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Grüne Jugend kritisiert Lindner: "Irre, wie er an Schuldenbremse festhält"

01.10.2022, Nordrhein-Westfalen, Bielefeld: Timon Dzienus (l-r), Bundessprecher der Gr
Freuen sich über die Wiederwahl: Timon Dzienus und Sarah-Lee Heinrich.Bild: dpa / Lino Mirgeler
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Spitzenduo der Grünen-Jugend kritisiert Christian Lindner: "Irre, wie er an der Schuldenbremse festhält"

02.10.2022, 18:4103.10.2022, 10:43
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Die neuen alten Sprecher:innen der Grünen Jugend, Sarah-Lee Heinrich und Timon Dzienus, über die Ampel, Friedrich Merz, ihre Kapitalismuskritik und warum sie so selten gegen ihre Altpartei wettern.

Watson: Sarah-Lee und Timon, ich habe bei keiner eurer Reden während des Bundeskongresses die Namen Robert Habeck oder Annalena Baerbock gehört.

Sarah-Lee Heinrich: Das heißt erstmal nichts. Wir haben immer gesagt, dass wir es sagen, wenn wir etwas zu kritisieren haben. Das gilt auch für die grünen Minister:innen und die Parteispitze. Aber wenn wir ein Problem mit der Regierung haben, haben wir selten eines mit den grünen Regierungsmitgliedern. Und wenn doch, dann sagen wir es – wie etwa bei der Gasumlage.

01.10.2022, Nordrhein-Westfalen, Bielefeld: Timon Dzienus (l-r), Bundessprecher der Gr
Timon Dzienus und Sarah-Lee Heinrich beim Bundeskongress der Grünen Jugend in Bielefeld.Bild: dpa / Lino Mirgeler

Du hast die Gasumlage beim Bundeskongress noch mal gebasht. Das war schon eine indirekte Kritik an Habeck, oder?

Timon Dzienus: Zur Wahrheit gehört aber auch, dass Olaf Scholz und Christian Lindner mitverantwortlich sind für die Gasumlage, weil sie sich gegen eine Rettung aus dem Haushalt wehrten. Aber wir haben auch immer gesagt, dass wir auch die grünen Regierungsmitglieder an ihren Entscheidungen messen. Das haben wir an diesem Wochenende auch deutlich gemacht - sei es Sarah, die die festen LNG-Terminals kritisiert hat oder unser internationaler Sekretär Lysander, der die Waffenlieferungen an Saudi-Arabien kritisiert hat.

Sarah-Lee: Außerdem ist es gut, dass Robert Habeck sich der Kritik angeschlossen und die Gasumlage gekippt hat. Sie war von Anfang an das falsche Instrument. Man sieht: Angekündigt ist nicht beschlossen und beschlossen ist nicht umgesetzt. Es dauert immer viel zu lange, auch weil man ständig versucht, die Union mit ins Boot zu holen.

Wie meinst du das?

Sarah-Lee: Zum Beispiel die Debatten um das Sondervermögen. Oder auch, als die ersten Entlassungen angekündigt wurden. Ich meine: Wann wurde das zweite Entlastungspaket beschlossen?

Im Mai.

Sarah-Lee: Und wann kam die Energiepreispauschale? Im Oktober. Ein riesiger Zeitunterschied. Wir freuen uns, dass der Druck gewirkt hat, und die Gasumlage nun fallen soll und es ist richtig, dass Uniper verstaatlicht wird. Aber was auch stimmt: Die Grünen waren nie gegen eine Rettung über den Haushalt. Christian Lindner und Olaf Scholz dagegen nicht. Da stellt sich nun die Frage: Konnte das Wirtschaftsministerium nichts machen? Ich würde sagen: doch.

"Volker Wissing ist die Personifizierung dafür, warum FDP-Politik weder für Menschen noch fürs Klima ein Beitrag zu einer besseren Welt ist."

Wenn du BMWK sagst, sagst du also Robert Habeck.

Sarah-Lee: Ja, Robert, von mir aus (lacht).

Ihr schießt immer gern gegen die FDP.

Timon: Ja! Und zwar aus guten Gründen, würde ich sagen.

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Volker Wissing und Christian Lindner auf dem Balkon des Kanzleramts während des Koalitionsuaschusses.Bild: dpa / Christophe Gateau

Warum? Die SPD macht theoretisch aus eurer Sicht auch ziemlich viel Murks.

Timon: Klar, auch die SPD macht Murks. Sie kämpft leider an vielen Stellen nicht mit den Grünen. Bei Armutsfragen zum Beispiel, beim Bürgergeld, beim Klimaschutz ...

Sarah-Lee: ... beim Aussetzen der Schuldenbremse.

