Ein Mann raste am Mittwoch auf der Tauentzienstraße in eine Schülergruppe. Eine Lehrerin starb, mindestens 13 Personen wurden verletzt. Bild: Geisler-Fotopress / Matthias Wehnert/Geisler-Fotopre
Deutschland
09.06.2022, 15:0509.06.2022, 16:17
Im Herzen Berlins erfasst ein offenbar psychisch beeinträchtigter Autofahrer eine Schülergruppe. Eine Lehrerin stirbt. Der Fall sorgt deutschlandweit für Bestürzung. Laut Staatsanwaltschaft soll der Mann jetzt in die Psychiatrie. Politiker und Polizei suchen derweil nach den richtigen Worten. Bundeskanzler Olaf Scholz spricht nun von einer "Amoktat".
Bundeskanzler Scholz zeigt sich tief betroffen: "Reise (...) endet im Alptraum"
Der tödliche Vorfall mit einem Auto nahe der Berliner Gedächtniskirche sorgt für Entsetzen. "Die grausame Amoktat an der Tauentzienstraße macht mich tief betroffen", schrieb Kanzler Olaf Scholz (SPD) am Mittwochabend bei Twitter.
Der Fahrer des Autos, das eine Schülergruppe erfasst und die Lehrerin in den Tod gerissen hatte, war nach jüngstem Kenntnisstand wohl psychisch beeinträchtigt.
"Die Reise einer hessischen Schulklasse nach Berlin endet im Alptraum. Wir denken an die Angehörigen der Toten und an die Verletzten, darunter viele Kinder. Ihnen allen wünsche ich eine schnelle Genesung", so Scholz weiter. Neben der getöteten Lehrerin wurden nach Angaben der Polizei von Mittwochabend 14 Menschen verletzt, mehrere von ihnen lebensbedrohlich. Die Trauer und die Anteilnahme aus ganz Deutschland waren enorm.
Tatverdächtiger möglicherweise im "psychischen Ausnahmezustand"
Ein Verdächtiger – ein 29 Jahre alter, in Berlin lebender Mann – wurde gefasst und in ein Krankenhaus gebracht. Die Berliner Senatsverwaltung für Inneres zitierte Innensenatorin Iris Spranger (SPD) am Abend bei Twitter mit den Worten: "Bin wieder in meiner Lagezentrale: Nach neuesten Informationen stellt sich das heutige Geschehen an der #Tauentzienstrasse als eine Amoktat eines psychisch beeinträchtigten Menschen dar." Mehr Details dazu nannte sie nicht.
Ein Sprecher der Berliner Polizei sagte der Deutschen Presse-Agentur am Abend: "Es gibt Indizien, die die Theorie eines psychischen Ausnahmezustands stützen." Es handle sich aber um eine von mehreren möglichen Versionen. "Nach Durchsuchungen laufen Ermittlungen und Spurenauswertung intensiv weiter", schrieb die Polizei bei Twitter.
Polizeipräsidentin Barbara Slowik hatte zuvor im RBB ebenfalls die Offenheit der Ermittlungen betont: Man schließe im Moment "gar nichts" aus, sagte sie. Die Ermittlungen würden von einer Mordkommission geführt. Unter anderem wurde die Wohnung des Fahrers in Charlottenburg durchsucht.
Mutmaßlicher Täter mit Auto seiner älteren Schwester unterwegs
Im Wagen wurden neben Schriftstücken auch Plakate mit Aufschriften gefunden. "Ein richtiges Bekennerschreiben gibt es nicht", sagte Innensenatorin Spranger. Zuvor hatte es aus Polizeikreisen geheißen, es sei ein Bekennerschreiben gefunden worden. Spranger sprach von "Plakaten", auf denen Äußerungen zur Türkei stünden. Der Fahrer war nach dpa-Informationen mit einem Auto unterwegs, das seiner älteren Schwester gehört. Er soll der Polizei wegen mehrerer Delikte bekannt gewesen sein, jedoch nicht in Zusammenhang mit Extremismus. Die Schwester des Verdächtigen sagte einem "Bild"-Reporter: "Er hat schwerwiegende Probleme." Nachbarn äußerten sich der Zeitung zufolge erstaunt, "dass er zu so einer Tat fähig ist."
