Atomkrieg: "A House of Dynamite" zeigt fragile Logik der nuklearen Abschreckung
Im neuen Netflix-Film "A House of Dynamite" laufen die scheinbar letzten Minuten vor einem Atomkrieg: Eine Rakete ist auf dem Weg nach Chicago, kurz darauf wird sie als Atomwaffe identifiziert. Niemand weiß mit Sicherheit, wer sie abgefeuert hat.
Die Regisseurin Kathryn Bigelow zeigt in dem Film ein Dilemma, das in Anbetracht der aktuell fragilen geopolitischen Weltlage nicht mehr ganz so weit hergeholt wirkt: einen Angriff mit einer Atomrakete und die Mechanismen, die dann in Kraft treten. "A House of Dynamite" beleuchtet die Zeit vom Alarm bis zum Einschlag aus der Perspektive verschiedener Akteure. Ein Szenario, das niemand will.
Der Film lässt erahnen, wie fragil das System ist, das Sicherheit aus der Androhung gegenseitiger Vernichtung bezieht.
Setzt man bei solch einem Alarm auf Vergeltung – und befeuert damit eine tödliche Spirale? Und was passiert bei einem Atomangriff auf Europa? Wie realistisch ist das Szenario im Film? Sicher ist: Das Schicksal von Millionen liegt in den Händen einiger weniger Personen, deren Stimmung, Aufenthaltsort und teils zufällige Eventualitäten.
Netflix-Film zeigt Atomangriff: wenige Minuten bis zum Einschlag
Eine halbe Stunde höchstens, mehr bleibt nicht. So lange würde eine Interkontinentalrakete brauchen, um etwa von Russland oder Nordkorea bis in die USA zu fliegen, erklärt der frühere US-Offizier John Warnock im Militärmagazin "Warrior Maven". Höchstens dreißig Minuten, um zu erkennen, ob es sich um einen Fehlalarm handelt, die Quelle zu bestimmen und über die Reaktion zu entscheiden.
"Launch on warning" heißt das Prinzip hinter der Abschreckungstaktik: zurückschießen, bevor der eigene Boden getroffen ist. Schon in dieser Formel steckt der Widerspruch des nuklearen Dilemmas: Es will Stabilität schaffen, indem es jederzeit zur Eskalation bereitsteht.
Der kleinste Irrtum kann zum Auslöser werden – eine technische Störung, eine Fehleinschätzung, ein impulsiver Befehl.
Bigelow verdichtet im Film diese Realität in drei Handlungsebenen: im Kontrollraum, im Verteidigungsministerium und im Oval Office. Damit spiegelt sie reale Machtketten – und zeigt Kommunikationswege, die im Ernstfall abbrechen können, während Sekunden zählen.
Dass ihre Darstellung so authentisch wirkt, liegt auch an den Quellen, die ihr Team nutzen konnte. Drehbuchautor Noah Oppenheim sagte laut "Gold Derby":
Zu dieser Realität gehört auch: In den USA kann allein der Präsident den Startbefehl für einen Gegenangriff geben. Es gibt keine Kontrollinstanzen, die eine impulsive Entscheidung in Echtzeit stoppen könnten.
Intuition statt Protokoll: Fragiles System rund um den Atomkrieg
Schon 1983 verhinderte nur die Intuition eines sowjetischen Offiziers den atomaren Gegenschlag: Stanislaw Petrow vermutete im Frühwarnzentrum, dass die gemeldeten US-Raketen ein Irrtum sein könnten – und meldete den vermeintlichen Angriff nicht. Seine Entscheidung, entgegen dem Protokoll, dürfte Millionen Menschen das Leben gerettet haben.
Europa verlässt sich auf ein System aus Warnketten, Radarsignalen und Entscheidungsgremien – und auf die Annahme, dass sie im Ernstfall halten. Das Herzstück liegt auf dem Luftwaffenstützpunkt Ramstein: Dort steuert das Allied Air Command die Luft- und Raketenabwehr der Nato. Die integrierte Luft- und Raketenabwehr (IAMD) überwacht rund um die Uhr den Himmel über Europa und analysiert Bedrohungen in Echtzeit.
Doch dieses System könnte bei einem koordinierten Angriff überfordert sein. Hyperschallraketen, wie sie Russland einsetzt, fliegen mit über fünffacher Schallgeschwindigkeit und ändern im Anflug die Flugbahn, sind kaum abfangbar. Das verkürzt die ohnehin knappe Entscheidungszeit.
