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Anti-Atomkraft-Aktivist der ersten Stunde über die Entwicklung der Bürgerbewegung

Polizei und Bundesgrenzschutz räumen am 04.06.1980 das Hüttendorf der "Republik Freies Wendland" nahe Gorleben, das Atomkraftgegner aus Protest gegen das geplante Atommüll-Lager neben der Ti ...
Atomkraftgegner bei der Räumung des Anti-AKW-Lagers "Republik Freies Wendland".Bild: dpa / Dieter Klar
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"Unsere Bewegung war wie ein Sauerteig, der die Gesellschaft durchwirkt": Anti-Atomkraft-Aktivist der ersten Stunde über die Entwicklung der Bürgerbewegung

09.01.2022, 13:0010.01.2022, 14:05
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Wolfgang Ehmke ist seit den 70er Jahren in der Anti-Atomkraftwerk-Bewegung (Anti-AKW-Bewegung) aktiv. Er stammt aus dem Landkreis Lüchow-Dannenberg in Niedersachsen – auch bekannt als das Wendland. Berühmt ist der Kreis wegen des Atommülllagers Gorleben. Und wegen der Anti-AKW-Bewegung: Die Bürgerinitiative Umweltschutz Lüchow-Dannenberg. Ehmke ist der Sprecher der Bewegung.

Ehmke ist seit Beginn ein Teil dieser Bewegung – und er ist es heute noch. Mit watson spricht er über die Entwicklung der Bürgerinitative, das Umdenken der Gesellschaft und die Hoffnung, die er auf die Klimabewegung setzt.

Wolfgang Ehmke, Sprecher Bürgerinitiative Umweltschutz Lüchow-Dannenberg spricht auf dem Gelände des ehemaligen Erkundungsbergwerks. Der Salzstock in Gorleben wurde jahrzehntelang für die Endlagerung  ...
Wolfgang Ehmke spricht bei einer Kundgebung.Bild: dpa / Philipp Schulze

Seine Erfahrungen haben wir protokolliert:

"Auf meine erste Demonstration hat mich meine ehemalige Wohngemeinschaft in Hamburg mitgenommen. Es war die erste Demonstration gegen das Atomkraftwerk in Brokdorf 1976. Ich hatte von der ganzen Thematik vorher gar keine Ahnung. Ich wurde einfach mitgeschleppt, war neugierig und dann ging es auch schon los. Ich habe gesehen, mit welcher Härte die Polizei gegen die Demonstranten vorging. Ein Pastor im Talar stand dort auf dem Acker, auf dem Bauplatz, und die berittene Polizei hat ihn einfach umgerissen.

Das hat mich sehr zum Nachdenken gebracht und ich habe angefangen, zu lesen.

Es war das Buch: "Zum richtigen Verständnis der Kernenergie – 66 Fragen und Antworten". Ich war noch gar nicht fertig mit dem Lesen des Buches, als ein Anruf von meinen Eltern aus Lüchow kam, dass Gorleben Standort werden sollte für ein nukleares Entsorgungszentrum. Das war im Februar 1977. Und da hat es bei mir endgültig eingeschlagen. Ich habe einen Teil meiner Kindheit in Gorleben verbracht, meine Großeltern lebten dort, mein Großvater war dort Dorfschullehrer.

"Für mich ist völlig klar, dass die zivile und die militärische Nutzung der Atomkraft nicht getrennt werden kann."

Und dann bin ich richtig aktiv in der Anti-AKW-Bewegung geworden. Mit dem angelesenen Wissen auf der einen Seite und den praktischen Erfordernissen, die sich jetzt in meiner Heimat ergaben, hatte ich, so meine Überzeugung, ja keine andere Wahl. Der O-Ton meiner Mutter damals: 'Jetzt kannst du auch mal Zuhause demonstrieren'. Sie war ein bisschen enttäuscht, als ich bei der ersten Kundgebung ohne meine Freunde auftauchte. Ich habe ihr dann zugerufen, dass ich im Schuldienst bin und nicht mehr Student, dass ich nicht jederzeit kommen kann. Sie hat für alle hörbar geantwortet: 'Merk' dir eins, mein Sohn: Es gibt wichtigere Dinge im Leben als Schule.'

Und dann ging sie für mich richtig los, die Diskussion um die Atomkraft. Das ist ganz schräg gewesen, denn in Gorleben wurde alles von hinten gedacht: vom Ende, vom Müll her. Es sollte eine Plutoniumfabrik und eine Brennelementfabrik geben. Außerdem sollte ein Pufferlager errichtet werden – daraus ist die oberirdische Zwischenlagerung geworden und unterirdisch sollte ein Endlager für den Atommüll errichtet werden. Im Kern ging es aber um eine Plutoniumfabrik.