Timon: Bei vielen, vielen sozialen Fragen. Aber mit der FDP sind die inhaltlichen Konflikte krasser. Es ist doch irre, wie Lindner immer noch an der Schuldenbremse festhält. Aber auch Volker Wissing: Er ist eine Personifizierung dafür, warum eine FDP-Politik weder für Menschen noch fürs Klima ein Beitrag zu einer besseren Welt ist.

Wenn ich an Verkehrsminister Volker Wissing denke, denke ich immer wieder zurück an den ehemaligen CSU-Minister Andreas Scheuer. Ist Wissing eine Steigerung, eine Stagnation oder ein Schritt zurück?

Timon: Ich will die beiden nicht vergleichen. Ich schaue mir an: Was leisten sie? Geben sie Antworten auf die Krisen dieser Zeit? Die hat Scheuer nicht gegeben und Wissing gibt sie auch nicht. Weder in der sozialen Frage noch in der Klimafrage. Es ist doch erstaunlich, dass Wissing ein Klimaschutzsofortprogramm vorgelegt hat, das die Expert:innen-Kommission der Bundesregierung nicht einmal zu Ende angeschaut hat, weil es offensichtlich so schlecht und völlig ungenügend ist. Viel krasser kann ein Minister gar nicht scheitern.

"Es gibt keine Solidarität von rechts, nur Hass und Hetze und Versuche, zu spalten."

Sarah-Lee, du sagtest in deiner Bewerbungsrede: "Wir müssen auf die Straße gehen." Diesen Aufruf platzieren gerade auch andere Parteien gezielt in der Öffentlichkeit. Wollt ihr Teil des Wut-Winters sein?

Sarah-Lee: Das ist mega überspitzt gefragt – und das wird der Situation auch nicht gerecht. Viele Menschen wissen nicht, wie sie ihre Rechnung bezahlen sollen und sind extrem enttäuscht. Jetzt ist die Frage: Werden sie alleingelassen mit ihren Sorgen? Schaffen sie es über den Winter oder rutschen sie in Armut? Und es ist gut, wenn diese Menschen nicht in der Ohnmacht versinken, sondern auf die Straße gehen.

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Göttingen: Mahnwache unter dem Motto Zusammen gegen Preisexplosion und Gasumlage.Bild: www.imago-images.de / imago images

Das wäre dann aber der Wut-Herbst oder Wut-Winter.

Sarah-Lee: Wenn das ständig mit diesen rechten Protesten vermischt wird, sorgt das nur dafür, dass es eine höhere Politikverdrossenheit gibt. Es gäbe keine Proteste, würde die Ampel eine echte soziale und solidarische Politik machen. Es gibt keine Solidarität von rechts, nur Hass und Hetze und Versuche, zu spalten und Gruppen gegeneinander auszuspielen. Davon grenzen wir uns ganz entschieden ab. Und wir lassen uns nicht spalten, auch nicht in unserer Solidarität für die Ukraine.

Wie macht ihr das?

Sarah-Lee: Wir drehen das um: Um die Solidarität hochzuhalten, müssen die Krisenkosten gut verteilt werden. Wir werden auch nicht zulassen, dass der Klimaschutz für alles verantwortlich gemacht wird und am Ende geopfert wird, wie das die Union möchte, oder auch eine extreme Rechte, die gegen Geflüchtete hetzt. Die beste Medizin dagegen, dass die Wut von Menschen instrumentalisiert wird, ist den wahren Konflikt offenzulegen.

Gehen wir mal von der politischen Rechten zu Mitte-rechts: Ich spreche von den Äußerungen von CDU-Chef Friedrich Merz im "Bild"-Interview. Wie wollt ihr ihm erklären, was kein Sozialtourismus ist?

Timon: Das Erschreckendste war nicht mal die Verwendung dieses Wortes, sondern dass er diesen rassistischen Mist ernsthaft glaubt. Beim ZDF-Talk "Maybrit Illner" ging es um die Reform des Bürgergelds. Da sagte Merz, wenn die Ampel diese Reform jetzt umsetzt, die ich für immer noch völlig unzureichend finde, sendet sie nicht nur eine Botschaft nach innen - womit er sagt, Arbeitslose seien faul -, sondern auch nach außen. Damit hat er das Wort "Sozialtourismus" nicht genannt, aber gemeint.

Wie bewertest du das?

Timon: Einerseits reist er in die Ukraine, zieht dort eine ganz traurige Miene und fordert immer wieder mehr Waffen – damit gaukelt er Solidarität mit der Ukraine vor. Aber wenn es dann darum geht, materiell etwas für die Menschen zu verbessern, dann spricht er von "Sozialtourismus". Das ist extrem widersprüchlich, widerwärtig und echt gefährlich.