Seit Donald Trumps Rückkehr ins Weiße Haus wird in Europa offener über eine eigene nukleare Abschreckung gesprochen. "Die Europäer müssen sich mit der Möglichkeit auseinandersetzen, dass Amerikas Schutzschirm verschwinden könnte", sagte der Sicherheitsexperte Jan Techau im Deutschlandfunk (Dlf).
Großbritannien und Frankreich sind die einzigen europäischen Staaten mit eigenen, vergleichsweise wenigen, Atomwaffen. Sie wollen ihre Abschreckung koordinieren und "gemeinsam auf jede extreme Bedrohung Europas reagieren". Ein symbolischer, aber bedeutsamer Schritt, weil Frankreich bislang jede operative Abstimmung ablehnte.
Atomwaffen in Europa: Deutsche Teilhabe und die Illusion der Kontrolle
Was passiert aber, wenn sich das Szenario aus Bigelows Film in Europa abspielte – etwa in Berlin? Zwischen Alarm und Einschlag blieben zwanzig bis dreißig Minuten. Innerhalb dieser Zeit müsste auch hier entschieden werden, ob der Angriff echt ist und ob man den Gegenschlag riskiert, der alles besiegelt.
Im Zweifel entscheidet dann nicht das Bündnis als Ganzes, sondern einzelne Staats- und Regierungschefs. Die USA behalten die Kontrolle über ihre Sprengköpfe; Frankreich und Großbritannien über ihre eigenen Systeme. Die Nato betont zwar, jede nukleare Planung bleibe "unter politischer Kontrolle", doch im Ernstfall würde das Kommando bei den jeweiligen Regierungen liegen.
Deutschland beteiligt sich an der sogenannten nuklearen Teilhabe: US-Atombomben lagern auf deutschem Boden, deutsche Jets sind im Ernstfall Träger. Manche Expert:innen sagen, das reiche nicht mehr. Politikwissenschaftler Frank Sauer plädiert beim Dlf für ein deutsches Abschreckungspotenzial: Nur wer selbst drohen könne, sei glaubwürdig.
Andere warnen vor einer gefährlichen Illusion.
Juliane Hauschulz von der International Campaign to Abolish Nuclear Weapons (ICAN) betont, Atomwaffen könnten "niemals Sicherheit bringen". Selbst ein begrenzter Einsatz würde rasch in einen globalen Konflikt eskalieren. Völkerrechtlich wäre ein Gegenschlag zudem kaum zu rechtfertigen: Das Prinzip der Verhältnismäßigkeit bliebe unerfüllbar. Hauschulz spricht von einer "gefährlichen Normalisierung" der Diskussion, als seien Atomwaffen kontrollierbar.
Das strukturelle Problem bleibt: Europa spricht über strategische Autonomie, operiert aber größtenteils unter amerikanischer Kommandostruktur. Eine echte europäische Abschreckung existiert aktuell nicht. Ein Aufbau würde politisch wie technisch Jahre dauern.
Das ist der blinde Fleck moderner Sicherheitspolitik: Während die Rüstungstechnologie kollektiv organisiert ist, bleibt die Entscheidungsmacht konzentriert.
Abschreckung funktioniert nur, solange keiner stolpert
Bigelows Film ist Fiktion, aber seine Logik entspricht der Realität: Fehlalarme, Kommunikationsfehler, unklare Befehle – all das kann passieren.
Und doch hält sich das Prinzip: Abschreckung soll Krieg verhindern, indem sie jederzeit glaubwürdig bleibt. "Das Gleichgewicht des Schreckens" bleibt eine rhetorische Hülle für ein System, das auf Minutenentscheidungen, Signaltreue und menschlicher Selbstbeherrschung basiert.
In Europa wächst die Einsicht, dass atomare Sicherheit nicht planbar ist, sondern bestenfalls verwaltet. Nato-Übungen wie Steadfast Noon simulieren regelmäßig Krisen mit nuklearer Dimension. Doch am Ende hängt alles an Menschen, nicht an Systemen.
Bigelow selbst nennt ihren Film eine "warnende Geschichte". Sie hoffe, dass er eine Diskussion über die Reduzierung der Atomwaffenbestände anstoße – in einer Welt, in der wieder offen über nukleare Teilhabe und Erstschlagsfähigkeit gesprochen wird.
Bigelows Warnung zielt genau auf diesen Widerspruch: Die scheinbare Sicherheitsstruktur durch Atomwaffen ist ein moralischer Ausnahmezustand auf Dauerbetrieb. Die nukleare Ordnung bleibt nicht durch Stärke stabil, sondern durch das Glück, dass niemand stolpert.