Eine solche Fabrik braucht man, um von abgebrannten Brennelementen das durch die Neutronenspaltung entstandene Plutonium zu separieren. Das macht man entweder, um daraus Mischoxid-Brennelemente mit einem höheren Abbrand – also mehr Hitze und mehr Strom – herzustellen, oder aber, um Plutonium als Bombenstoff zu nutzen.

Da hat sich natürlich direkt die Frage aufgedrängt, was eigentlich eine solche Fabrik mit nuklearer Entsorgung zu tun hat: Nichts! Es bestand hingegen die Angst, dass waffenfähiges Plutonium hergestellt werden soll. Für mich ist völlig klar, dass die zivile und die militärische Nutzung der Atomkraft nicht getrennt werden kann.

Ein Demonstrationszug mit Traktoren auf dem Weg nach Hannover am 31.03.1979. Nach dem Unglück in dem amerikanischen Atomreaktor Harrisburg kam es am 31. März 1979 in Hannover zu der bisher größten Ant ...
Bauern sind 1979 mit ihren Trekkern auf dem Weg nach Hannover, um zu Demonstrieren.Bild: dpa / Dieter Klar

Genau an dem Tag, an dem Gorleben offiziell als Standort benannt wurde, gab es in Lüchow eine Veranstaltung vom Landvolk. Dort referierte ein Doktor Salander über das Für und Wider der Atomkraft. Es ging auch um den Brennstoffkreislauf und eine Wiederaufarbeitungsanlage. Da das Landvolk zu dieser Veranstaltung eingeladen hatte, waren auch viele Bäuerinnen und Bauern vor Ort. Und mitten in diesen Raum platzte die Information, dass Gorleben dieser Standort werden soll.

Die Menschen haben sich komplett verarscht gefühlt. Sie haben sich und ihre Existenz bedroht gesehen. Und so war die erste Demonstration in der Region eine Trecker-Demo, die Landwirte gingen als erste auf die Straße, weil sie Angst vor der Kontamination ihrer Produkte und vor Rufschädigung hatten.

Zu Beginn gab es also nur den Plan, diese ganzen Fabriken und das Pufferlager in Gorleben zu errichten. Da der Bau aber nicht direkt losging, hatten wir ein bisschen Zeit, uns politisch zu formieren, heute würde man sagen, sich aufzustellen. Also erst einmal einen Verein, also die Bürgerinitiative, zu gründen. Gleichzeitig gab es aber auch da schon erste Großkundgebungen, weiterhin in Brokdorf, aber auch in Krümmel, in Grohnde, an den AKW-Bauplätzen, auch in Gorleben mit 15.000 Menschen, die dort auf dieser Brachfläche schon im März 1979 – zwei Jahre vor der Standortbenennung hatte der Wald gebrannt – zusammenkamen.

"Ich war jung, ich musste mich politisch orientieren und mit den ersten Erfolgen (...) habe ich mich wohlgefühlt."

David gegen Goliath.

Von Anfang an hatten wir das Gefühl, es mit dem mächtigsten wirtschaftlichen Gegner der Bundesrepublik zu tun zu haben: der Energiewirtschaft. Dahinter stand das staatliche Atomprogramm, auch mit Blick auf die Bombe. Natürlich hatten wir Ohnmachtsgefühle. Aber gleichzeitig haben wir gemerkt, wie viele Menschen mit uns auf die Straße gingen. Ich war jung, ich musste mich politisch orientieren und mit den ersten Erfolgen, da reichte es zu erleben, wie viele Menschen zur Kundgebung nach Gorleben kamen, habe ich mich wohlgefühlt.

Zwei Jahre später, 1979, zogen die Bauern aus dem Wendland nach Hannover. Dort gab es ein Symposium, auf dem kontrovers über die Wiederaufbereitung diskutiert wurde. Auch die Frage, was mit dem Atommüll passieren sollte, wurde langsam lauter. Und während wir im Treck dort hingefahren sind, ist etwas passiert, was nie passieren sollte, was als unwahrscheinlich, als Restrisiko abgetan wurde: ein Störfall mit Kernschmelze in Harrisburg. Und das hat noch mehr Menschen im strömenden Regen auf die Straßen Hannovers getrieben.

"Es gab die Mollys auf dem Platz, das kommt von Molotowcocktails, es waren die Radikaleren. Wir waren die Müslis, die Friedfertigen."

