Isabel Cademartori ist die Mannheimer Direktkandidatin der SPD für die Bundestagswahl.bild: privat
Ein Tag mit
Isabel Cademartori ist 33 Jahre alt und möchte für die SPD in den Bundestag. Noch ist sie Kommunalpolitikerin in Mannheim, ihrer Wahlheimat. Aufgewachsen ist Cademartori in Santiago de Chile. Dass sie sich der Politik verschrieben hat, ist bei ihrer Familiengeschichte eigentlich selbsterklärend: Schon ihr Großvater war Politiker. Er war Wirtschaftsminister im Kabinett des ersten gewählten marxistischen Präsidenten der Welt: Salvador Allende. Wer ist Isabel Cademartori? Watson hat sie besucht.
21.09.2021, 19:2521.09.2021, 19:29
Isabel Cademartori ist ein Junkie. Das sagt sie zumindest über sich selbst: "Wenn man erstmal an der Nadel hängt, kommt man nicht mehr weg." Ihre Droge: die Politik. Ihr Tag bräuchte 26 Stunden, die Woche acht Tage.
Süchtig gemacht haben sie die baden-württembergischen Jusos. Dort war sie stellvertretende Landesvorsitzende, gleichzeitig aber auch Ortsvereinsvorsitzende der SPD. Neben ihrem Mandat im Mannheimer Stadtrat arbeitet Isabel Cademartori hauptberuflich als wissenschaftliche Mitarbeiterin im baden-württembergischen Landtag mit. Work-Life-Balance sei nicht so ihr Ding, auch weil sie die Politik nicht als Arbeit, sondern als Hobby ansehe.
In Zukunft könnte ihr Zeitplan noch straffer aussehen: Isabel Cademartori ist die Direktkandidatin der Mannheimer SPD für die Bundestagswahl. Die Stadt in Baden-Württemberg ist die Wahlheimat der 33-Jährigen. Aufgewachsen ist Isabel Cademartori im fast 18 Flugstunden entfernten Chile, ihre Jugend hat sie in Hannover verbracht.
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Die junge Frau mit der gedeckten Stimme interessiert sich für Themen, die schon immer zur SPD gehören: der Ausbau der Infrastruktur – von Ladesäulen für E-Autos bis zu Buslinien direkt zur Seniorenresidenz – gegenseitiger, generationenübergreifender Respekt und die Arbeit der Gewerkschaften.
Den Klimawandel meistern, ohne die Ärmeren zu vergessen, ohne Arbeiter zu verprellen, das ist ihr wichtig. Sie sagt:
"Wir sind auch für Klimaschutz und meiner Meinung ist die Frage nicht 'ob', sondern 'wie'. In der öffentlichen Debatte ist es schwer, zu dem Punkt zu kommen. Die Groko hat viel für das Klima gemacht, aber meistens geht es nur um die Geschwindigkeit. Um Symboldebatten. Ich hoffe, wir kommen dazu, stärker darüber zu debattieren, wie die Klimawende zu bewerkstelligen ist."
Auch deswegen besucht Cademartori an diesem Morgen den Chef der Mannheimer IG-Metall: Thomas Hahl. Es ist halb neun, als sie mit ihrem Fahrrad am Gewerkschaftshaus ankommt. Noch ist es frisch, aber die Morgensonne und der blaue Himmel lassen erahnen, dass es heiß werden wird. Trotzdem trägt die SPD-Politikerin lange Kleidung – braune Hose, graues Langarmshirt.
Gewerkschafter Hahl begrüßt sie mit der Corona-Faust. Cademartori wirkt entspannt, als wäre das ein Heimspiel für sie. Als wären sie und der Gewerkschaftschef alte Bekannte. Tatsächlich aber ist sie gekommen, um sich vorzustellen.
Das mache sie als Direktkandidatin bei allen Gewerkschaften, bei Firmen und anderen wichtigen Akteuren. Sie will auch abklopfen, was von ihr erwartet wird. Was wichtig ist und sie nicht auf dem Zettel haben könnte, weil Politiker diese Punkte eben zu leicht übersehen.
