Innenministerin Nancy Faeser ist unter anderem für die Polizei verantwortlich.Bild: IMAGO/Björn Trotzki
Analyse
"Der Rechtsextremismus ist die größte extremistische Gefahr für unsere Demokratie – und für Menschen in unserem Land."
So drastisch wie klar formulierte Innenministerin Nancy Faeser (SPD) die Bedrohungslage in Deutschland. Immer wieder. Bereits zu Beginn ihrer Amtszeit stellte sie klar: Blindheit auf dem rechten Auge wird es unter ihr nicht geben. 2022 legte ihr Ministerium einen Zehn-Punkte-Plan gegen Rechtsextremismus vor.
Für viele war dieses Vorgehen, das klare Benennen des Problems, eine Erleichterung. Gerade nach den Erfahrungen mit dem rechtsextremen NSU, der jahrelang ungesehen morden konnte. Oder nach den Erfahrungen mit dem früheren Chef des Verfassungsschutzes, Hans-Georg Maaßen. Der musste sich regelmäßig dem Vorwurf stellen, rechte Gewalt aktiv zu ignorieren.
Doch offenbar hat sich Faesers Kurs in den vergangenen Monaten heftig gedreht. Woran liegt das?
Zu Beginn ihrer Amtszeit sah sich Faeser noch mit dem Vorwurf konfrontiert, sich nicht genug gegen Links(-extremismus) abzugrenzen. Auslöser: Ein Gastbeitrag, den die Innenministerin im "antifa"-Magazin veröffentlicht hatte. Das Magazin wird von der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes – Bund der Antifaschisten herausgegeben. Dass Antifaschismus (= gegen Faschismus) per se nicht linksextrem ist, war den Kritiker:innen egal.
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Der Vorwurf: Faeser würde sich zwar Extremismus von Rechts klar entgegenstellen – wie wachsam aber ist das linke Auge der Ministerin?
Faeser verteidigt Letzte-Generation-Razzia
Die Sorge, die Innenministerin könnte vor lauter Bekämpfung des Rechtsextremismus den Linksextremismus aus den Augen verlieren, hat Faeser spätestens 2023 ad absurdum geführt. Die bundesweite Razzia bei Klimaaktivist:innen der Letzten Generation löste bei vielen Menschen Zweifel aus. Ist der Staat hier zu weit gegangen? Aus Sicht von Nancy Faeser lautet die Antwort ganz klar: Nein.
Der Staat würde sich nicht auf der Nase herumtanzen lassen, erklärte sie nach der Razzia. Legitimier Protest ende, wo Straftaten begangen würden – und zu diesem Zeitpunkt komme dann auch die Polizei zum Einsatz. Ein Basta, das eigentlich hätte reichen dürfen, um die Sorgen vor zu viel Sympathie Faesers für das linke Spektrum zu zerstreuen.
Faeser kündigt stärkeren Fokus auf linkes Spektrum an
Wenige Tage später dann der nächste Beweis, dass Faesers Augen definitiv nicht geschlossen sind. Sie womöglich spätestens mit ihrem Amt Abstand genommen hat vom "linken Rand": der "Tag X" in Leipzig.
Trotz des gerichtlichen Verbotes des Protestmarsches in Reaktion auf das Urteil zu Lina E. hatten sich über 1000 Menschen versammelt. Am Ende wurde auch die einzige genehmigte Demonstration am Laufen gehindert. Denn auch die Polizei war mit einem Großaufgebot vor Ort.
Wasserwerfer, Schlagstöcke – die Polizei war ausgestattet. Und sie hinderte die Versammelten daran, loszulaufen. Stattdessen kam es zu einer Einkesselung, die bis in die frühen Morgenstunden andauerte. Und das ist nicht die einzige Kritik, der sich die Polizei nach dem "Tag X" stellen muss. Vielmehr geht es in den Berichten vieler Demonstrierender um unverhältnismäßige Polizeigewalt.
Auf der anderen Seite bleiben die Bilder brennender Autos und Barrikaden. Fliegender Flaschen und Steine. Von Deeskalation, zu der auch das Verbot der "Tag X"-Demo beitragen sollte: keine Spur. Neben einer unbekannten Zahl an Protestierenden seien auch 50 Polizist:innen verletzt worden.
Brennende Barrikaden im Leipziger Süden.Bild: dpa / Hendrik Schmidt
Nancy Faeser will nach den Ereignissen in Leipzig nun noch härter durchgreifen. "Die sinnlose Gewalt von linksextremistischen Chaoten und Randalierern ist durch nichts zu rechtfertigen", erklärte die Sozialdemokratin in einer Mitteilung. "Wer Steine, Flaschen und Brandsätze auf Polizisten wirft, muss dafür konsequent zur Rechenschaft gezogen werden." Die Sicherheitsbehörden würden die Szene in den kommenden Wochen genau im Blick behalten.
Das klingt nicht nach einer Innenministerin, die auf dem linken Auge blind ist.
