenschutz – und die mangelnde Modernität der Parteien. Er meint:
Neue Zahlen zeigen allerdings, dass sich dieser Wahlkampf deutlich stärker im digitalen Raum abspielt als frühere: Bei den Grünen gehen von 1,6 Millionen Euro Wahlkampf-Etat 300.000 Euro auf das Konto des digitalen Auftritts. Vor fünf Jahren waren das bei 1,3 Millionen Euro gerade mal 50.000 Euro. Bei der SPD haben sich die Ausgaben für Werbung in den sozialen Medien sogar verfünffacht. Auch die CDU hat digital massiv zugelegt: Von 2,5 Millionen Euro Wahlkampfausgaben stehen dafür 500.000 Euro bereit – 2016 waren es bei gleichem Budget nur 20.000 Euro.
Politikwissenschaftler Schmitt-Beck äußert gegenüber watson die Meinung, dass der digitale Wahlkampf "stark die Funktion hat, Modernität zu demonstrieren und gar nicht unbedingt als sinnvolles Wahlkampftool dient, um Stimmen zu bringen. Es wird eher gemacht, damit man drüber reden kann, dass man es macht, also um zu demonstrieren, wie up to date man ist."
Völlig anders sieht das der Journalist Kreysler. Seine Recherchen ergaben, dass Wahlkampfbeeinflussung auch in Deutschland möglich ist: "Die CDU und auch die PR-Verbände hier behaupten alle, dass das, was in Amerika oder in England möglich ist, hier überhaupt nicht gehen würde, weil wir nicht an die notwendigen Daten rankommen."
Jedoch hätten ihm Experten, zum Beispiel der englische PR-Berater Andreas Walker der Agentur New Century Media oder Tobias Schmid, Direktor der Landesanstalt für Medien NRW und maßgeblich für die Regulierung der Wahlkämpfe zuständig, bestätigt, dass so etwas möglich sei. Walker habe gesagt, "dass die Methoden von Cambridge Analytica, die ja ihre Daten illegal besorgt haben, heutzutage legal sind", so Kreylser gegenüber watson. "Es ist also möglich, diese Daten legal zu besorgen."
Um Falschinformationen überhaut effektiv streuen zu können, brauchen Akteure vor allem eins: die richtigen Daten. Ganz am Anfang von Desinformation steht also die massenhafte Sammlung von Daten, die von Menschen freiwillig aber auch unfreiwillig im Internet preisgegeben werden. Die Verarbeitung und Analyse dieser komplexen Datenmenge, genannt Big Data, geschieht mittels digitaler Technologien.
An dieser Stelle kommt Microtargeting ins Spiel. Diese Methode ermöglicht es, Botschaften an Menschen zu schicken, die besonders empfänglich dafür sind. Besonders heikel erscheint das angesichts der 62 Prozent der Befragten, die durch Zufall auf Informationen stoßen, wie die Medienanstalten ermittelten. Microtargeting ist per Gesetz legal und ein ganz normales Vorgehen in Wahlkämpfen, solange die Daten anonym sind. Jedoch wirft diese immer gezieltere Ansprache zunehmend grundlegende ethische Fragen auf.
Facebook weiß nicht nur, ob jemand Juso-Mitglied ist oder nicht. Eine Studie aus dem Jahr 2015 ergab, dass Facebook ab 70 Likes eine eigentlich anonyme Person besser kennt als ihre Freunde. Ab 300 "Gefällt mir"-Angaben ist die Charakterbeschreibung der Plattform besser als die der Ehepartner. Was sich zunächst harmlos anhört, birgt je nach Absicht enormes Potential oder Gefahren: So konnten die Forscher anhand der Likes im Netzwerk persönliche Eigenschaften wie Religion, politische Ansichten, sexuelle Orientierung oder sogar die Hautfarbe ableiten. Mit einem Algorithmus gelang es den Forschern, aus entsprechenden Likes mit 95-prozentiger Wahrscheinlichkeit vorauszusagen, ob eine Person hell- oder dunkelhäutig ist.
Mit politischer Werbung hat Facebook in Deutschland allein seit 2019 über 54 Millionen Euro erwirtschaftet. Am meisten Geld für Wahlwerbung auf Facebook hat die CDU mit über 830.000 Euro ausgegeben, wie das Portal selbst aufschlüsselt. Gefolgt von den Grünen mit circa 645.000 Euro (Stand 17.9.21). "Also dass man eine Werbung gezielt nur zu Juso-Mitgliedern in Berlin schicken kann und das so angeboten wird von Facebook – für mich ist das Microtargeting", so Kreysler. Auch die Algorithmen der Plattformen steuern, welche Nachrichten der jeweilige Nutzer angezeigt bekommt. So kann es sein, dass unterschiedliche Teilöffentlichkeiten verschiedene Informationen aufnehmen und damit einen komplett anderen Blick auf dasselbe Ereignis haben.
