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Armut in Deutschland: Eine Betroffene berichtet, was das bedeutet

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Mariell* weiß, was es bedeutet, für die eigene Existenz zu kämpfen. Bei watson erzählt die junge Frau, die eigentlich anders heißt, ihre Geschichte (Symbolbild).Bild: iStockphoto / LucidSurf
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"Niemand hat es verdient so zu leben": Was Armut bedeutet – eine Betroffene berichtet

29.10.2022, 15:56
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Rund 13 Millionen Menschen in Deutschland leben in Armut oder sind von ihr gefährdet. In der Gesellschaft müssen sie sich rechtfertigen, dafür, dass sie arm sind. Es wird als individuelles Versagen angesehen – dabei ist es ein gesellschaftliches.

Eine dieser 13 Millionen ist Mariell*, die eigentlich anders heißt. Sie ist 28 Jahre alt und macht eine Ausbildung zur Fachkraft für Veranstaltungstechnik.

Bei watson erzählt sie ihre Geschichte:

"Ich bin von Armut betroffen, weil ich nicht das Glück habe, eine finanziell starke Familie im Hintergrund zu haben. Und weil ich fünf Jahre hinter meinem eigentlichen Lebensplan hänge. Als junge Erwachsene habe ich Krebs bekommen. Parallel war ich an der Ludwigs-Maximilian-Universität in München für das Studium der Theaterwissenschaften eingeschrieben.

Nachdem es aussah, als würde es mir wieder besser gehen, bin ich zu Jura gewechselt. Ich dachte, ich kann irgendwann in die Politik. Etwas verändern in der Welt. Das Schicksal hatte andere Pläne. Studieren war nichts für mich, das habe ich aber erst spät gemerkt. Der Krebs gibt keinen Raum für Selbstfindung.

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Mariell* bekam als junge Erwachsene Krebs.Bild: iStockphoto / KatarzynaBialasiewicz

Die Diagnose war für mich eine Erlösung. Ich war sehr depressiv und dachte, wenn ich an Krebs sterbe, kann es mir keiner übel nehmen. Die Depression kam durch die ewigen Versagensängste, durch die Angst, dass es niemals besser würde. Ich habe mich mit gleichaltrigen Mitmenschen verglichen. Ich wollte wissen, warum ich nicht funktioniere. Und habe dabei komplett ausgeblendet, unter was für einer Mehrbelastung ich mein ganzes Leben stand.

Das Gefühl habe ich bis heute.

Ich schaue mir an, wie ehemalige Klassenkameraden ihren Abschluss machen und frage mich, warum ich das nicht geschafft habe. Es gibt keinen Weg aus der Armut. Man hört nicht auf einmal auf rumzurechnen im Supermarkt, nur weil am Anfang des Monats mehr Geld auf dem Konto ist.

"Wenn ich Pech habe, habe ich am Ende nicht nur Long Covid, sondern auch wieder Krebs."

Ich war immer wieder in Psychotherapie. Aber das Problem am Leben ist, es lässt sich nicht wegtherapieren. Wenn es an den äußeren Umständen liegt, dann kann Therapie nur verhindern, dass es schlimmer wird. Man hat keine Zeit, zu heilen.

Mit 24 Jahren habe ich den Krebs besiegt und eine Ausbildung in der Veranstaltungstechnik begonnen. Ich bin in den Kölner Speckgürtel gezogen. Dann kam Corona, gerade in meiner Branche hat die Pandemie sehr tief eingeschlagen. Ich habe überlegt, alles hinzuwerfen.

Ich bin die Risikogruppe, mein Leben verdanke ich einer medizinischen Studie. Ein Medikament, das auf die T-Zellen geht, hat den Krebs geheilt. Diese Zellen sind es, die Corona besonders angreift. Das heißt, wenn ich Pech habe, habe ich am Ende nicht nur Long Covid, sondern auch wieder Krebs. Und ich weiß nicht, ob ich das psychisch durchstehen würde.

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Mariell* gehört der Risikogruppe an, eine Ansteckung mit Corona könnte für sie extreme Folgen haben.Bild: iStockphoto / Zbynek Pospisil

Arm zu sein hat für mich daher in den vergangenen Monaten bedeutet, dass ich mich entscheiden muss zwischen Lebensmitteln, Heizkosten, kleinen Dingen, die der Psyche guttun – oder Masken.

Natürlich isoliere ich mich. Ich habe meine Kontakte, soweit es geht, reduziert. Ich gehe arbeiten, ich gehe in die Berufsschule. Aber dadurch, dass ich auf die Bahn angewiesen bin, habe ich immer wieder eine hohe Exposition zu Leuten, die sich einfach nicht an Regeln halten. Ich fühle mich einer ignoranten Gesellschaft ausgeliefert.

Wegen meiner Vorerkrankung bin ich auf FFP-3-Masken angewiesen. Die sind teuer. Ich habe aber keine andere Wahl, als 120 Euro im Monat dafür auszugeben – dieses Geld fehlt überall anders.

