Die "Querdenken"-Bewegung um Michael Ballweg, die hinter vielen Demos gegen die Corona-Maßnahmen in Deutschland steckt, legt eine Pause ein. Am Heiligabend veröffentlichte und verbreitete "Querdenken" eine Videobotschaft Ballwegs, in der dieser den zwischenzeitlichen Stopp ankündigte.
"Querdenken"-Initiator Michael Ballweg hat dazu aufgerufen, sich an das Verbot der "Querdenken"-Demo in Berlin zum Jahreswechsel zu halten. Er bat in seiner Video-Botschaft darum, "das Verbot der Demonstrationen in Berlin zu akzeptieren und am 30.12., am 31.12. und am 1.1. nicht nach Berlin zu fahren".
Am Tag davor war bekannt geworden, dass die für den 30. Dezember in Berlin geplante "Querdenken"-Demonstration gegen staatliche Beschränkungen in der Corona-Krise verboten wurde. Ursprünglich war die Demonstration unter dem Motto "Willkommen 2021 – das Jahr der Freiheit und des Friedens" an Silvester geplant. Wegen des allgemeinen Versammlungsverbots hatten die Organisatoren die Demonstration um einen Tag vorverlegt.
Ballweg kündigte in der Video-Botschaft zudem an, zunächst keine großen "Querdenken"-Demonstrationen mehr anzumelden. Mit diesem Rückzug im Winter sollten nach seinem Bekunden Kräfte für den Frühling gesammelt werden. "Aus diesem Grund werde ich auf Weiteres keine Großdemonstrationen mehr anmelden."
Dies empfehle er auch anderen "Querdenken"-Gruppen in Deutschland. Zugleich rufe er dazu auf, dass sich eine Organisation finde, die "in naher Zukunft" eine Großdemonstration anmelde. Er freue sich zudem über alle, die selbst aktiv seien und kleinere Versammlungen abhielten.
"Querdenken 711" ist die größte und bekannteste der Gruppen, in Deutschland hinter den seit dem Frühjahr 2020 Demos gegen die Corona-Maßnahmen von Bund und Ländern organisieren. Die drei Ziffern 711 beziehen sich auf die telefonische Ortsvorwahl von Stuttgart, "Querdenken"-Kopf Ballweg kommt aus der baden-württembergischen Hauptstadt.
Die ersten Versammlungen gegen die Corona-Einschränkungen, damals "Hygiene-Demos" genannt, fanden Mitte April 2020 statt, in seiner Weihnachtsvideobotschaft verweist Ballweg selbst auf seine erste Demo am 18. April. In den Wochen und Monaten seither haben immer wieder aufsehenerregende Demonstrationen stattgefunden, die "Querdenken" angemeldet oder mitorganisiert hat. Auf den Demonstrationen waren neben Esoterikern, Impfgegnern und AfD-Politikern regelmäßig Reichsbürger und Rechtsextreme. Experten für Verschwörungsmythen beobachten die Szene rund um die Corona-Demos seit Monaten mit großer Aufmerksamkeit und Besorgnis.
Unter den größten Veranstaltungen waren die Demonstration am 29. August in Berlin mit rund 38.000 Teilnehmern, an deren Ende mehrere hundert Menschen die Treppen des Reichstagsgebäudes stürmten – und die Berliner Demo am 18. November mit rund 7000 Menschen. Während die Demo am Brandenburger Tor lief, bedrängten wenige Meter entfernt im Bundestag mehrere von AfD-Abgeordneten eingeladene rechte Aktivisten Abgeordnete und deren Mitarbeiter.
Regelmäßig löste die Polizei die Corona-Demonstrationen auf. Bei der Demo am 29. August in Berlin
hatten sich viele Teilnehmer nicht an die Abstandsregel gehalten. Am
18. November war in Berlin eine ähnliche Demonstration von der
Polizei mithilfe von Wasserwerfern aufgelöst worden, weil fast
niemand einen Mund-Nasen-Schutz trug.
Schon zwischen August und September zeigten sich aber auch Zerfallserscheinungen innerhalb der Bewegung, die watson ausführlich analysiert hat: Der vegane Koch Attila Hildmann, einer der prominentesten und reichweitenstärksten Corona-Verschwörungsideologen, führt etwa seit Monaten einen verbalen Kleinkrieg mit Ballweg und anderen Protagonisten der Szene.
Kurz vor Weihnachten enthüllten dann das Online-Portal "Netzpolitik.org" und das "ZDF Magazin Royale" mit Jan Böhmermann, wie "Querdenken"-Initiator Ballweg unter anderem mit undurchsichtigen Schenkungen und Merchandising Geld verdient.
Ob Ballwegs Ankündigung, mit "Querdenken"-Demos zu pausieren, mit diesen Enthüllungen zu tun hat, ist bisher nicht bekannt.
Autor Tobias Ginsburg, der lange im Milieu der Reichsbürger recherchiert hat und sich intensiv mit Verschwörungsmythen beschäftigt, sagte watson zu Ballwegs Entscheidung:
Selbst für den Fall, dass Ballweg mit seiner Entscheidung einen Ausstieg aus der Bewegung der Corona-Verschwörungsideologen eingeläutet hat, ist das für Experten kein Grund zur Entwarnung. Der Religionswissenschaftler und Antisemitismus-Beauftragte für Baden-Württemberg Michael Blume erklärte gegenüber watson schon vor Wochen, dass mit dem Zerfall solcher Bewegungen oft eine Radikalisierung einhergehe.
Auf Twitter interpretiert Blume Ballwegs Ankündigung als Versuch, "mit seiner Beute zu türmen" – und prognostiziert, dass die populärsten Verschwörungsmythen der kommenden Monate der eines "Great Reset" (also eines angeblich von obskuren Eliten geplanten "Neustarts" der Gesellschaft im Zuge der Pandemie), die Leugnung der Forschung zur Erderhitzung und Verschwörungsmythen zu Corona-Impfstoffen werden.
Auch Ginsburg erklärt gegenüber watson, dass die Bewegung hinter den Corona-Demos noch längst nicht am Ende ist. Zu Ballwegs möglichem Ausstieg sagt er:
(mit Material von dpa)