Politikwissenschaftler Erik Meyer, der sich mit dem Thema der digitalen Desinformation beschäftigt, hält die Nutzung der Facebook-Daten von externen Anbietern – zumindest auf legalem Weg – jedoch für eher unwahrscheinlich. "Ich kann diese Daten nutzen, ohne dass ich sie genau kenne, indem ich eine Anzeige schalte. Aber die Daten verlassen Facebook nicht, daran hat das Unternehmen ja gar kein Interesse", so Meyer gegenüber watson. "Wenn solche Daten wie im Fall Cambridge Analytica Facebook verlassen, dann ist das ein Fehler, aber keine Absicht von Facebook"
Kreysler erklärt, wie das Microtargeting trotz anonymer Daten funktionieren kann: "Wie mir von Experten aus der PR-Branche bestätigt wurde, kann man depersonalisierte Datensätze verwenden – und das ist ja die Grundlage für das, was man laut Vorschrift darf. Diese kann man übereinander schieben und feststellen, wer diese anonymen Personen sind. Also man kann die Datensätze sozusagen deanonymisieren, Profile herstellen und damit sein Microtargeting machen."
Beide Politikwissenschaftler glauben jedoch nicht daran, dass Microtargeting einen so großen Einfluss auf Wahlentscheidungen hat: "Die Vorstellung, dass ich die Wählerschaft dazu bringen könnte, genau das zu tun, was ich möchte, wenn ich sie nur besonders genau kenne, an der hab ich doch so ein bisschen Zweifel", so Meyer. Er ergänzt:
Meyer sieht stattdessen eine andere Gefahr, die von Desinformation ausgeht: "Was bei der Desinformation eine große Rolle spielt, ist das Ziel, die Wählerschaft zu polarisieren und bestimmte Gruppen zu mobilisieren oder auch zu demobilisieren." Als Beispiel dafür nennt Meyer den früheren amerikanischen Präsidenten Donald Trump, der es geschafft habe, im Wahlkampf bestimmte Wählergruppen zu verunsichern und sie zu überzeugen, seine Gegnerin Hillary Clinton würde nichts für sie tun.
"Und solche Effekte, die wesentlich indirekter sind, spielen eine viel größere Rolle beim Wahlkampf. Also dass Menschen insgesamt verunsichert sind und nicht mehr wissen, was man glauben kann." Das Ergebnis der Präsidentschaftswahl 2016: Trump gewinnt. Ob es konkret die Schmutzkampagnen waren, die Trump schlussendlich zum Sieg verhalfen, bleibt ungeklärt. Doch Fakt ist, dass ein Mann Präsident wurde, der nach eigenem Gutdünken über die Wahrheit von Fakten entscheidet.
Kreylser betont gegenüber watson, es gehe ihm nicht darum, die Meinungsfreiheit einzuschränken, wie viele Verschwörungstheoretiker oft behaupten: "Natürlich soll man auch in Zukunft lustige, satirische oder schenkelklopfende Gags durch die Gegend schicken dürfen. Das ist doch völlig klar, darum geht es nicht." Er will mehr Bewusstsein bei den Menschen für das eigene Handeln hervorrufen. Denn auch die Bürger sind ein essentieller Teil der Desinformationskampagnen. Viele der Falschinformationen oder hetzerischen Memes werden von den Bürgern selber geteilt. Auf diese Weise verbreitet sich eine Nachricht rasend schnell.
Die Expertin Pia Lamberty ist Sozialpsychologin und forscht zu Verschwörungsideologien. Sie erklärt, warum sich Desinformation so schnell verfängt: "Es gibt zwei Routen der Verarbeitung im Gehirn: eine eher langsame, systematische, bei der man sich Sachen genauer anschaut und auch einen schnellen Verarbeitungsweg, der besonders anfällig ist für Desinformation. Wenn ich zum Beispiel gerade keine Zeit oder keine Lust habe, mich mit etwas genauer zu beschäftigen, bin ich besonders anfällig für Daumenregeln und Verzerrungen."
Das heißt: Wenn man beispielsweise kurz nebenbei eine Überschrift lese und dann nicht nochmal, könne die eher hängenblieben, einfach weil die Motivation fehle, sich genauer damit zu beschäftigen. Oder wenn man schon im Vorfeld eine starke Meinung zu etwas hat. Lamberty erklärt, wenn man beispielsweise bereits einen Bundeskanzlerkandidaten oder eine -kandidatin stark ablehnt und ihm gegenüber negative Gefühle hat, glaube man eine Desinformation über die Person eher, wenn sie der eigenen Meinung entspricht und prüfe das auch viel weniger nach, als bei einer Person, die man gut findet.