Ich saß stolz auf einem der Wagen, wir aus dem Wendland wurden bejubelt. Das war großartig. Wir hatten in dem Moment das Gefühl: Wir können etwas bewegen. Und der erste Erfolg stellte sich schon wenige Zeit später ein: Der niedersächsische Ministerpräsident Ernst Albrecht, dem wir den ganzen Schlamassel zu verdanken hatten, ruderte zurück. Er sagte damals, dass eine Wiederaufarbeitungsanlage technisch machbar, politisch aber nicht durchsetzbar sei.

Ein riesiger politischer Erfolg für uns!

Ich verbrachte dann, ein Jahr später, jede freie Minute auf dem Platz der Republik Freies Wendland. Viele kennen das als 1004. Das war der Bohrplatz 1004 zur Erkundung des Salzstocks unter Gorleben für den Bau des Endlagers. Ich hatte sogar meinen Unterricht so gelegt, dass ich montags immer erst nachmittags arbeiten musste. Denn wir gingen davon aus, wenn uns die Polizei räumt, dann montags. Die Polizei kam an einem Dienstag. Naja! Das zeigt, wie wichtig es mir war, aber auch wie skurril. Es war eine politisch sehr aufgeladene Zeit – damals gab es die Anti-Atom-Proteste, aber in der Bewegung auch politische Gegensätze. Friedfertige und Gewaltbereite.

Es gab die Mollys auf dem Bohrplatz, das kommt von Molotowcocktails, es waren die Radikaleren. Wir waren die Müslis, die Friedfertigen. Uns ging es bei der Räumung darum, zu zeigen, von wem die Gewalt ausgeht – vom Staat. Und wir konnten uns bei dieser Aktion durchsetzen, wir ließen uns von der Polizei nicht provozieren.

Auf dem Platz haben wir Aktionen geplant, diskutiert, Kulturveranstaltungen organisiert. Wir haben dort gelebt. Es gab freilaufende Hühner und Schweine, eine Solaranlage, ein eigenes Radio.

Blick auf die Teilnehmer des Protestmarsches Gorleben am 31.3.1979 in Hannover. Rund 50 000 Atomkraftgegner kamen am 31. März 1979 nach Hannover, um gegen den geplanten Bau der atomaren Wiederaufberei ...
Bunt und unvermummt demonstrierte die Anti-AKW-Bewegung damals. Bild: dpa / Klar

Unsere Bewegung war schließlich wie ein Sauerteig, der die Gesellschaft durchwirkt hat. Mit dem Super-Gau in Tschernobyl fand zunächst ein Umdenken bei den Sozialdemokraten statt. Vorher waren sie unter Helmut Schmidt in großen Teilen für die sogenannte friedliche Nutzung der Atomkraft. Es gründeten sich die Grünen – und mit diesem neuen politischen Player kam es in Niedersachsen in den 90er Jahren zu einem ersten rot-grünen Regierungsbündnis.

Trotzdem gab es auch in den 80er und 90er Jahren viel Propaganda für die Atomenergie. Wir wurden als Chaoten und dreckiges Pack bezeichnet. Wir konnten schließlich nicht verhindern, dass in Gorleben zwei Zwischenlager errichtet wurden, eines für schwach- und mittelaktive Abfälle, das andere für hochradioaktiven Müll, besser bekannt als 'Castor-Halle'. Und dass ein Bergwerk im Salzgestein aufgefahren wurde, um dort ein Atommüllendlager zu errichten.

Mitte der 90er begannen die Atommülltransporte mit dem hochradioaktiven Müll, die Castor-Transporte. Vor allem hat uns fortan die Polizeigewalt zu schaffen gemacht. Ich erinnere mich an eine Sitzblockade im Jahr 1997. Die Menschen saßen dort friedlich auf der Straße, damit der Castortransport nicht ohne weiteres nach Gorleben gefahren werden konnte.

Es war kalt, Minustemperaturen! Die Menschen waren nassgespritzt von den Wasserwerfern der Polizei und hatten deshalb Planen über sich ausgebreitet. Die Polizei war ratlos, es gab kein Durchkommen, also knüppelten sie los. Sie schlugen auf die Planen, ohne zu wissen, wen sie treffen würden. Und wo.

"Es ging nicht allein um Gorleben, um den Atommüll, es ging vor allem um den Atomausstieg."

Wir haben damals wichtige Sätze geprägt: 'Der Staat zeigt Härte, aber die Menschen zeigen Charakter' zum Beispiel. Wir hatten uns vorgenommen, uns nicht verbittern zu lassen. Und irgendwie haben wir es geschafft. Wir blieben gewaltfrei, wir blieben bunt und wir kämpften für das Leben.