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Isabel Cademartori und ihr Vater in Chile.bild:privat
Seit 2019 sitzt die Wahl-Mannheimerin im Gemeinderat der Stadt. Ein Jahr später wird sie stellvertretende Fraktionsvorsitzende und Kandidatin für die anstehende Bundestagswahl. Für diese Chance hat sie gekämpft. Sie will Macht. Nicht, weil sie sich über andere Menschen erheben möchte, sagt sie – sondern, weil sie sich nicht ohnmächtig fühlen will. Das ist, was Politik für sie bedeute: "Empowerment". Sie erklärt:
"Für Frauen ist es problematisch zu sagen: 'Ich strebe nach Macht'. Es wird dann oft eher verkauft, als wäre die Person gefragt und überredet worden. Das stört mich. Es klingt so zufällig, so einfach. Dabei muss man sich diese Position erarbeiten. Deshalb gehe ich auch sehr offen damit um. Ich habe Gespräche mit der Führung geführt, habe mir als stellvertretende Kreisvorsitzende Einschätzungen abgeholt und schließlich offen kommuniziert, dass ich Direktkandidatin werden will."
Im Gespräch zwischen Cademartori und Gewerkschafter Hahl wird es jetzt ernst. Es geht um die harten Fragen. Zum Beispiel: Was wird aus den hunderten Menschen im Großkraftwerk Mannheim, dem größten Energiestandort Baden-Württembergs, wo sie Steinkohle verfeuern, um Strom zu erzeugen? Wie kann Klimaschutz sozial gestaltet werden? Hier erlebt die SPD-Frau Cademartori, was das für das Leben der Menschen in ihrer Heimat bedeutet.
Isabel Cademartori sitzt im Büro des Gewerkschaftschefs, auf der vorderen Kante des schwarzen Sessels, die Beine verschränkt, eine Kaffeetasse in der Hand. Sie hört aufmerksam zu, nickt immer wieder, während Hahl auf der gegenüberliegenden Couch sitzend mit singendem Mannheimer Dialekt von Menschen erzählt, die Angst haben, ihre Jobs zu verlieren.
"Ich glaube, das ist einer der Punkte, auf den Männer weniger achten müssen: die Gefahr eines 'Resting-Bitch-Faces'."
Cademartori lässt den Gewerkschafter Hahl ausreden. Geht auf seine Bedenken ein, erklärt Probleme, die sie sieht. Dabei wirkt sie sehr konzentriert. Das liegt nicht nur daran, dass das Thema so ernst ist.
Cademartori wird später sagen: "Ich glaube, das ist einer der Punkte, auf die Männer weniger achten müssen: die Gefahr eines 'Resting-Bitch-Faces'", sagt Cademartori. Sie habe gelernt, ihr Gesicht zu kontrollieren, da sie sonst, wenn sie konzentriert ist oder auch mal an gar nichts denkt, schnell als arrogant abgestempelt würde. Sie wird häufig mit ungefragten Tipps konfrontiert: netter lächeln, anders stylen. Sie sagt:
"Von Frauen wird erwartet, dass sie sich mit ihrem Aussehen beschäftigen. Man bekommt teilweise mehr Rückmeldungen zu seinem Look, als zu den Inhalten. Und ich finde das ermüdend, es raubt Hirnkapazität dauernd zu überlegen, wie sehe ich aus, wie komme ich rüber."
Nebenbei klinge außerdem oft der Vorwurf mit, Cademartori habe den Mannheimer Gemeinderat als Sprungbrett missbraucht. "Gegen Männern höre ich diesen Vorwurf nie. Was ist falsch daran, wenn auch ich den nächsten Schritt wagen möchte?", sagt die Politikerin.
Sie will, das erklärt sie im Büro des Gewerkschaftschefs mit Blick auf den Neckar, die Zukunft der Arbeiter gemeinsam mit der IG Metall gestalten. Für Cademartori sei klar: Klimawende und Klimaschutz müssen so schnell wie möglich vorangetrieben werden. Aber nicht um jeden Preis. "Das allerwichtigste ist, dass wir die erneuerbaren Energien möglichst schnell ausbauen. Genauso wie die Infrastruktur, die sie benötigen – also Speichertechnologien und Kabel", sagt die 33-Jährige. Vorher braucht man aus ihrer Sicht nicht über ein Verbot von Autos mit Verbrennungsmotor zu sprechen.
"Und deswegen muss für mich die Frage nach sozialer Gerechtigkeit oder Gleichheit immer mit Demokratie beantwortet werden."
"Es sei denn, wir nehmen in Kauf, dass große Teile der Gesellschaft nicht mehr so am gesellschaftlichen Leben teilhaben können, wie bisher", sagt Cademartori. Denn ohne Infrastruktur – Radwege oder Ladesäulen für E-Autos – werde vielen Menschen die Mobilität genommen, wenn Verbrenner nicht mehr fahren dürfen.