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In einem Interview mit "Bild"-TV sprach CDU-Chef Friedrich Merz von "Sozialtourismus".Bild: www.imago-images.de / imago images

Wir schlittern von Krise zu Krise. Sarah-Lee, du sagtest: "Wenn wir mit den Krisen unserer Zeit brechen wollen, müssen wir mit der Logik des Kapitalismus brechen" – wie meintest du das?

Sarah-Lee: Wir merken doch, dass es immer mehr Krisen gibt, alles wird schneller und wir erkennen, wie die Dinge zusammenhängen. Und das ist erst ein Vorgeschmack darauf, was uns drohen könnte, wenn wir die Klimakrise nicht in den Griff kriegen: Dann drohen uns Hungerkrisen, noch mehr Menschen werden fliehen müssen, mehr Menschen werden sterben und mehr Kriege werden stattfinden.

Kannst du ein Beispiel nennen?

Sarah-Lee: Nehmen wir die EU-Agrarpolitik, für die der Agrar- und Binnenmarkt innerhalb der EU extrem profitabel ist. Wenn das dafür sorgt, dass woanders Leute ihre Absatzmärkte verlieren, fliehen und dann im Mittelmeer sterben – wie kann ich denn nicht sagen, dass das ganze System hat?

Das Argument eurer Gegner:innen ist, dass es aber gerade aktuellere Krisen gebe, die zu bewältigen seien.

Sarah-Lee: Natürlich müssen wir uns viel mit aktuellen Konflikten befassen. Aber der richtige Weg aus Krisen heraus ist, sich zu fragen, wie sie nicht mehr entstehen. Diese Illusion, dass wir unser an Profitmaximierung ausgelegtes Wirtschaftswachstum und CO2-Emissionen entkoppeln – die geht nicht auf. Dieses System beutet Mensch und Natur aus. Wir lagern dreckige Produktionen unter den schlimmsten Arbeitsbedingungen in den globalen Süden aus.

"Ist es nicht undemokratisch, dass wir über die Bereiche, von denen wir abhängig sind, nicht selbst entscheiden können?"

Wollt ihr den Kapitalismus abschaffen?

Timon: Wir wollen ihn überwinden.

Sarah-Lee: In dem Moment, in dem wir die Kohle unter Lützerath verteidigen, schränken wir eine Profitsteigerung von Unternehmen ein. Es ist auch gut, dass wir Uniper verstaatlicht haben. Die haben sich verzockt und in gefährliche Atomkraftwerke und dreckige Kohleenergie investiert. Das war nicht blöd, sondern das sind kurzfristige Profitinteressen. So funktioniert der Kapitalismus. Aber wenn wir uns nicht immer wieder vor die Situation stellen wollen, solche Unternehmen zu retten, dann müssen wir die Energieversorgung bedürfnisorientiert organisieren – sie also in die öffentliche Hand überführen.

Timon: Das Gleiche haben wir bei der Forderung nach Verstaatlichung von Vonovia und der Deutschen Wohnen. Wir als Grüne Jugend setzten dieser Debatte etwas entgegen, das ist noch keine Abschaffung vom Kapitalismus. Es kann aber nicht nur darum gehen, das Schlimmste zu verhindern. Sondern es braucht eine Perspektive, wie wir es schaffen, Krisen nicht mehr schutzlos ausgeliefert zu sein.

Sarah-Lee Heinrich und Timon Dzienus
Neue alte Bundessprecher: Sarah-Lee Heinrich und Timon Dzienus.Bild: Grüne Jugend / Elias Keilhauer

Wie meint ihr "schutzlos ausgeliefert?"

Sarah-Lee: Ist es nicht total undemokratisch, dass wir über all diese Bereiche, von denen wir als Gesellschaft abhängig sind, nicht selbst entscheiden können? In Berlin habe ich ein Wahlplakat der FDP gesehen: "Damit sich Politik aus der Wirtschaft raushält". Warum sollte man sich da raushalten? Die Wirtschaft ist doch grundlegend für uns. Wenn Unternehmen einen Niedriglohnsektor hochziehen, können wir uns nur entscheiden, ob wir einen schlechten oder schlechteren Job annehmen. Wenn wir Kleidung kaufen, können wir entscheiden: In Kinderarbeit oder extrem schlecht bezahlter Arbeit hergestellt. Aber wir sollten darüber entscheiden dürfen.

Timon: Uns geht es darum, mit dieser Logik zu brechen. Den Kapitalismus einfach so abschaffen können wir nicht. Man kann ihn nicht von heute auf morgen überwinden und erst recht nicht per Beschluss. Es geht um eine Veränderung der Gesellschaft und unserer Wirtschaftsweise. Die braucht leider Zeit, auch wenn wir die eigentlich nicht mehr haben.

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