Bis August hatte ich 570 Euro im Monat zur Verfügung. Mittlerweile hat unsere Firma uns den Inflationsausgleich gezahlt, das heißt ich verdiene jetzt 1100 Euro. Das ist natürlich erst einmal ein Haufen Geld – aber nicht mehr, wenn ich davon die Miete im Ballungsraum, Nebenkosten, Masken und Lebensmittel zahlen muss. Bafög bekomme ich nicht, weil die Familie von meinem Vater wohlhabend ist.

"Und jetzt versuche ich in meiner Freizeit über Twitter die Welt zu verändern."

Ich bin sehr zwiegespalten aufgewachsen. Die Familie meines Vaters besitzt ein Haus in München mit 18 Wohneinheiten. Da ist also Geld vorhanden. Nachdem meine Mutter sich getrennt hat, war für uns der Hahn zu. Es hat lange gedauert, bis er Unterhalt bezahlt hat – und es war weniger, als er gemusst hätte.

Es war absurd.

Ich habe lange mit meiner Cousine in einem Haus gewohnt. Sie konnte sich einfach so ein 300-Euro-Teil beim Shoppen leisten, ich hatte neben meinem Studium vier Jobs. Es lagen Welten zwischen uns. Seit ich weit weg von Zuhause lebe, versucht mein Vater Wiedergutmachung zu leisten. Aber das ist nicht wirklich möglich.

In meiner Kindheit und Jugend haben sich die Wochenenden bei meiner Mutter komplett um die Pflege meines älteren Bruders gedreht. Er ist schwerbehindert. Unter der Woche habe ich mich um meine Mutter gekümmert. Ich habe viele von den Aufgaben übernommen, die eigentlich mein Vater hätte ableisten sollen – der war ja nicht da.

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Zuhause musste Mariell* viele Aufgaben übernehmen, ihre Mutter kümmerte sich vor allem um den schwerbehinderten Bruder.Bild: iStockphoto / DariaZu

Als ich mir damals überlegt hatte, Jura zu studieren, um in die Politik zu gehen, da wollte ich mich für Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit einsetzen. Die Ressourcenverteilung hat ja extrem viel mit beidem zu tun. Aber auch die Repräsentation von Randgruppen ist mir wichtig. Als Schwester eines Behinderten und Tochter einer Alleinerziehenden habe ich schließlich eine Menge mitbekommen.

Es ist aber, wie gesagt, anders gekommen. Und jetzt versuche ich in meiner Freizeit über Twitter die Welt zu verändern. Wobei ich natürlich weiß, dass ich auf Twitter nicht die Welt verändern werde, das müssen wir schon anders angehen.

Ich habe die Hoffnung, dass #IchbinArmutsbetroffen dabei helfen kann, dass wir alle lernen, genauer hinzusehen. Ich habe mein halbes Leben lang zu hören bekommen, dass wir faul sind. Dass wir Sozialschmarotzer sind. Wir müssten nur wollen und uns richtig anstrengen.

So oft, bis ich selbst daran geglaubt habe.

Ich habe mich verbogen und kaputt gemacht und es hat trotzdem nicht gereicht, weil das System gegen uns arbeitet.

"Es geht darum, dass wir als Gesellschaft gegensteuern müssen. Denn sonst wird es bald die Mitte der Gesellschaft treffen, und zwar sehr hart."

Jetzt, mit den Preissteigerungen, dürfte auch in der Mitte der Gesellschaft ankommen, dass Armut kein selbstgewählter Pfad ist. Dass sich mit einem Lidschlag so viel verändern kann. Dass man plötzlich nichts mehr hat und vor den Trümmern seiner Existenz steht. Niemand hat es verdient so zu leben und jeden kann es treffen.

Es geht nicht um mich, es geht nicht um die einzelnen Schicksale. Es geht darum, dass wir als Gesellschaft gegensteuern müssen. Denn sonst wird es bald die Mitte der Gesellschaft treffen, und zwar sehr hart. Wie hart, das konnte ich im ersten Lockdown gut beobachten.

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Bei einer Kundgebung in Berlin Anfang Oktober haben zwölf Armutsbetroffene ihre Geschichte erzählt.Bild: dpa / Paul Zinken

Damals haben alle mitbekommen, was es bedeutet, wenn die ganzen Alltäglichkeiten nicht mehr möglich sind. Für mich ist es normal. Ich kenne viele, die meinten, das sei die schwerste Zeit in ihrem Leben gewesen. Ja, vielleicht denkt ihr dann mal darüber nach, warum ihr das anderen Menschen freiwillig zumutet und dann noch davon sprecht, dass sie das verdient hätten.

Eine bessere Welt würde für mich bedeuten, dass wir achtsamer mit unserer Lebenszeit umgehen. Dass wir mehr daraus machen, als irgendwelchen Leuten Geld in die Taschen zu ackern. Wir könnten nachhaltiger und anders leben. Aber das müssen wir erstmal wieder lernen, weil wir ganz viel von unseren Bedürfnissen mit Konsum überdeckt haben.

Wir müssen lernen, hinzugucken.

Und zwar nicht nur vor unserer eigenen Haustür. Wir müssen lernen, die Zusammenhänge global herzustellen."

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