Die Familiengeschichte von Isabel Cademartori ist politisch rot.bild: privat
Die Politikerin behält die Kontrolle über ihre Gesichtszüge auch, als der IG-Metallchef darüber sinniert, ob das Wirtschaftssystem den zukünftigen Herausforderungen gewachsen ist. Später wird sie sagen:
"Den wirtschaftlichen Systemwechsel kann man debattieren. Aber darunter darf nie die Demokratie leiden. Und am Ende kann man ein System auch nicht von oben ändern. Die Bürgerinnen und Bürger müssen entsprechend wählen. Wenn sie das nicht tun, kann ich auch keine Veränderungen umsetzen. Weder in Form einer Vermögensteuer noch in Form einer Erbschaftsteuer."
Von Santiago de Chile in die DDR und zurück
Dass sie sich der Politik verschrieben hat, ist bei ihrer Familiengeschichte fast logisch. Ihr Großvater, Jose Cademartori, war in Chile der Wirtschaftsminister im Kabinett von Salvador Allende – dem ersten demokratisch gewählten marxistischen Präsidenten der Welt. Dieses Kabinett wurde 1973 vom Militär gestürzt, der Präsident ermordet. Großvater Cademartori wurde inhaftiert und floh wenige Jahre später mit seiner Familie in die damalige DDR. Isabel Cadematoris Eltern lernten sich dort kennen, bekamen zwei Kinder und zogen 1988 nach Chile zurück, als dort wieder die Demokratie herrschte – im deutschen Sozialismus waren sie nicht glücklich geworden.
Cademartori sagt: "Deswegen muss für mich die Frage nach sozialer Gerechtigkeit oder Gleichheit immer mit Demokratie beantwortet werden." Auch wenn die Union vor einem Linksrutsch warnt, wenn sie den Kommunismus heraufbeschwört und von "Roten-Socken" spricht; Isabel Cademartori kann damit nicht gemeint sein. Die junge Sozialdemokratin zeigt sich pragmatisch, bereit, Konsens zu suchen. Und sie hat die realistische Chance, in den Bundestag einzuziehen. Nicht nur, weil sich ihre Partei aktuell an einem bundesweiten Umfragehoch erfreut.
Der Christdemokrat, der bei der vergangenen Wahl das Direktmandat im Kreis Mannheim gewinnen konnte, heißt nämlich Nikolas Löbel. Er ist einer der Abgeordneten, die sich mit zwielichtigen Geschäften mit Corona-Schutzmasken bereichert haben. Unter öffentlichem Druck musste Löbel im März sein Bundestagsmandat niederlegen. "Man hat ihm viel zugetraut. Aber das ist schon next Level. Das ist absolut unmoralisch", bewertet Cademartori den Fall.
Trotzdem: Sicher hat sie den Platz im Parlament noch lange nicht. Am Nachmittag trifft sich Isabel Cademartori mit ihrem Wahlkampfteam, den Mannheimer Jusos. In Zweier-Gruppen wollen sie auf Haustürwahlkampftour gehen. Sie hat sich extra noch einmal umgezogen: lange Hose, langes Oberteil, diesmal in Blau. Und das, obwohl es mittlerweile 32 Grad warm ist.
Isabel Cademartori und ihr junges Wahlkampfteam.Bild: watson
Der Trupp will durch den Mannheimer Stadtteil Neckarau ziehen, an den Türen klingeln, die Menschen daran erinnern, dass bald Wahltag ist. Sie darüber informieren, wer die Direktkandidatin der Sozialdemokraten ist. Und über die Veranstaltung, die am Abend am 48er geplant ist. So heißt der Sportplatz, an dem später eine Diskussions- und Informationsveranstaltung zum Thema Pflege stattfinden wird.
Auch Cademartori schnappt sich die Unterlagen, zieht den roten #TeamOlaf-Maskenüberzieher über ihre FFP2-Maske und läuft los. Klinkenputzen: Auch das ist die Realität einer Direktkandidatin.
Haustürwahlkampf als Ausdauersport
Isabel Cademartori steigt die Stufen zum ersten Haus hinauf. Die SPD-Tasche in der Hand, die #TeamOlaf-Maske auf der Nase. Sie klingelt, wartet ab. Niemand rührt sich. "Gut, dann weiter", sagt sie. Nächste Haustür, selbes Spiel.
Ihre Wahlkampfthemen habe sie sich bereits im Januar gesetzt, sagt Cademartori. Letztlich passten sie aber auch sehr gut zu den generellen Schwerpunktthemen des SPD-Wahlkampfs. Mit dem ist die Politikerin zufrieden. Sie sagt:
"Ich finde es richtig, dass wir den kompletten Wahlkampf auf Olaf Scholz gemünzt haben. Das ist erfolgversprechend. Er ist der einzige Kandidat, der in der aktuellen Regierung ein Amt innehat. Er ist Vizekanzler. Und es ist auch klug, eine Art Nachfolge von Merkel anzubieten. Er ist vom Temperament eben tatsächlich ähnlich. Zur Geschlossenheit der SPD hat außerdem unsere personelle Aufteilung beigetragen: Eine Parteivorsitzende aus dem linken Spektrum der Partei und ein Kanzlerkandidat aus dem pragmatischen."