Eine Lehrerin musste am Mittwoch bei der "Amoktat" ihr Leben lassen.Bild: PRESSCOV via ZUMA Press Wire / Michael Kuenne
Man habe derzeit keine Erkenntnisse gegen den Fahrer seitens des Verfassungsschutzes, sagte Spranger in der RBB-"Abendschau". Sie sprach den Hinterbliebenen und Angehörigen ihr Mitgefühl aus und kündigte für Donnerstag eine Trauerbeflaggung in Berlin an.
Zahlreiche Menschen gedenken dem Opfer und nehmen Anteil
Am Abend gedachten zahlreiche Menschen in der Gedächtniskirche der getöteten Frau und der Verletzten. Vor Ort waren unter anderem Bundesfamilienministerin Lisa Paus (Grüne), Berlins Regierende Bürgermeisterin Franziska Giffey und Bildungssenatorin Astrid-Sabine Busse (beide SPD) sowie Einsatzkräfte der Feuerwehr und Polizei. Auch Bürgerinnen und Bürger drückten bei der Andacht ihre Anteilnahme aus.
Soweit bekannt, spielte sich der Vorfall im Herzen Berlins so ab: Der Mann fuhr den Renault-Kleinwagen am Vormittag an der Straßenecke Ku'damm und Rankestraße auf den Bürgersteig des Ku'damms und in die Menschengruppe. Dann fuhr er auf die Kreuzung und knapp 200 Meter weiter auf der Tauentzienstraße Richtung Osten. Kurz vor der Ecke Marburger Straße lenkte er den Wagen erneut von der Straße auf den Bürgersteig, touchierte ein anderes Auto, überquerte die Marburger Straße und landete im Schaufenster einer Parfümerie.
Die Bundesregierung, Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) und Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier zeigten sich bestürzt über das Geschehene. "Meine Gedanken sind bei den schwer und sehr schwer Verletzten, bei dem Todesopfer", erklärte Steinmeier. "Und sie sind bei denen, die Schreckliches erleben mussten. Mein tiefes Mitgefühl gilt ihnen, allen Angehörigen und Hinterbliebenen." Bürgermeisterin Giffey sagte den Betroffenen Unterstützung zu.
Amoktat? Erinnerungen an islamistisches Attentat von 2016 werden wach
Die Polizei richtete eine Telefonhotline für Angehörige ein, vor Ort waren Seelsorgerinnen und Seelsorger im Einsatz. Die Gegend, in der sich der tödliche Vorfall am Mittwoch ereignete, ist wegen der vielen Geschäfte, Cafés und Sehenswürdigkeiten oft sehr belebt. Sie ist ein Anziehungspunkt für Touristen aus dem In- und Ausland.
Eine Frau steht am Mahnmal "Der Riss" zum Gedenken an die Opfer des Terroranschlags auf den Weihnachtsmarkt 2016 am Breitscheidplatz.Bild: Reuters/Pool / Hannibal Hanschke
Der Unfallort befindet sich unweit der Gedächtniskirche am Breitscheidplatz in Berlin-Charlottenburg. Dort war im Dezember 2016 ein islamistischer Attentäter in einen Weihnachtsmarkt gefahren. Dabei und an den Spätfolgen starben 13 Menschen, mehr als 70 wurden verletzt. Der Fall vom Mittwoch weckte in Berlin auch Erinnerung an eine Amokfahrt auf der Stadtautobahn A100 im August 2020, als ein Autofahrer gezielt drei Motorradfahrer rammte. Er wurde vom Gericht in die Psychiatrie eingewiesen.
(ast/dpa)