Für viele Aktivist:innen, politisch Interessierte, Eltern und Menschen, die gerade mit der Schule fertig geworden sind, ist die Sache klar: Wir brauchen neue Fächer. Am besten eins für jedes Problem. Gleichzeitig sollen natürlich weiterhin die Grundlagenfächer unterrichtet werden. Wie genau sich das alles in einen Stundenplan packen lässt, darüber wird wenig debattiert.
Welche Fächer würden wirklich Sinn ergeben? Wie müsste der Stundenplan reformiert werden, damit die Schüler:innen fit fürs Leben werden? Darüber hat watson mit Bildungs- und Jugendforschern gesprochen.
Aus Sicht des Jugendforschers Klaus Hurrelmann ist klar: Das Schulleben muss sich verändern. Sowohl auf der inhaltlichen Ebene, als auch in puncto Personaleinsatz. "Der Lehrermangel wird sich in naher Zukunft dramatisch zuspitzen", meint er. Was es brauche, sei eine Reform. Es müssten keine neuen Fächer sein, die auf dem Lehrplan auftauchen – sinnvoller wäre die Einführung von Themenfeldern.
Denn klar sei, dass es an vielen weiterführenden Schulen Defizite in den Bereichen Wirtschaft und Finanzen, Nachhaltigkeit und Gesundheit oder Digitalkompetenz und Informatik gebe. "Wenn Schulen die reale Lebenswelt abbilden und die Kinder und Jugendlichen lehren, sich darin zu bewegen – dann dürfen ganz wichtige Bereiche nicht fehlen", meint der Experte. Mit den herkömmlichen Fächern sei das aber nicht zu leisten.
Auch mit der herkömmlichen Ausbildung zur Zwei-Fachlehrer:in werde das nicht funktionieren. Schließlich lernen die an den Universitäten die Inhalte, die heute an den Schulen gelehrt werden. Sinnvoller, meint Hurrelmann, wäre es, die neuen Inhalte in bestehende Fächer einzubauen.
Unterstützt werden könnten die jeweiligen Lehrer:innen dann von Expert:innen – Lehrbeauftragte nennt Hurrelmann sie. Im Bereich Recht zum Beispiel von Anwält:innen, bei Steuern von Mitarbeiter:innen der Finanzämter. Die Lehrkräfte müssten außerdem eine Fortbildung erhalten, damit sie fit werden in den Schwerpunkten – und in der Lage sind, die Fachgebiete, die an ihr eigentliches Gebiet angrenzen, überblicken zu können.
Hurrelmann fordert also die Revolution im Klassenraum. Wie genau stellt er sich die Zukunft des Lehrplans vor? Er sagt:
Der Umbau der Schullandschaft brauche einige Zeit – und diese Umbauphase wiederum würde eine Belastung für die Lehrer:innen darstellen. Denn die Abkehr von Fächern hin zu Lernbereichen, das Einlernen der Lehrbeauftragten – all das dauert einige Zeit. Hurrelmann geht aber davon aus, dass sich mit diesem Umbau die Arbeitsbelastung für die Lehrer:innen langfristig reduzieren ließe.
Und die Schüler:innen könnten fit gemacht werden, für das Leben nach der Schule. Zu weiteren Reduktion der Arbeitsbelastung bringt Hurrelmann das Online-Lernen ins Gespräch. Er sagt:
Die Schüler:innen könnten die Inhalte eigenständig bearbeiten und die Lehrkräfte würden entlastet.
Doch wie lässt sich das Schulwesen umbauen? Schon heute könnten sich Schulleiter:innen dafür entscheiden, meint Hurrelmann, vom Lehrplan abzuweichen und in Themenfeldern zu unterrichten. Dafür brauche es eine Genehmigung von der Schulaufsichtsbehörde.
Sinnvoller wäre es aber, meint der Jugendforscher, wenn die Kultusminister:innen-Konferenz (KMK) einen gesetzlichen Rahmen vorgibt. Und die Schulen von oben aus umgebaut werden. "Der Lehrermangel wird mit Sicherheit der wichtigste Motor für Reformen sein."