An der nächsten Haustür angelangt: Erfolg. Die Tür surrt, Cademartori läuft in den dunklen Flur. "Hallo, ist da jemand?", ruft sie. Eine Frau öffnet die Tür zur Wohnung. "Ja?", fragt sie. "Hallo, ich bin Isabel Cademartori, die Direktkandidatin der SPD." Sie wird direkt unterbrochen: "Nenene, keine SPD, tschüss." Cademartori verabschiedet sich, zieht weiter. Nächstes Haus, nächste Stufen, nächste Klingel – nichts. Haustürwahlkämpfer scheinen Ausdauer zu brauchen.
Nach einer halben Stunde muss Cademartori zurück zum Sportplatz, die Info-Veranstaltung zum Thema Pflege vorbereiten. Menschen begrüßen. Kaum stehen die SPD-Fahnen und die ersten Stühle, werden auch die Gäste des angrenzenden Kiosks aufmerksam, ebenso der Besitzer.
Nicht jeder in Mannheim ist SPD-Fan
"Ich halte nicht viel von der Politik, eigentlich gar nichts mehr", spricht der Kioskbesitzer Cademartori an. Sie weist ihn darauf hin, dass auch er mit seiner Wahlentscheidung dazu beitrage. "Nein, ich darf nicht wählen", erwidert er. Er sei nicht deutscher Staatsbürger. Die Politiker in ganz Europa hätten während der Pandemie versagt, vor allem dieser Jens Spahn. Mit der D-Mark würde es ihm heute außerdem besser gehen. Ein Stammkunde springt ihm bei: Er sei alt, habe viel erlebt und nie sei es so schlimm gewesen, wie jetzt. Nie hätten 'die da oben' mehr versagt, nie sei das politische Personal schlechter gewesen.
Die Politikerin fragt den Kioskbesitzer, was dieser denn von Karl Lauterbach halte, schließlich sei sie von der SPD und nicht von der CDU, wie Spahn es ist. Lauterbach fände er gut, antwortet der. Trotzdem, das ganze politische Personal sei eine Katastrophe. Ein älterer Herr nähert sich den Diskutanten: Roland Hörner, der Direktkandidat der CDU Mannheim. Isabel Cademartori ergreift die Chance, sich aus dem Gespräch mit dem Kioskbesitzer herauszuziehen und begrüßt ihren Konkurrenten.
Ein wichtiges Thema für Isabel Cademartori: Generationengerechtigkeit.bild: watson
Der Platz füllt sich. Drei Stühle stehen am Kopfende nebeneinander. Es sind die Plätze von Isabel Cademartori, Panajotis Neuert, dem Chef des Pflegedienstes "Pflege im Quadrat" und der Vorsitzenden des Mannheimer-Seniorenrates, Marianne Bade.
Die Besucher hören interessiert zu, was Cademartori für die Pflege plant und wie sie sich Generationengerechtigkeit vorstellt. Sie kommt auf die Infrastruktur zu sprechen, die Notwendigkeit, dass Rentnerinnen und Rentner gut an den Nahverkehr angeschlossen sind. Aber auch auf Tarifverträge, die bessere Pflege gewährleisten sollen. Als positives Beispiel, wie gute Pflege ablaufen kann, nennt sie den Dienst von Neuert. Dieser wiederum gibt dem Publikum Tipps zur Pflegedienstsuche und Finanzierungsmöglichkeiten. Und er beantwortet geduldig und charmant jegliche Fragen.
Auch das bedeutet für Cademartori Politik: Menschen zusammenbringen, vernetzen. Damit sie einander helfen und Tipps geben können.
Zum Abschluss des Tages spricht die Kandidatin mit vielen der Zuschauer persönlich. Die Frauen und Männer kommen auf sie zu, benennen Probleme, Sorgen, Wünsche. Manche wollen auch nur babbeln, wie es in Mannheim heißt.
Pflegedienstchef Neuert und sein Lebenspartner machen sich auf den Weg zur nächsten Veranstaltung. "Isabel, sehen wir uns auf dem Christopher-Street-Day am Wochenende?", ruft er zum Abschied. "Klar", ist die Antwort, "ich trage dann meinen Glitzer-Jumpsuit." Kaum ist ein Tag rum, wird schon der nächste geplant. Schade, dass eine Woche nur sieben Tage hat.