Jeden Herbst hieß es dann 'Castoralarm'. Und es kamen immer mehr Menschen, um uns zu unterstützen. Es ging nicht allein um Gorleben, um den Atommüll, es ging vor allem um den Atomausstieg.

Ich glaube, dass der Atomausstieg in Deutschland viel mit unseren Aktionen im Wendland zu tun hatte. Und, um jetzt mal den großen Sprung zu machen: 2010 gab es dann die Laufzeitverlängerung unter der schwarz-gelben Regierung Angela Merkels. Der Gau in Fukushima 2011 war dann der Tschernobyl-Moment der Union: Merkel machte eine Kehrtwende.

Gemütlich um einen Tisch sitzen Bewohner des Anti-Atom-Dorfes auf der Tiefbohrstelle 1004 auf dem Gelände für die geplante nukleare Entsorgungsanlage bei Gorleben im Wendland, aufgenommen am 7. Mai 19 ...
Die Aktivistinnen hatten sich 1980 im Anti-Atom-Dorf "Republik Freies Wendland" häuslich eingerichtet.Bild: Dieter Klar

Ich glaube, wenn wir das Feuer der Begeisterung im Kampf gegen die Atomkraft im Wendland nicht wachgehalten hätten, wenn es nicht die großen Demonstrationen und Blockadeaktionen gegeben hätte, dann wäre es bei uns in Deutschland nach Fukushima nicht zwangsläufig zum Ausstieg aus der Atomenergie gekommen. Wir haben, ehrlich gesagt, auch Glück gehabt, dass diese Entscheidung getroffen wurde.

Und heute wird immer deutlicher, dass die Atommüllfrage ungelöst ist und dass die Atomkraft eine Menge Geld kostet. Die anhaltende Sicherheitsdebatte machte neue Atomkraftwerke am Ende unglaublich teuer und die Bauzeit wäre viel zu lange, sollte die Atomkraft, wie es in anderen Ländern geplant ist, eine Rolle spielen, mit dem Argument, diese Form der Energieerzeugung sei CO2-freier als Kohle. Also realistisch betrachtet, ergibt es allein aus betriebswirtschaftlicher Sicht keinen Sinn, neue Kraftwerke zu bauen.

Dass die Atomenergie nun in die sogenannte EU-Taxonomie aufgenommen wird, ist energiepolitisch völlig dumm. Hier war die Atommacht Frankreich der klare Treiber. Ich denke nicht, dass sich in Deutschland, abgesehen von ein paar Kandidaten der CSU und der AfD, irgendjemand für Atomkraft einsetzen würde – aber hinter der Debatte um diese Taxonomie steht ja auch ein Deal: Die Franzosen bekommen 'ihr' Atom, Deutschland das Gas aus Russland.

"Ich wage mal die steile These, dass jüngere Menschen einen Schreck bekommen werden, wenn bei ihnen ein Endlager errichtet werden soll."

Wie es in der Anti-Atomkraft-Bewegung weitergehen wird, kann ich nicht vorhersagen. Es wird auch nach dem Ausstieg Ende 2022 noch die Urananreicherungsanlage in Gronau und die Brennelementfertigung in Lingen geben, diese Atomanlagen sind vom Ausstieg ausgenommen – völlig unverständlich, dass ein Ausstiegsland den Rest der Welt weiter mit angereichertem Uran und Brennstäben versorgen soll.

Wir haben die 16 Zwischenlager und irgendwann die Endlager. Es bleibt also noch viel zu tun, aber die Aufgaben und die Protestformen verschieben sich. Man rennt nicht mehr gegen Bauzäune an, es ist eher Wachsamkeit und kritische Debatte gefragt, also verlagert sich die Arbeit immer mehr von der Straße in Konferenzen.

Ich wage mal die steile These, dass jüngere Menschen einen Schreck bekommen werden, wenn bei ihnen ein Endlager errichtet werden soll. Und ich hoffe, dass sie sich auch weiterhin um die Zwischenlager kümmern. Auch die Themen haben sich verschoben: Es geht nun um Energiepolitik und Klimagerechtigkeit. Und ich habe die Hoffnung, dass die jungen Menschen hier anknüpfen und weitermachen."

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Überall Menschen in Uniformen, das Bundeskriminalamt, ein Security-Dienst, bewaffnete Leibwächter – so sehen Treffen der Grünen mitunter derzeit aus. Kurz: Ihre Veranstaltungen haben eine härtere Tür als der berühmt-berüchtigte Berliner Club Berghain.

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