Was man als Bürger aber konkret gegen Desinformation machen könne, sei, "dass man sich vielleicht dann doch nochmal die Mühe macht, einmal zu googeln, ob diese Aussage tatsächlich stimmt, bevor man das einfach in diesen Strom der Desinformation einspeist und noch größer macht", so Kreysler. Vor allem, wenn man beim Lesen sofort das Gefühl habe, da könne etwas nicht stimmen. "Also da haben die Bürger schon auch ein Stück weit Verantwortung."
Auch die klassischen Medien tragen ihren Teil zur Verbreitung von Desinformation bei. "Sehr bedenklich ist, dass die Reichweite dieser Falschinformationen auch noch von den traditionellen klassischen Medien verstärkt worden ist. Damit werden solche falschen, hetzerische Botschaften erstmalig in einem Wahlkampf zum Mainstream. Wenn diese nur in der Sphäre bestimmter Kanäle wie Telegram oder auf Facebook-Seiten verbreitet worden wären, dann hätte Desinformation wahrscheinlich nicht so eine Auswirkung", gibt Kreysler zu bedenken.
Der Ursprung des Problems ist laut Peter Kreysler aber, dass es im Internet kaum Regulierungen gibt. "Im digitalen Bereich gibt keine gesetzlich verpflichtende Regeln, die irgendetwas genauer bestimmen. Natürlich gibt es eine Selbstverpflichtung von Facebook, politische Werbung anzeigen zu müssen, aber auch das funktioniert nicht", so der Experte gegenüber watson.
Die Nachverfolgung sei einfach nicht streng genug, um alle Verstöße zu verfolgen. Während im analogen Wahlkampf "jedes kleinste Detail reguliert ist", wie sich Kreysler beschwert, gebe es diese Regeln für den digitalen Wahlkampf nicht.
In Großbritannien haben alle Parteien eine gemeinsame Selbstverpflichtung für den digitalen Wahlkampf unterschrieben.
Kreysler fragt sich, warum das nicht in Deutschland möglich ist: "Wir blicken in die Niederlande, blicken nach Irland, wo das Parlament sich entschieden hat, verbindliche Regeln festzulegen. Und da stellt sich mir schon die Frage, warum Parteien oder das Parlament in Deutschland scheinbar dieses Problem für nicht wichtig genug erachten, um verbindliche gesetzliche Regelungen festzulegen."
Aus diesem Grund fordert Campaign Watch, ein breites zivilgesellschaftliches Bündnis bestehend aus 19 Organisationen, die Politik auf, einen Verhaltenskodex für den digitalen Bundestagswahlkampf zu vereinbaren. Unter den Mitgliedern sind beispielsweise die Stiftung Neue Verantwortung, Lobby Control oder Reporter ohne Grenzen.
Sie schlagen vier Regeln vor: die klare Kennzeichnung von Inhalten, Seiten und Gruppen der Parteien in sozialen Netzwerken – sowie die Veröffentlichung regelmäßiger Transparenzberichte. Denn in Deutschland hat zwar jede Partei eine Selbstverpflichtung dafür, wie sie ihren digitalen Wahlkampf führt – die Bedingungen legt die jeweilige Partei aber selbst fest.
Bisher gibt es keine Strafen für Desinformation. Es mag vereinzelt, wie beim Brexit, zu Prozessen gekommen sein, aber bis diese abgeschlossen sind, ist die jeweilige Wahlentscheidung meist längst gefallen. "Und das ist natürlich auch die Gefahr bei der Bundestagswahl", so Peter Kreysler. "Das Problem ist einerseits, man kriegt eine Desinformation schwer wieder eingefangen, es verfestigt sich in den Köpfen und zweitens wir wissen nicht, wo das herkommt."
Solche Selbstverpflichtungen findet Erik Meyer wichtig, damit "man die Parteien zur Verantwortung ziehen kann, wenn solche Praktiken im Nachhinein bekannt werden." Schließlich sei der digitale Wahlkampf eine "Grauzone, die weder gesetzlich noch durch die Plattformen richtig geregelt ist". Dies geht Peter Kreysler nicht weit genug. Er plädiert dafür, die Regeln so zu gestalten, dass Desinformation verhindert werden kann, bevor der Schaden angerichtet ist. Kreysler warnt:
"Alle freiwilligen Bemühungen, Licht in den digitalen Wahlkampf zu bringen und ihn zu regulieren, sind weitgehend gescheitert", sagt Tobias Schmid, Direktor der Landesmedienanstalt NRW, ernüchtert in der WDR-Doku. Dabei verlangen in einer aktuellen, von der Medienanstalt NRW beauftragten Forsa-Umfrage, 90 Prozent der befragten Online-Nutzer, dass politische Werbung im Netz transparent sein muss. Das wäre ein guter Anfang, findet Peter Kreysler. Er fordert: "Transparenz, Transparenz, Transparenz. Ich glaube, damit kriegt man schon mal sehr, sehr viel in den Griff."