NGOs warnen vor Asylreform
Und auch mit der von Faeser und der Ampel-Regierung unterstützten und angestrebten Asylreform der EU dürfte sich der Vorwurf, die Innenministerin sei zu weit links ansässig, endgültig erledigt haben.
Konkret geht es bei den aktuellen Vorschlägen nämlich darum, illegale Migration in die EU zu verhindern – und das durch eine Reihe abschreckender Maßnahmen. Beispielsweise könnten Ankerzentren eingerichtet werden. So würde das Asylverfahren an den Außengrenzen abgewickelt. Menschen, deren Antrag abgelehnt wird, würden also abgeschoben, ohne die EU betreten zu haben.
Unsichere Fluchtrouten kosten tausenden Menschen das Leben.Bild: dpa / Bruno Thevenin
Noch gibt es keinen finalen Gesetzentwurf – die EU-Innenminister:innen beraten über die Ausformulierung. Kritiker:innen sehen mit den aktuellen Plänen allerdings das Recht auf Asyl gefährdet – und fürchten, dass so noch mehr Menschen bei der Flucht sterben werden.
Die Menschenrechtsorganisation Pro Asyl wirft Faeser und der Ampelregierung eine Asylpolitik auf "Seehofer Kurs" vor. Horst Seehofer (CSU) war Faesers Vorgänger im Kabinett Merkel – und für seinen harten Kurs bekannt.
Amt oder Wahlkampf – das ist hier die Frage
Wird aus der Innenministerin, die mit einer progressiv-linken Politik ins Amt gestartet ist, nun eine Seehofer Fortführung? Ein Horst Faeser? Und liegt das am Amt? Oder doch eher daran, dass Faeser aktuell auch im Wahlkampfmodus ist. Denn in Hessen tritt sie als Spitzenkandidatin gegen den CDU-Ministerpräsidenten Boris Rhein an.
Hessens Ministerpräsident Boris Rhein (CDU) möchte eine weitere Amtszeit an der Spitze des Landes stehen.Bild: dpa POOL / Sebastian Christoph Gollnow
"Nancy Faeser scheint die derzeitige Themenagenda zu nutzen, um sich in Hessen gegen ihren Konkurrenten von der CDU als Law-and-Order-Politikerin zu profilieren", sagt der Autor und Politikberater Johannes Hillje auf watson-Anfrage. Eine Profilierung im Bereich innere Sicherheit könne der SPD-Spitzenkandidatin zwar ermöglichen, Stimmen von der CDU zu holen. Allerdings sei diese Strategie nicht ohne Risiko. Hillje sagt:
"In Hessen findet ein Dreikampf zwischen CDU, SPD und Grünen statt. Bei der letzten Wahl in Hessen hat die SPD die meisten Stimmen an die Grünen verloren. Mit übermäßiger Härte gegen Klimaaktivisten und Geflüchtete könnte Faeser weitere Stimmen an die Grünen verlieren."
Das Besetzen von klassisch konservativen Themen könne also auf ein "Nullsummenspiel" hinauslaufen. Und auch die von Faeser angestrebte Reform der Asylpolitik könnte nach hinten losgehen – und zwar dann, wenn sich die Entscheidung verzögert. "Faeser könnte dies als mangelnde Durchsetzungsfähigkeit angelastet werden", meint Hillje.
Der Politikwissenschaftler Stefan Marschall von der Uni Düsseldorf bewertet die Situation auf watson-Anfrage etwas anders. Natürlich, räumt auch er ein, könne die Politik, die Faeser aktuell betreibt, nicht vom Hessen-Wahlkampf getrennt werden. Trotzdem könne man immer wieder beobachten, dass "Menschen nicht nur ihre Ämter verändern, sondern auch, dass Ämter nicht spurlos an ihren Trägern vorbeigehen."
Gerade das Innenministerium habe immer wieder Politiker konservativer werden lassen. "Die prägende Kraft des Amtes hängt damit zusammen, dass in diesem Ministerium die Gewährleistung der inneren Sicherheit und Ordnung zur Priorität wird und vieles andere dahinter zurücktreten muss", sagt er.
Das Innenministerium ist für die innere Sicherheit und damit auch die Polizei zuständig.Bild: dpa / Sebastian Willnow
Was in diesem Zusammenhang auch nicht vergessen werden dürfe, sei, dass sich die Umstände verändert hätten. Das meint der Politikwissenschaftler Thomas König von der Uni Mannheim gegenüber watson. Er nennt in diesem Zusammenhang die AfD, die aktuell in Umfragen stark ist. "Mit anderen Worten liegt die SPD zurzeit in etwa gleich auf mit der AfD und die Bedingungen dürften sich bei anhaltender Inflation und steigenden Energiepreisen eher schlechter als besser entwickeln", sagt er.
Entscheidend sei am Ende aber, ob ein neuer Kurs tatsächlich umgesetzt würde – andernfalls könnte bei den Bürger:innen der Eindruck entstehen, dass trotz ändernder Bedingungen nichts gelingt.