Von neuen Unterrichtsfächern ist auch Bildungsexperte und Autor Aladin El-Mafaalani nicht überzeugt. "Bis ein neues Fach eingeführt ist, würde es bis zu zehn Jahre dauern", sagt El-Mafaalani. Denn: "Ein neues Unterrichtsfach braucht ein Curriculum. Dafür braucht es entsprechende rechtliche Beschlüsse – und auch die Universitäten und Lehrerseminare müssen das Fach dann anbieten."
Am Ende, ist El-Mafaalani sicher, würde niemand zufrieden sein: weder die Universitäten, noch Lehrkräfte – auch nicht jene, die das jeweilige Fach gefordert haben. Was bei der Debatte nämlich zu kurz komme, sei der Fakt, dass die Lehrer:innen-Ausbildung genauso schwer reformierbar sei, wie die Schulen selbst.
Sinnvoller als über neue Fächer zu fachsimpeln ist es aus Sicht des Experten, die Inhalte ins Auge zu fassen. "Es gibt Themen, die sind hochrelevant", sagt El-Mafaalani. Er schlägt wie Hurrelmann vor, die Inhalte fächerübergreifend zu behandeln. Alternativ bringt El-Mafaalani aber auch ein Wahlpflicht-Angebot am Nachmittag ins Gespräch – auf freiwilliger Basis, ohne Noten, aber tiefergehend.
Am praktischen Beispiel würde das bedeuten: volkswirtschaftliche Dinge könnten in den Mathematikunterricht eingebaut werden. Oder sie könnten im Sinne eines Planspiels, das den Unternehmergeist der Kinder anregt, per AG am Nachmittag angeboten werden.
El-Mafaalani sagt: "Wir könnten auch sagen, da viel von dem, was wir als ökonomische Bildung ansehen, Gesetze und Verträge sind, könnte das im Deutschunterricht behandelt werden – neben Lyrik und anderen Textsorten." Biologie, Physik und Chemie könnte auch zusammengefasst werden zum Fach Naturwissenschaften. "Das ist dann kein neues Fach, sondern einfach ein Umdenken."
An Berufsschulen laufe das schon heute so:
Denn Lehrkräfte seien nicht so ausgebildet, dass sie alle Fächer eines Lernfeldes unterrichten können. Es gebe ein Qualifikations- und ein Wo:man-Power-Problem.
El-Mafaalani widerspricht in diesem Punkt Jugendforscher Hurrelmann. Er sagt: "Bei dem Lehrkräftemangel, wie wir ihn haben, sind solche innovativen Bestrebungen zum Scheitern verurteilt."
Trotzdem sieht auch er das Potenzial, das von den Schulen ausgeht – und zwar dann, wenn sie sich dazu entscheiden, mehr anzubieten, als von der Schulaufsicht verpflichtend ist. Klar sei aber auch, dass nicht alle Schulen diese Freiheit ergreifen (können). Sei es wegen Personalmangels oder wegen Geldmangels.
Dass relevante Themen fächerübergreifend behandelt werden, sei aber schon heute der Fall. Der Experte nennt in diesem Zusammenhang Klimawandel und Demokratie. El-Mafaalani sagt:
Das Problem sei, dass diese Themen nicht an allen Schulen behandelt würden. El-Mafaalani nennt hier Förder- und Hauptschulen. Dort liege der Fokus darauf, dass die Schüler:innen die Grundlagen lernten – die Herausforderungen seien dort teilweise zu hoch, als dass darüber hinaus noch Extra-Themen besprochen werden könnten.
Ob nun mit Nachmittagsangeboten, neuen Unterrichtsmethoden oder der Hurrelmann'schen Revolution im Bildungswesen: Lehrer:innen-Mangel und veraltete Lehrpläne machen deutlich, dass sich im Bildungssystem etwas verändern muss. Und mit Blick auf Haupt-, Förder- und Brennpunktschulen ist klar, dass diese Änderung auch Bildungsgerechtigkeit berücksichtigen sollte.